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Pflichti: Welche Rechtsfolgen sind zu erwarten? oder: Wenn auch Einziehung – in Coronazeiten – droht

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Und die dritte Entscheidung kommt vom LG Aurich. Das hat im LG Aurich, Beschl. v. 05.02.2021 – 12 Qs 28/21 – noch einmal sehr schön zu den Beiordnungsgründen Stellung genommen, und nimmt vor allem auch eine drohende Einziehungsentscheidung in den Blick:

„Die Voraussetzungen für eine – hier nur nach § 140 Abs. 2 StPO in Betracht kommende – Pflichtverteidigerbestellung sind gegeben. Gemäß § 140 Abs. 2 StPO n.F. liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.

Vorliegend erscheint die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge geboten.

1. Allerdings hat das Amtsgericht zu Recht darauf verwiesen, dass die Schwere der zu erwartenden Strafe eine Beiordnung nicht rechtfertigt.

Auch im Zuge der Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, im Rahmen derer die „Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge“ ausdrücklich in den Wortlaut des § 140 Abs. 2 StGB aufgenommen worden ist, sind die im Rahmen der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze weiterhin von Bedeutung, da sich bislang die Schwere der Tat ebenfalls nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung beurteilt hat (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 38. Ed. 01.10.2020, StPO § 140 Rn. 23). Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge beurteilt sich mithin in erster Linie nach der zu erwartenden Rechtsfolge im Fall einer Verurteilung, wobei eine Verteidigerbeiordnung bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe ab einem Jahr in der Regel geboten ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 140 Rn. 23 m.w.N.).

Vorliegend ist lediglich eine Geldstrafe zu erwarten. Bei den 24 angeklagten Steuerstraftaten handelt es sich um Vergehen i.S.d. § 370 Abs. 1 und 2 AO. Das Vorliegen eines besonders schweren Falls der Steuerhinterziehung — mit der Folge einer Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten (§ 370 Abs. 3 AO) — ist nicht ersichtlich. Die im Einzelnen hinterzogenen Beträge liegen jeweils unterhalb der Wertgrenze von 50.000,00 E, die die Rechtsprechung für eine Steuerhinterziehung großen Ausmaßes i.S.d. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO zieht (BGH, Urteil vom 27.10.2015 — 1 StR 373/15 = NStZ 2016, 288 [289 f.]). Die im Falle des Schuldspruches vom Strafgericht zu bildende Gesamtstrafe ist mithin höchstwahrscheinlich eine Geldstrafe, da das Gericht aus einzelnen Geldstrafen nicht eine Gesamtfreiheitsstrafe bilden darf (BGH, Urteil vom 17.11.1994 —4 StR 492/94 = NStZ 1995, 178).

2. Nichtsdestotrotz erscheint der Kammer aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falls die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten.

Zum einen sind angesichts der Klarstellung in § 140 Abs. 2 StPO für die Beurteilung der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung die insgesamt zu erwartenden Rechtsfolgen, d.h. auch Nebenstrafen oder Nebenfolgen, in den Blick zu nehmen. Dies betrifft beispielsweise eine drohende Unterbringung nach § 64 StGB, die Entziehung der Fahrerlaubnis oder ein Fahrverbot bei entsprechender Berufstätigkeit (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21). In Bezug auf eine drohende Einziehung hat das Kammergericht entschieden, dass der Antrag auf Einziehung wertvoller Gegenstände die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebieten kann (KG, Beschluss vom 02.12.1996 — 1 Ss 285/96). Zum anderen ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass auch schwerwiegende mittelbare Nachteile aus einer Verurteilung zu berücksichtigen sind, z.B. der drohende Widerruf einer Bewährung in anderer Sache, erhebliche disziplinarrechtliche Folgen, drohender Widerruf der Zurückstellung nach § 35 BtMG, weitreichende haftungsrechtliche Folgen oder drohende Ausweisung (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21 m.w.N. aus der Rechtsprechung).

Vorliegend ist aufgrund der drohenden Einziehungsentscheidung, der beruflichen Stellung des Angeklagten und der allgemein bekannten Pandemielage eine Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge anzunehmen, die eine Pflichtverteidigerbestellung gebietet. Der Einwand des Angeklagten, im Falle einer antragsgemäßen Verurteilung und Einziehung wäre seine wirtschaftliche Existenz bedroht, ist glaubhaft. Das Amtsgericht hat mit Strafbefehl vom 03.04.2020 die Einziehung der (mutmaßlich) hinterzogenen Steuerbeträge von insgesamt 19.173,27 € angeordnet. Schon die Höhe des Einziehungsbetrages lässt vermuten, dass eine entsprechende Einziehungsentscheidung den Angeklagten als (faktischen) Inhaber des Imbissbetriebes wirtschaftlich bedrohen würde. Hinzu kommt, dass gerade das Gastronomiegewerbe in besonderer Weise unter den Infektionsschutzmaßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie leidet. Die Einnahmesituation der Gastronomie ist trotz Gewährung staatlicher Hilfen derzeit außerordentlich schlecht. Eine zeitnahe Besserung ist derzeit nicht absehbar. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass eine Verurteilung mittelbare Nachteile für den Angeklagten mit sich bringen könnte, beispielsweise die Untersagung des Gaststättenbetriebs wegen gewerberechtlicher Unzuverlässigkeit nach der GewO und dem NGastG.“

Pflichti II: Rückwirkende Bestellung des Verteidigers, oder: Beim AG Erfurt klappt das im JGG-Verfahren

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Die zweite Entscheidung, der AG Erfurt, Beschl. v. 26.02.2021 – 45 Gs 378/21 jug -, den mir die Kollegin Klein aus Weimar geschickt hat, behandelt auch die Frage der nachträglichen Bestellung. Und das AG macht es richtig, und zwar sowohl zur Frage der nachträglichen Bestellung als auch hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen für eine Bestellung, und ordnet bei:

„Dem zur Tatzeit Jugendlichen werden Diebstähle am 05.07.2020 und 17.07.2020 zur Last gelegt (vgl. BI. 54 d.A.)

Mit Schreiben vom 05.08.2020 beantragte die Verteidigerin als Pflichtverteidigerin, für den seit dem 22.07.2020 inhaftierten Beschuldigten, beigeordnet zu werden (vgl. BI. 32, 54 d.A). Die Inhaftierung erfolgte auf Grundlage des Sicherungshaftbefehls des Amtsgerichtes Weimar vom 02.06.2020 im Verfahren 2 BRs 117/19 (vgl. BI. 62 d.A).

Mit Verfügung vom 10.12.2020 stellte die Staatsanwaltschaft Erfurt das Verfahren im Hinblick auf das rechtskräftige Urteil des Amtsgerichtes Weimar vom 04.09.2019 (AZ: 750 Js 1440/19 – 2 Ls jug) gemäß § 154 Abs.1 StPO ein. Aufgrund des Widerrufs der Bewährung in vorbenannter Sache befindet sich der Beschuldigte bis voraussichtlich 20.03.2021 in der JSA Arnstadt in Haft.

Der Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung ist zulässig. Der Umstand, dass das Verfahren mittlerweile eingestellt wurde führt nach Neufassung der §§ 140 ff StPO zu keiner anderen Betrachtungsweise, denn einzig maßgebend ist, dass die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen: Das war am 05.08.2020 der Fall.

Der Antrag ist auch begründet, da sowohl die Voraussetzungen des § 140 Abs.1 Nr. 5 StPO n.F., als auch des § 140 Abs.2 StPO vorlagen.

Nach § 140Abs1. Nr. 5 StPO ist dem Beschuldigten, der sich aufgrund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet ein Pflichtverteidiger zu bestellen. Die Einschränkung nach früherem Recht, dass die Inhaftierung mindesten 3 Monate gedauert haben muss ist weggefallen.

Diese Voraussetzungen    liegen hier vor, denn der Beschuldigte befindet sich seit dem 22.07.2020 in der JSA Arnstadt. Dort erfolgte auch die Durchsicht des Effektenprotokolls um fest-zustellen, ob dort ein Handy aufgeführt ist, dass Gegenstand der Tat vom 05.07.2020 war (vgl. Bl. 54 d.A)

Darüber hinaus liegen hier aber auch die Voraussetzungen des § 140 Abs.2 StPO vor. Danach ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Schwere der Tat dies gebietet.

Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Dabei sind im Jugendstrafrecht die gleichen Grundsätze wie im Erwachsenenstrafrecht anzuwenden (vgl. OLG Hamm, 14.05.2003, 3 Ss 1163/02)

Auch der Wortlaut des § 68 Abs.1 JGG spricht für diese Betrachtungsweise.

Danach ist auch im Jugendstrafrecht grundsätzlich erforderlich, das eine Straferwartung von mindestens einem Jahr zu erwarten ist. Das mag beim einem drohenden Widerruf einer achtmonatigen Bewährungsstrafe fraglich sein.

Die Staatsanwaltschaft verkennt aber insoweit, dass im Jugendstrafrecht der § 31 JGG zu beachten ist (vgl. OLG Hamm a.a.O.)

Zum Zeitpunkt der Antragstellung, war hier die Anwendung des § 31 JGG zu erwarten, wobei, im Hinblick darauf das die Taten vom 05.07.2020 und 17.07.2020 nach der Verurteilung am 04.09.2019 erfolgten und ein hohes Rückfallintervall vorliegt mit einer Einheitsjugendstrafe von ca. 1 Jahr zu rechnen war.

Dies ergibt sich auch aus dem Beschluss des Amtsgerichtes Arnstadt vom 20.08.2020, durch den die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen wurde (vgl. BI. 62 ff d.A). Dort wird dezidiert das Verhalten des Beschuldigten nach der letzten Verurteilung beschrieben (vgl. BI. 63 d.A.) Der Umstand, dass es sich hier um keine einschlägige Straftat handelt, spielt im Jugendstrafrecht eine untergeordnete Rolle, da der Erziehungsgedanke im Vordergrund steht.

Nach alldem lagen die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung vor und dem Antrag der Verteidigerin vom 05.08.2020 war stattzugeben.

Pflichti I: Rückwirkende Bestellung des Verteidigers, oder: OLG Braunschweig sieht dazu keinen Anlass

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Heute dann drei Pflichtverteidigungsentscheidungen.

Ich starte mit dem OLG Braunschweig, Beschl. v. 02.03.2021 – 1 Ws 12/21 –zur rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers, die das OLG ablehnt:

„Das Rechtsmittel ist als sofortige Beschwerde statthaft (§ 142 Abs. 7 Satz 1 StPO) und sowohl form- als auch fristgerecht eingelegt worden. Die sofortige Beschwerde ist jedoch wegen prozessualer Überholung nach ihrer Einlegung gegenstandslos geworden und damit nunmehr mangels Beschwer unzulässig.

Im Beschwerdeverfahren ist das Fortbestehen einer Beschwer im Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts Voraussetzung für die Sachentscheidung. Die Beschwer fehlt, wenn das beanstandete Geschehen nicht mehr korrigiert werden kann oder wenn es durch die Entwicklung des Verfahrens überholt ist (KG Berlin, Beschluss vom 27. Februar 2006, 1 AR 1471/053 Ws 624/05, juris, Rn. 2; KG Berlin, Beschluss vom 6. August 2009, 1 AR 1189/094 Ws 86/09, juris, Rn. 4; OLG Hamburg, Beschluss vom 16. September 2020, 2 Ws 112/20, juris, Rn. 13; Paul in Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl. 2019, Rn. 7 vor § 296). Ein solcher Fall liegt hier nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über die Fortdauer der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vor, weil die Beiordnung eines Pflichtverteidigers allein im öffentlichen Interesse zur Sicherung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs erfolgt (BGH, Beschluss vom 18. August 2020, StB 25/20, juris, Rn. 6 f.; KG Berlin, Beschluss vom 27. Februar 2006, a.a.O., Rn. 2; OLG Bremen, Beschluss vom 23. September 2020, 1 Ws Datum und Uhrzeit ändern 120/20, juris, Rn. 6) und dieses Ziel nach ordnungsgemäßer Durchführung des Überprüfungsverfahrens unter Mitwirkung von Rechtsanwalt P als Wahlverteidiger bereits erreicht ist.

Im Gegensatz zur Auffassung des Oberlandesgerichts Nürnberg (Beschluss vom 6. November 2020, Ws 962 – 963/20, juris) hat sich an dieser Rechtslage auch nach der Reform durch das Gesetz zur Neureglung der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 nichts geändert. Denn mit der Neuregelung, die die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (PKH-Richtlinie) bezweckte, sollte nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl. dazu S. 20 ff. des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, Drucksache 19/13829) gerade kein Systemwechsel verbunden sein (OLG Hamburg, a.a.O., Rn.16). Vielmehr ergibt sich aus den Gesetzesmaterialen (S. 44 der Drucksache 19/13829) ausdrücklich, dass die sofortige Beschwerde eine fortbestehende Beschwer voraussetzt (so auch BGH, a.a.O., Rn. 8 f. [unter Hinweis auf S. 49 der Drucksache 19/13829 für die Frage der sofortigen Beschwerde nach § 143 a Abs.4 StPO] und OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 16).

Wie das Oberlandesgericht Hamburg (a.a.O., Rn.15) zutreffend ausgeführt hat, folgt auch kein anderes Ergebnis aus Art. 4 Abs.1 der PKH-Richtlinie, deren Wertungen das Oberlandesgericht Nürnberg (a.a.O., Rn. 27) ungeachtet ihres Anwendungsbereichs (dazu Art. 2 der PKH-Richtlinie) auf das Vollstreckungsverfahren übertragen hat. Die Richtlinie sieht nicht vor, den Betroffenen in jedem Fall von den Kosten der Verteidigung freizuhalten (OLG Hamburg, a.a.O.). Nach Art. 4 Abs. 1 haben die Mitgliedstaaten zwar sicherzustellen, dass die von der Richtlinie erfassten Personen über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen. Die Beiordnung bezweckt jedoch den „Zugang zu einem Rechtsanwalt“ (Art. 3 der PKH Richtlinie) und setzt deshalb gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie voraus, dass die Bereitstellung finanzieller Mittel „im Interesse der Rechtspflege erforderlich“ ist. Ein solches Erfordernis besteht hier gerade nicht mehr, weil das Überprüfungsverfahren, das unter Mitwirkung von Rechtsanwalt P ordnungsgemäß durchgeführt wurde, bereits rechtskräftig abgeschlossen ist.“

M.E. falsch: Das OLG verkennt den Sinn und Zweck der PKH-Richtlinie und legitimierte das Liegenlassen von Akten usw. Man kann als Verteidiger dem nur dadurch begegnen, dass man an die Bescheidung von Beiordnungsanträgen „erinnert“, und zwar immer wieder.

Pflichti III: Nachträgliche Bestellung, oder: Einmal hopp, einmal topp

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Und als letztes Posting dann noch einmal zwei Entscheidungen zum Dauerbrenner: Nachträgliche Bestellung.

Zunächst der AG Wuppertal, Beschl. v. 01.02.2021 – 20 Gs 12/21. Das AG hat beigeordnet:

„Die Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO lagen vor. Dabei ist es unerheblich, ob die Untersuchungshaft in einer anderen Sache vollstreckt wurde, da eine Einschränkungen der Verteidigungsmöglichkeiten, die eine Pflichtverteidigerbeiordnung erst erfordern, auch in diesem Falle gegeben ist (OLG Frankfurt, Beschluss vom 22.04.2010, – 3 Ws 351/10).

Die Bestellung ist nach § 141 Abs. 1 StPO unverzüglich durchzuführen. Der Umstand, dass dies vorliegend aufgrund der weiteren Aktenbearbeitung durch die Staatsanwaltschaft zunächst unterblieben ist, darf dem Angeschuldigten nicht zum Nachteil gereichen, auch wenn das Verfahren später am 18.12.2020 eingestellt wurde (vgl. auch LG Bonn, Beschluss vom 28.04.2020 -21 Qs 25/20).

Es handelt sich auch nicht um eine unzulässige rückwirkende nachträgliche Bestellung, da keine Pflichtverteidigerbeiordnung für eine bereits erfolgte Verteidigung vor Antragstellung erfolgen soll (insoweit abweichend von OLG Brandenburg, NStZ 2020, 625).

Und dann der LG Berlin, Beschl. v. 25.01.2021 – 511 Qs 3/21, das getreu dem Motto: Das haben wir schon immer so gemacht, eine nachträgliche Bestellung abgelehnt hat:

„Die Bestellung eines Pflichtverteidigers dient nicht dem Kosteninteresse des Angeklagten oder seines Verteidigers, sondern allein dem Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Betroffener in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und gewährleistet den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf (KG, BeckRS 2006, 3283 m.w.N.; KG, Beschluss vom 30. Dezember 2019 — 4 Ws 115/19; OLG Hamburg, Beschluss vom 16. September 2020 — 2 Ws 122/20 – juris).

Diese Interessenlage ist entfallen.

Eine nachträgliche, rückwirkende Bestellung für das abgeschlossene Verfahren ist schlechthin unzulässig und unwirksam und mithin grundsätzlich ausgeschlossen, und zwar auch dann, wenn der Wahlverteidiger bereits rechtzeitig seine Bestellung beantragt hatte (KG, BeckRS 2006, 3283 m.w.N.; KG, Beschluss vom 20. August 2019 — 4 Ws 81/19; KG, Beschluss vom 9. April 2020 —2 Ws 30/20, 2 Ws 31/20 — juris; OLG Brandenburg, Beschluss vom 9. März 2020 — 1 Ws 19/20, 1 Ws 20/20 — juris). Denn der Verteidiger hat seine Leistung bereits als Wahlverteidiger auf Grund eines Mandatsverhältnisses abschließend erbracht und die mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger einsetzende öffentlich-rechtliche Pflicht zum Tätigwerden kann er nach Abschluss des Verfahrens nicht mehr erfüllen (KG, BeckRS 2006, 3283 m.w.N.). Ein Verteidiger kann im Laufe eines Verfahrens daher nur so lange bestellt werden, wie er überhaupt noch eine Tätigkeit entfalten kann. Eine rückwirkende Bestellung für bereits abgeschlossene Verfahrensabschnitte scheidet hingegen aus (KG, Beschluss vom 20. August 2019 — 4 Ws 81/19; KG, Beschluss vom 13. Februar 2019 — 2 Ws 32/19; OLG Hamburg a.a.O.).

Auch das Gebot der fairen Verfahrensführung zwingt nicht zu einer anderen Entscheidung. Neben dem Umstand, dass vorliegend zwischen dem Antrag vom 14. Juli 2020 und der Mitteilung des Todes des Beschuldigten keine fehlerhafte Verzögerung durch die Justizbehörden stattfand, ist selbst bei einer solchen untunlichen Verzögerung nicht durch eine rückwirkende Bestellung zu reagieren, sondern durch eine Untätigkeitsbeschwerde nach § 304 StPO (KG, Beschluss vom 20. August 2019 — 4 Ws 81/19).

Eine Änderung der Rechtsprechung ist auch unter Berücksichtigung des Gesetzes vom 10. Dezember 2019 zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung (Bundesgesetzblatt I Seite 2128  ff.) nicht veranlasst, welches insoweit keine Ausdehnung der Pflichtverteidigerbestellung enthält. Vielmehr gilt weiterhin, dass die Bestellung eines Verteidigers grundsätzlich nur für die Zukunft erfolgt (so ausdrücklich: KG, Beschluss vom 30. Dezember 2019 — 4 Ws 115/19; OLG Hamburg a.a.O.; vgl. auch OLG Brandenburg a.a.O.; KG, Beschluss vom 9. April 2020 — 2 Ws 30/20, 2 Ws 31/20 — juris).

Soweit vereinzelt im Hinblick auf die Gesetzesänderung eine rückwirkende Bestellung befürwortet wird, da die Intention des Gesetzgebers auch die Freistellung eines mittellosen Beschuldigten von den Kosten seiner Verteidigung sei (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 142 Rn. 20; vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 — Ws 962/20, Ws 963/20 — juris), verkennt diese Ansicht, dass nach dem zugrundeliegenden Artikel 4 der PKH-Richtlinie EU 2016/1919 vom 26. Oktober 2016 der „Anspruch auf Prozesskostenhilfe“ nur dann besteht, „wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist“, mithin für das weitere Verfahren von Bedeutung ist. Keineswegs sieht die Richtlinie vor, den Beschuldigten nachträglich in jedweder Phase des Verfahrens von den Kosten der Verteidigung frei zu halten (OLG Hamburg a.a.O.). So liegt der Fall auch hier. Eine Freistellung des Beschuldigten ist nicht im Interesse der Rechtspflege erforderlich. Aber selbst wenn die Freistellung des mittellosen Beschuldigten eine rückwirkende Bestellung rechtfertigen würde, kann dies nicht gleichermaßen die Freistellung des Nachlasses eines verstorbenen Beschuldigten rechtfertigen.“

Wenn ich schon „Kosteninteresse des Angeklagten“ lese und „vereinzelt“.

Pflichti I: Beiordnungsgründe, oder: Gesamtstrafübel, Nebenfolgen und/oder Corona

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Seit meinem letzten Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen ist wieder einiges an neuen Entscheidungenaufgelaufen. Daher kann ich dann heute wieder einige Entscheidungen vorstellen.

Ich starte mit zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar zunächst mit dem LG Stralsund, Beschl. v. 02.202.2021 – 26 Qs 4/21. Gegenstand der Entscheidung: Beiordnung in den Fällen einer Gesamtstrafe. Das LG sagt/meint:

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge ist in der Regel bei einer Straferwartung von einem (nicht über einem) Jahr und mehr anzunehmen. Diese Grenze gilt auch, wenn sie nur durch eine Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

Insoweit nicht viel Neues aus Stralsund, außer: Das haben wir immer schon so gemacht, was dieses Mal auch richtig ist.

Interessanter ist da schon der LG Aurich, Beschl. v. 05.02.2021 – 12 Qs 28/21. In ihm geht es auch um die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO. Und es geht auch um das sog. Gesamtstrafübel – hier Nebenfolge: Einziehung – und das „gepaart“ mit Corona. Dazu das LG:

„Vorliegend erscheint die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge geboten.

1. Allerdings hat das Amtsgericht zu Recht darauf verwiesen, dass die Schwere der zu erwartenden Strafe eine Beiordnung nicht rechtfertigt.

Auch im Zuge der Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, im Rahmen derer die „Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge“ ausdrücklich in den Wortlaut des § 140 Abs. 2 StGB aufgenommen worden ist, sind die im Rahmen der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze weiterhin von Bedeutung, da sich bislang die Schwere der Tat ebenfalls nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung beurteilt hat (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 38. Ed. 01.10.2020, StPO § 140 Rn. 23). Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge beurteilt sich mithin in erster Linie nach der zu erwartenden Rechtsfolge im Fall einer Verurteilung, wobei eine Verteidigerbeiordnung bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe ab einem Jahr in der Regel geboten ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 140 Rn. 23 m.w.N.).

Vorliegend ist lediglich eine Geldstrafe zu erwarten. Bei den 24 angeklagten Steuerstraftaten handelt es sich um Vergehen i.S.d. § 370 Abs. 1 und 2 AO. Das Vorliegen eines besonders schweren Falls der Steuerhinterziehung — mit der Folge einer Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten (§ 370 Abs. 3 AO) — ist nicht ersichtlich. Die im Einzelnen hinterzogenen Beträge liegen jeweils unterhalb der Wertgrenze von 50.000,00 E, die die Rechtsprechung für eine Steuerhinterziehung großen Ausmaßes i.S.d. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO zieht (BGH, Urteil vom 27.10.2015 — 1 StR 373/15 = NStZ 2016, 288 [289 f.]). Die im Falle des Schuldspruches vom Strafgericht zu bildende Gesamtstrafe ist mithin höchstwahrscheinlich eine Geldstrafe, da das Gericht aus einzelnen Geldstrafen nicht eine Gesamtfreiheitsstrafe bilden darf (BGH, Urteil vom 17.11.1994 —4 StR 492/94 = NStZ 1995, 178).

2. Nichtsdestotrotz erscheint der Kammer aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falls die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten.

Zum einen sind angesichts der Klarstellung in § 140 Abs. 2 StPO für die Beurteilung der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung die insgesamt zu erwartenden Rechtsfolgen, d.h. auch Nebenstrafen oder Nebenfolgen, in den Blick zu nehmen. Dies betrifft beispielsweise eine drohende Unterbringung nach § 64 StGB, die Entziehung der Fahrerlaubnis oder ein Fahrverbot bei entsprechender Berufstätigkeit (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21). In Bezug auf eine drohende Einziehung hat das Kammergericht entschieden, dass der Antrag auf Einziehung wertvoller Gegenstände die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebieten kann (KG, Beschluss vom 02.12.1996 — 1 Ss 285/96). Zum anderen ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass auch schwerwiegende mittelbare Nachteile aus einer Verurteilung zu berücksichtigen sind, z.B. der drohende Widerruf einer Bewährung in anderer Sache, erhebliche disziplinarrechtliche Folgen, drohender Widerruf der Zurückstellung nach § 35 BtMG, weitreichende haftungsrechtliche Folgen oder drohende Ausweisung (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21 m.w.N. aus der Rechtsprechung).

Vorliegend ist aufgrund der drohenden Einziehungsentscheidung, der beruflichen Stellung des Angeklagten und der allgemein bekannten Pandemielage eine Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge anzunehmen, die eine Pflichtverteidigerbestellung gebietet. Der Einwand des Angeklagten, im Falle einer antragsgemäßen Verurteilung und Einziehung wäre seine wirtschaftliche Existenz bedroht, ist glaubhaft. Das Amtsgericht hat mit Strafbefehl vom 03.04.2020 die Einziehung der (mutmaßlich) hinterzogenen Steuerbeträge von insgesamt 19.173,27 € angeordnet. Schon die Höhe des Einziehungsbetrages lässt vermuten, dass eine entsprechende Einziehungsentscheidung den Angeklagten als (faktischen) Inhaber des Imbissbetriebes wirtschaftlich bedrohen würde. Hinzu kommt, dass gerade das Gastronomiegewerbe in besonderer Weise unter den Infektionsschutzmaßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie leidet. Die Einnahmesituation der Gastronomie ist trotz Gewährung staatlicher Hilfen derzeit außerordentlich schlecht. Eine zeitnahe Besserung ist derzeit nicht absehbar. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass eine Verurteilung mittelbare Nachteile für den Angeklagten mit sich bringen könnte, beispielsweise die Untersagung des Gaststättenbetriebs wegen gewerberechtlicher Unzuverlässigkeit nach der GewO und dem NGastG.“