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Was du nicht kennst, darf ich nicht verwerten

Mit einer in meinen Augen Selbstverständlichkeit setzt sich die Entscheidung des OLG Stuttgart v. 11.06.2010 – 5 Ss 321/10 auseinander.  Nämlich mit der Frage, ob die Verwertung einer Meldeauskunft gegen Betroffenen im Bußgeldverfahren auch dann verwertet werden kann/darf, wenn der Betroffene diese nicht kennt. Die Antwort des OLG lautet natürlich nein.

In der Sache ging es um ein Abwesenheitsverfahren, in dem das AG eine Meldeauskunft über den Betroffenen eingeholt und die dann bei der Beweiswürdigung gegen ihn verwendet hatte. Das OLG sagt dazu: Die Durchführung der Hauptverhandlung in Bußgeldsachen ist in Abwesenheit des Betroffenen nur zulässig, wenn diesem alle Beweismittel bekannt sind, die das Gericht zum Gegenstand der Entscheidungsfindung macht und der Betroffene sich hierzu äußern kann. Wird aber ohne Kenntnis des Betroffenen eine am Vortag eingeholte Meldeauskunft zum Gegenstand der Beweiswürdigung gemacht und hieraus der Schluss gezogen, dass diesen ein besonderes Verschulden trifft, weil er wegen Wohnortnähe absolut ortskundig (hier: Rotlichtverstoß) ist, schränkt dies die Verteidigung in unzulässiger Weise ein.

An sich: Einfach, oder? Man ist erstaunt, dass das AG das übersehen hat.

Zu schnell entschieden = Verletzung des rechtlichen Gehörs

so könnte man auch den Leitsatz zur Entscheidung des KG v. 10.09.2010 – 3 Ws 454/10 formulieren. Das KG hat es etwas seriöser formuliert, wenn es dort heißt:

Ein Beschwerdeführer, der bei Einlegung des Rechtsmittels unter Berufung auf § 147 Abs. 7 StPO Akteneinsicht beantragt und eine Beschwerdebegründung nach deren Erfolg angekündigt hat, wird in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, wenn das Beschwerdegericht eine Entscheidung trifft, ohne zuvor das Akteneinsichtsgesuch beschieden zu haben.“

In der Sache hatte der Beschuldigte bei der Beschwerdeeinlegung gegen die Ablehnung der Pflichtverteidigerbestellung Akteneinsicht nach § 147 Abs. 7 StPO beantragt und eine Stellungnahme angekündigt, wenn die AE gewährt war. Das LG hat die Beschwerde verworfen, ohne AE zu gewähren. Das KG sieht darin zutreffend eine Verletzung des rechtlichen Gehörs.

Interessant auch die Ausführungen des KG zur Stellungnahme der GStA. Da heißt es:

„Es sind vorliegend keine Umstände ersichtlich, die der Erteilung von Auskünften oder Abschriften im Sinne des § 147 Abs. 7 S. 1 StPO entgegengestanden hätten. Insbesondere lagen weder eine Gefährdung des Untersuchungszweckes noch beachtliche Drittinteressen vor. Auch ist es – entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft Berlin – für einen erfolgreichen Antrag auf Information aus der Akte nicht erforderlich, dass der Antragsteller die Aktenbestandteile, über die er Auskunft begehrt, im Einzelnen benennt. Denn durch den Auskunftsgewährungsanspruch soll der Antragsteller gerade in die Lage versetzt werden, Aufschluss über ihm bis dahin unbekannte Aktenbestandteile zu erhalten, die er in Ermangelung eigener Kenntnis naturgemäß vorab nicht zu benennen vermag. Eine ihm nicht zustehende uneingeschränkte Akteneinsicht hat der Angeklagte angesichts der ausdrücklichen Benennung des § 147 Abs. 7 StPO ohnehin nicht begehrt.“

Tja, da fragt man sich wirklich „liebe GStA“: Wie sollte das wohl gehen.

Doppeltes Anwaltsverschulden – Wiedereinsetzung ist zu gewähren

Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) wird von den Verfassungsgerichten hoch gehalten, vor allem dann, wenn es um den sog. ersten Zugang zum Gericht geht.

So vor kurzen der BayerischeVerfGH in seinem Beschl. v. 12.05.2010 – Vf. 117-VI-09, der im Grunde eine doppelte Wiedereinsetzung betraf. Der VerfGH sieht es – zutreffend – als eine unzulässige Verkürzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör an, wenn strafgerichtliche Beschlüsse, wie hier eine Wiedereinsetzung nach versäumtem Einspruch im Strafbefehlsverfahren, einem anwaltlich vertretenen Angeschuldigten den Zugang zum Gericht derart verwehren, dass seine eigenen Anträge sowie die Anträge seines Verteidigers als wegen Verfristung unzulässig angesehen werden, obwohl sich der Verteidiger für die ursprüngliche Verfristung im Wege einer anwaltlichen Versicherung verantwortlich gezeichnet hat. Wird der Wiedereinsetzungsantrag des Verteidigers als unzureichend gewertet, kann dies dem selbst ebenfalls Wiedereinsetzung begehrenden Angeschuldigten ebenso wenig zugerechnet werden wie die anwaltliche Fristversäumnis selbst.

Im Beschluss heißt es:

„Nach § 44 Satz 1 StPO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine Frist einzuhalten. Bei der Prüfung, ob den Beschuldigten ein Verschulden an der Fristversäumung trifft, ist es den Strafgerichten regelmäßig verwehrt, ihm Versäumnisse seines Verteidigers zuzurechnen (vgl. BVerfG vom 13.4.1994 = NJW 1994, 1856). Dies umfasst nicht nur die eigentliche Versäumung der Frist, sondern auch durch den Verteidiger verursachte Mängel des Wiedereinsetzungsantrags (vgl. OLG Hamm vom 28.12.2002 = VRS 104, 361). Abzustellen ist vielmehr auf Versäumnisse des Betroffenen selbst (vgl. Maul in Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. 2008, RdNrn. 30 f. zu § 44; Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl. 2009, RdNrn. 11, 18 zu § 44). Gegen diese Grundsätze, die der Sicherung des (erstmaligen) Zugangs zu den Strafgerichten dienen, ist hier verstoßen worden. Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, die aus verfassungsrechtlicher Sicht ausnahmsweise eine Abweichung rechtfertigen könnten.“

Antwort: Akteneinsicht ist rechtliches Gehör…

Der Kollege Siebers fragt sich gerade: Was ist eigentlich Akteneinsicht?

Antwort: Akteneinsicht ist Erfüllung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG). Allerdings: Über die Frage, ob zu einer ausreichenden Akteneinsicht auch eine strukturierte Akte gehört, kann man sicher trefflich streiten. Allerdings verstehe ich die Kammer/das Gericht in dem vom Kollegen geschilderten Fall nicht. Es würde doch auch nur der eigenen Arbeitserleichterung und der kürzeren Dauer des Verfahrens dienen, wenn man dem Verteidiger nicht ein ungeordnetes Aktenkonvolut vor die Füße wirft.

Ich kann dem Kollegen nur raten; wenn man mal von Anträgen in der Hauptverhandlung, Pausen usw. absieht: Drehen Sie den Spieß doch um und argumentieren mit der Entscheidung des BGH v. 14.04.2010 – 2 StR 42/10 und schreiben: Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem anderen zu. Oder: Warum muss ich mir aus einem Aktenkonvolut alles heraussuchen, wenn das (Revisions)Gericht das auch nicht tun will.

Doch keine Hinweispflicht bei Verdoppelung der Geldbuße?

Ich hatte bereits über den Beschl. des OLG Hamm v. 13.11.2009 – 3 Ss OWi 622/09, in dem ein Verstoß gegen rechtliches Gehör bei Verdopplung der Regelbuße ohne Anhörung des Betroffenen angenommen worden ist, berichtet. Der wird von RiKG Urban Sandherr in DAR 2010 Heft 2, 99 – 100 besprochen. Sandherr teilt die Auffassung des OLG nicht. Seiner Meinung nach überspannt das OLG die Anforderungen an das rechtliche Gehör. Es schränke auch die Handlungsfähigkeit des Gerichts zu Unrecht ein. Die ganz herrschende Meinung vertrete daher auch die gegenteilige Auffassung. Denn die BKatV formuliere keine verbindliche Geldbuße, auf die der Betroffene vertrauen kann. Die BKatV mache nur Vorschläge. Zudem weist Sandherr darauf hin, dass dem Betroffenen neben der strafrechtlichen Folge auch verwaltungsrechtliche Maßnahmen drohen können, auf die er auch nicht hingewiesen werden muss.

Ich halte den Beschluss des OLG Hamm dennoch für zutreffend. Bei den Bußen des BKat handelt es sich um Regelbußen. Der Betroffene darf darauf vertrauen, dass, wenn keine besonderen Umstände vorliegen, diese verhängt werden. Dann muss er m.E. aber auch zuvor auf die geplante Erhöhung hingewiesen werden. Wieso dadurch die Handlungsfähigkeit des Gerichts eingeschränkt wird, erschließt sich mir nicht.