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Die Akteneinsichtswelle – kommt sie allmählich bei den OLG an…?

Der Dauerbrenner „Akteneinsicht in die Bedienungsanleitung, ja und wenn ja, wie“ – allmählich kommt er bei den OLG an. Jedenfalls hatte sich jetzt das OLG Celle mit einer Akteneinsichtsfrage auseinanderzusetzen. Diese betraf allerdings noch nicht die Frage nach der Akteneinsicht in die Bedienungsanleitung bzw. das insoweit bestehende „Unterproblem“, auf welche Art und Weise Akteneinsicht zu gewähren ist. Dem OLG Celle, Beschl. v.13.01.2012 . 322 SsRs 420/11 lag ein Verfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung zugrunde, in dem dem Betroffenen nicht Einsicht in die von dem Verkehrsverstoß gefertigte Videoaufzeichnung gewährt worden war (man fragt sich, warum eigentlich nicht). Die Verteidigerin hat das nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG als Versagung rechtlichen Gehörs gerügt und hatte damit – erwartungsgemäß – Erfolg. Dazu kurz und trocken das OLG:

Das Amtsgericht hat das Akteneinsichtsrecht und damit den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt. Gegenstand des Akteneinsichtsrechts nach § 147 Abs. 1 StPO sind die dem Gericht vorliegenden oder ihm im Falle der Anklage gemäß § 199 Abs. 2 Satz 2 StPO vorzulegenden Akten. Das sind die von der Staatsanwaltschaft bzw. der Bußgeldbehörde nach objektiven Kriterien (vgl. § 160 Abs. 2 StPO) als entscheidungserheblich dem Gericht zu präsentierenden Unterlagen. Dazu gehört das gesamte vom ersten Zugriff an gesammelte Beweismaterial, einschließlich etwaiger Bild- und Tonaufnahmen, die gerade in dem gegen den Angeklagten gerichteten Ermittlungsverfahren angefallen sind (zuletzt BGH, Urteil vom 18.6.2009, 3 StR 89/09). Hierzu zählt namentlich eine Videoaufzeichnung des Betroffenen bzw. des von ihm geführten Fahrzeugs zum Nachweis eines Geschwindigkeitsverstoßes.

Nun, nichts knallig Neues, aber immerhin zeigt der Beschluss den Stellenwert des Akteneinsichtsrechts. Darauf kann man aufbauen.

Von wegen: Geheim….. Karten/Bedienungsanleitung müssen auf den Tisch….

Ziemlich unbeachtet geblieben ist bislang der VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 29. 10. 2010, VGH B 27/10, der zur Verletzung des rechtlichen Gehörs im Bußgeldverfahren Stellung nimmt.

Im Ausgangsverfahren hatte der Verteidiger eine Geschwindigkeitsmessung für unverwertbar gehalten, weil vor der Messung eine neue Eichung des eingesetzten Lasermessgeräts aufgrund einer neuen Bedienungsanleitung mit einem erweiterten Entfernungsbereich für den Aligntest (Einrichtung des Visiers) hätte erfolgen müssen. Das AG hatte einen entsprechenden Beweisantrag mit der Begründung zurückgewiesen, es sei von einer einwandfreien Funktion des Geräts auszugehen, da die neue Bedienungsanleitung von der  Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) zugelassen worden sei. Der Verteidiger beantragte daraufhin zweimal vergeblich die Einsichtnahme in die dem Gericht aus anderen Verfahren vorliegenden Unterlagen der PTB. Das AG ver weigerte die Akteneinsicht und verurteilte den Beschwerdeführer. Im Urteil führte es aus, zu einer Beziehung der Unterlagen und der Gewährung von Einsichtnahme „ins Blaue hinein“ sei das Gericht mangels nachvollziehbarer Gründe nicht gehalten gewesen. Der Verteidiger hatte Verfassungsbeschwerde eingelegt und im Beschl. v. 29. 10. 2010, VGH B 27/10 Recht bekommen.

Der VGH stellt fest, dass dann, wenn sich das Gericht zur Ablehnung eines Beweisantrags auf Unterlagen bezieht, die ihm aus anderen Verfahren vorliegen, hier die Zulassung einer Bedienungsanleitung des Geschwindigkeitsmessgerätes durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt, es einen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör darstelle, wenn die beantragte Einsichtnahme in diese Unterlagen vom Gericht verweigert wird. An sich m.E. eine Selbstverständlichkeit, die der VerfGH da zum Ausdruck bringen muss. Die Entscheidung betrifft leider nicht den Fall der derzeit ja heftig diskutierten Frage der allgemeinen Akteneinsicht in die Bedienungsanleitung. Aber: Die Ausführungen der VerfGH zum Akteneinsichtsrecht sind lesenswert und man kann sie m.E. auch übertragen. Zumindest kann man damit argumentieren.


Grundsatz des rechtlichen Gehörs – wann ist er bei einem Verwerfungsurteil verletzt?

Ich hatte ja gestern in anderem Zusammenhang, nämlich wegen der verfahrensrechtlichen Besonderheiten der „Kehrtwende des OLG“ über OLG Hamm, Beschl. v. 13.07.2011 – III 4 RBs 193/11 berichtet.

Dazu stellt sich aber auch eine materielle Frage. Nämlich: Wann liegt, wenn einem Entbindungsantrag nach § 73 Abs. 2 OWiG nicht entsprochen wird, eine Verletzung des rechtlichen Gehörs mit der Folge der Zulässigkeit/Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG vor? Nur bei Willkür oder in jedem Fall?

Das OLG Hamm sagt: Allein der Umstand, dass einem Entbindungsantrag objektiv hätte entsprochen werden müssen und somit ein Urteil nach § 74 Abs. 2 OWiG nicht hätte ergehen dürfen, begründet die Verletzung des rechtlichen Gehörs.

Anders wird das vom OLG Frankfurt gesehen, dass in seiner Rechtsprechung sagt: Eine zur Zulassung der Rechtsbeschwerde führende Gehörsverletzung in Folge der rechtsfehlerhaften Ablehnung eines Entbindungsantrages nach § 73 Abs. 2 OWiG und anschließender Verwerfung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid nach § 74 Abs. 2 OWiG liegt nur vor, wenn das AG seine prozessuale Fürsorgepflicht willkürlich verletzt hat und deshalb die Einlassung des Betroffenen zur Sache unberücksichtigt geblieben ist (so z.B. im OLG Frankfurt, Beschl. v. 14.07.2011 – 2 Ss-OWi 398/11).

Letzteres ist etwas ganz anderes und m.E. zu eng und – so wie ich es sehe – auch nicht h.M. Interessant ist dann die weitere Frage: Vorlagepflichtig? Der BGH wird sich freuen?

Die Absicht, „schulmeisterlich zu belehren“…

reicht nicht aus, um einen Antrag des Betroffenen, ihn von der Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden (§ 73 Abs. 2 OWiG), abzulehnen. So das OLG Frankfurt in OLG Frankfurt, Beschl. v. 25.07.2011 – 2 Ss-OWi 375/11. Dort hatte das AG einen Entbindungsantrag des Betroffenen abgelehnt mit der Begründung – so lässt es sich dem OLG Frankfurt-Beschluss entnehmen -, „dass es dem Betroffenen die Funktionsweise des Messgeräts erläutern und ihn über Sinn und Zweck von Ge­schwindigkeitsmessungen belehren wolle.“ Man ist ja schon erstaunt, wozu die StPO/das OWiG offenbar verpflichtet…

Dazu das OLG Frankfurt in seinem Beschluss:

Eine zur Zulassung der Rechtsbeschwerde führende Gehörsverletzung muss deshalb nicht immer vorliegen, wenn in Folge der rechtsfehlerhaften Ablehnung eines Entbindungsantrages nach § 73 Abs. 2 OWiG und anschließender Verwerfung des Ein­spruchs gegen den Bußgeldbescheid nach § 74. Abs. 2 OWiG die Einlassung des Be­troffenen zur Sache unberücksichtigt geblieben ist. Anders läge es, wenn das Amts­gericht unter gleichsam willkürlicher Verletzung seiner prozessualen Fürsorgepflicht und/oder des Grundsatzes eines fairen Verfahrens das unabdingbare Mindestmaß verfassungsrechtlich verbürgten rechtlichen Gehörs verletzt hätte (vgl. BVerfG NJW 1992, 2811). Dies wird bei Maßnahmen angenommen, die auf unsachlichen, sich von den gesetzlichen Maßstäben völlig entfernenden Erwägungen beruhen und unter kei­nem Gesichtspunkt vertretbar erscheinen.

Das ist hier der Fall. Vorliegend hat das Amtsgericht die Entscheidung über die Ab­lehnung des Entbindungsantrages damit begründet, dass es dem Betroffenen die Funktionsweise des Messgeräts erläutern und ihn über Sinn und Zweck von Ge­schwindigkeitsmessungen belehren wolle. Hieraus ergibt sich gleichzeitig, dass das Amtsgericht die Anwesenheit des Betroffenen — auch nicht ansatzweise – zur Auf­klärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts für erforderlich erachtete. Die Erzwingung der Anwesenheit des Betroffenen allein mit dem Ziel, diesen in der Haupt­verhandlung schulmeisterhaft zu belehren, stellt sich aber nach Auffassung des Se­nats als Maßnahme dar, die auf einer unsachlichen, sich von den gesetzlichen Maß­stäben des § 73 Abs. 2 OWG völlig entfernenden Erwägung beruht und unter keinem Gesichtspunkt vertretbar erscheint.“

Zutreffend. M.E. nicht zutreffend ist i.Ü. der grundsätzliche Ansatz des OLG, dass in den Fällen der Verletzung des rechtlichen Gehörs durch Ablehnung eines berechtigten Entbindungsantrags die Versagung rechtlichen Gehörs und die damit begründete Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG offenbar nur bei willkürlichem Handeln des AG in Betracht kommen soll. Das scheint ständige Rechtsprechung des OLG zu sein. Ist m.E. aber nicht richtig und wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung der anderen OLG auch anders gesehen.

„zum jetzigen Zeitpunkt verspätet“

Mit der Begründung hatten AG und LG Berlin Einwendungen des Halters gegen den Kostenbescheid nach § 25a StVG zurückgewiesen. Der Betroffene hatte erst in diesem späten Verfahrensstadium zum Parkverstoß Stellung genommen. Dazu dann aufgrund der Verfassungsbeschwerde der VerfGH Berlin, Beschl. v. 15.04.2011 VerfGH 97/09:

„Wendet der Betroffene gegen einen Kostenbescheid nach § 25a StVG ein, er habe den im Bußgeldverfahren formlos an ihn abgesandten Anhörungsbogen nicht erhalten, und legt er mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 25a Abs. 3 StVG) substantiiert dar, ein Parkverstoß liege unabhängig von der Frage der Halterverantwortlichkeit nicht vor, so ist das Amtsgericht verpflichtet, letzteren Vortrag im Rahmen der Überprüfung des Kostenbescheides zu würdigen. Es verletzt das Grundrecht des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs vor Gericht und auf effektiven Rechtsschutz, wenn es diesen Vortrag als „zum jetzigen Zeitpunkt verspätet“ zurückweist.“

Der VerfGH Berlin weist ausdrücklich darauf hin, dass  eine Präklusion mit Verteidigungsvorbringen im gerichtlichen Verfahren nur dann mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht und der Garantie effektiven Rechtsschutzes vereinbar ist, wenn der betroffene Beteiligte nachweislich Gelegenheit erhielt, sich zur Sache zu äußern, diese aber schuldhaft ungenutzt verstreichen ließ (vgl. zB zum Bundesrecht: BVerfGE 55, 72, 94). Daran fehlt es nach Auffassung der VerfGH Berlin, wenn nicht positiv feststeht, dass der die Gewährung rechtlichen Gehörs im Bußgeldverfahren bezweckende Anhörungsbogen dem betroffenen Halter zugegangen ist. Mit der formlosen Absendung des Anhörungsbogens und dem Umstand, dass dieser nicht als unzustellbar zurückkam, werde der hierfür erforderliche Nachweis nicht erbracht.