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Pflichti I: Schwierige Sachlage, oder: Beurteilung des Wertes eines wiederholten Wiedererkennens

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Heute dann ein „Pflichtverteidigungstag“.

Und den eröffnet der LG Magdeburg, Beschl. v. 19.07.2019 – 25 Qs 961 Js 82097/18 (63/19) –, den mir der Kollege Siebers aus Braunschweig vor einiger Zeit geschickt hat.

Der hatte in einem Verfahren mit dem Vorwurf der Körperverletzung seine Bestellung beantragt, die das AG aber abgelehnt hat. Begründung: Weder die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO noch die des § 140 Abs. 2 StPO seien gegeben. Es komme insbesondere auch nicht auf die vom Kollegen angeführte Vorschrift des § 27 JGG an, da die angeklagte Tat vor der Entscheidung gemäß § 27 JGG und damit nicht in der Bewährungszeit begangen worden sei.

Das LG Magdeburg hat das anders gesehen und den Kollegen bestellt. Allerdings auch nicht wegen § 27 JGG, sondern wegen einer Beweisproblematik:

„Dem Angeklagten ist aufgrund der Schwierigkeit der Sachlage ein Verteidiger gemäß § 140 Abs. 2 StPO zu bestellen. Nach Aktenlage wurde mit insgesamt vier Zeugen, darunter auch mit dem Geschädigten, jeweils eine Wahllichtbildvorlage durchgeführt. Zwei Zeugen haben den Angeklagten als Täter hierbei nicht wiedererkannt, ein weiterer Zeuge stellte bei drei Personen Ähnlichkeiten mit dem Täter fest, und lediglich der Geschädigte konnte den Angeklagten als Täter mit Sicherheit wiedererkennen. Aus der Aussage des Geschädigten ergibt sich jedoch, dass er vor Durchführung der Wahllichtbildvorlage einem Bekannten von dem Vorfall erzählt und ihm gegenüber den Täter beschrieben hat. Daraufhin habe dieser Bekannte ihm gegenüber geäußert, er kenne den von ihm so beschriebenen Täter vom Handballsport und habe daraufhin alte Mannschaftsbilder herausgesucht, und auf diesen Bildern habe er den Täter wiedererkannt.

Nach Aktenlage ist daher im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Beweise auch die Beurteilung des Wertes eines wiederholten Wiedererkennens im Rahmen einer Wahllichtbildvorlage aufgrund einer vorherigen Wiedererkennung auf Fotos , die dem Zeugen zuvor durch Dritte gezeigt worden sind, zu würdigen bzw. zu erörtern. Für diesen Fall hat die Kammer bereits in einer Entscheidung vom 20.06.2018 — Az.: 25 Qs 56/18 —, veröffentlicht in juris, entschieden, dass in diesem Fall die Voraussetzungen für eine Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO wegen der schwierigen Sachlage geboten ist.“

Pflichti I: Wenn alle Zeugen Polizeibeamten sind, dann gibt es einen Pflichtverteidiger

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Heute dann mal wieder ein „Pflichtverteidigungstag“, also drei Entscheidungen zu den §§ 140 ff. StPO, die mir in der letzten Zeit von Kollegen übersandt worden sind. Dafür besten Dank.

Ich starte mit dem LG München I, Beschl. v. 29.01.2019 – 28 Qs 5/19. Dem Mandanten des Kollegen Marquort aus Kiel wirdu.a. Körperverletzung vorgeworfen. Nach der Anklage soll er anlässlich der Durchsuchung seiner Wohnung am 24.11.2017 gegen 22:30 Uhr die Polizeibeamtin PMin pp. beleidigt und den Polizeibeamten PK pp., der ihn fixieren wollte, am Daumen verletzt habe. Als Zeugen für diesen Sachverhalt wurden seitens der Staatsanwaltschaft die bei dem Polizeieinsatz anwesenden Zeugen genannt. Bei diesen handelt es sich allesamt um Angehörige der bayrischen Polizei.

Der Kollege hat Beiordnung beantragt. Die Staatsanwaltschaft hat (natürlich) einen Fall der notwendigen Verteidigung nicht gesehen. Die Sach- und Rechtslage sei nicht schwierig. Allein der Umstand, dass der Geschädigte anwaltlich vertreten sei, genüge für das Vorliegen der notwendigen Verteidigung nicht. Ebenso das AG. Anders dann das LG München I:

1. Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor.

a) Hat sich der Verletzte auf eigene Kosten oder im Wege von Prozesskostenhilfe eines anwaltlichen Beistands versichert, folgt aus diesem möglichen strukturellen Verteidigungsdefizits noch keine zwingende Beiordnungsnotwendigkeit. Notwendig aber auch hinreichend ist eine an den Umständen des Einzelfalls orientierte gerichtliche Prüfung der Fähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung, wobei namentlich die rechtlichen Befugnisse des Verletzten einerseits und das Verteidigungsverhalten des Angeklagten sowie die Komplexität von Anklagevorwurf und Beweislage andererseits einzustellen sind. Hierbei kommt insbesondere einer differenzierenden Betrachtung der dem Verletzten im Einzelfall konkret zustehenden rechtlichen Befugnisse besondere Bedeutung zu. Zu bedenken ist, dass der nebenklagende Verletzte mit den in § 397 StPO geregelten prozessualen Gestaltungsrechten sowie mit seinen weitreichenden Informationsrechten (vgl. § 406e Abs. 1 5, 2 StPO) eine mit der Stellung der Anklagebehörde korrespondierende Verfahrensrolle innehat (OLG Hamburg, 1 Ws 160/15, BeckRs 2016. 48, amtliche Leitsätze, vgl. auch § 140 Rdnr. 25 BeckOK StPO, vgl. BT-Drs. 17/6261, 11, wonach eine Einzelfallprüfung stattfinden muss). Dem hierdurch begründeten strukturellen Verteidigungsdefizit kann durch die gerichtliche Fürsorge für den in der Hauptverhandlung unverteidigten Angeklagten nicht in jedem Fall in geeigneter Weide begegnet werden, zumal bei vielfachen gerichtlichen Hinweisen an den Angeklagten erhebliche Verfahrensverzögerungen auch wegen hierdurch veranlasster Ablehnungsgesuche des anwaltlich vertretenen Verletzten zu besorgen sind. Daher begründet die dem anwaltlich vertretenen Nebenkläger gegebene Verfahrensmacht regelmäßig bereits für sich die Annahme eines die Beiordnung erfordernden strukturellen Verteidigungsdefizits, es sei denn die Sachlage ist ausnahmsweise rechtlich wie tatsächlich ganz besonders einfach gelagert (OLG Hamburg, 1 Ws 160/15, BeckRs 2016, 48, Rdnr. 12).

b) Im vorliegenden Fall kann von einer einfachen Sachlage nicht die Rede sein. Der Angeklagte ist nicht geständig. Ihm stehen die Aussagen von mindestens 5 Zeugen gegenüber, die alle wie die Geschädigten pp. und pp. als Polizeibeamte vor Ort waren und daher im Lager des Nebenklägers pp. stehen dürften. Dem Amtsgericht ist zwar zuzustimmen, dass anders als im Fall des LG Bielefeld die rechtliche Würdigung des Widerstands weniger Schwierigkeiten macht. Auch steht dem Angeklagten inzwischen ein umfassendes Akteneinsichtsrecht zu. Das Amtsgericht verkennt aber, dass im Fall des LG Bielefeld der Geschädigte nicht als anwaltlich vertretener Nebenkläger beigetreten war. Das Landgericht hatte bereits allein auf Grund der Vielzahl der Belastungszeugen aus dem Polizeidienst und der rechtlichen Problematik einen Fall der notwendigen Verteidigung angenommen, ohne dass der Geschädigte zusätzlich noch als Nebenkläger mit Anwalt auftrat.

Die oben unter l. 1. a. genannten Grundsätze auf den hiesigen Fall übertragen, führen hingegen zu folgendem Ergebnis: Auch mit umfassendem Akteneinsichtsrecht des Angeklagten liegt auf Grund der anwaltlich vertretenen Nebenklage und der damit einhergehenden Gestaltungsrechte sowie der anstehenden Vernehmungen von mehreren Angehörigen des Polizeidienstes, bei denen es für den Angeklagten gilt, Widersprüche in den Zeugenangaben herauszuarbeiten, ein strukturelles Verteidigungsdefizit und damit ein Fall der notwendigen Verteidigung vor.

c) Die Frage, ob die vom Verteidiger erwähnte Richtlinie, die zwar bereits in Kraft ist, deren Umsetzungsfrist aber noch nicht abgelaufen ist, etwaige Vorwirkungen auf Grund des im Europarecht bestehenden Frustrationsverbots entfaltet und deshalb bei der Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen ist, kann letztlich dahinstehen. Ebenfalls unerheblich ist, dass der Geschädigte bereits eine Zivilklage erhoben hat, für die der Ausgang des Strafverfahrens keine Präjudizwirkung entfaltet.

Pflichtverteidiger? Wenn Akteneinsicht erforderlich ist, dann ja

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Einem Angeklagten wird neben einem Mitangeklagten, der durch einen Wahlverteidiger vertreten ist, vorgeworfen, am 09.08.2012 und am 20.06.2013 jeweils durch zwei Straftraten einen gemeinschaftlichen Diebstahl im besonders schweren Fall begangen zu haben. Die Anklageschrift bezieht sich hierzu auf insgesamt 10 Zeugen sowie diverse Durchsuchungsberichte, Aufnahmen von Überwachungskameras sowie einen DNA-Untersuchungsbericht nebst Treffermeldung. Es ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers beantragt worden,. was das AG abgelehnt hat.

Das LG Magdeburg richtet es dann im LG Magdeburg, Beschl. v. 02.06.2015 – 25 Qs 828 Js 75909/13 – und bestellt nach § 140 Abs. 2 StPO wegen „schwieriger Beweisführung“, vor allem aber weil zur Verteidigung Akteneinsicht erforderlich ist.

„Gemäß § 140 Abs. 2 StPO ist einem Angeklagten bei schwieriger Sach- und Rechtslage ein Pflichtverteidiger beizuordnen. Dies ist vorliegend im Hinblick auf den Anklagevorwurf der Fall. Beide Angeklagten sind nicht geständig zu den erhobenen Vorwürfen, im Rahmen der Beweiswürdigung sind u. a. Spuren auszuwerten sowie Indizien zu würdigen. Eine sinnvolle Verteidigung ist angesichts der Sach- und Rechtslage nur bei Gewährung von Akteneinsicht möglich. Darüber hinaus haben die Akten einen entsprechenden Umfang. Insgesamt ist daher die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen der schwierigen Sach- und Rechtslage erforderlich.“

Sicherlich „Mainstream“, aber kann man sicher immer mal gebrauchen.