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Pflichti II: Beiordnungsgründe, oder: Noch einmal Gesamtstrafe und „Nebenstrafrecht“

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Im zweiten Posting stelle ich dann zwei Beschlüsse des LG Magdeburg vor, bei befassen sich mit den Beiordnungsgrunden, und zwar:

Im LG Magdeburg, Beschl. v. 21.04.2021 – 21 Qs 10/21– nimmt das LG noch einmal zur Beiordnung in den Gesamtstrafenfällen Stellung. Der Beschluss bringt nichts wesentlich Neues. Interessant aber, dass und wie das LG noch „offene Verfahren“ in seine Bewertung einbezieht.

In der zweiten Entscheidung, dem LG Magdeburg, Beschl. v. 04.05.2021 – 21 Qs 14/21 – hat das LG noch einmal zur Schwierigkeit der Rechtslage Stellung genommen und meint:

Es liegt eine schwierige Rechtslage gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor, wenn es maßgeblich auf die Auslegung von Begriffen aus dem Nebenstrafrecht und dabei insbesondere auch auf die – stellenweise auch für erfahrene Rechtsanwender – unübersichtlichen Normen und Anlagen des SprengG, vor allem aber des WaffG, ankommt.

Die Entscheidung hat auch eine „schöne“ Frist-/Zustellungsproblematik und beweist einmal mehr, warum man als Verteidiger eben keine schriftliche Vollmacht vorlegt. Muss man ja auch nicht 🙂 .

Pflichti I: Und immer wieder nachträgliche Beiordnung, oder: Was heißt „unverzügliche“ Antragsweiterleitung?

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Heute dann wieder Pflichtverteidigungsentscheidungen. Der Strom von Entscheidungen reißt nicht ab – auf das die Sammlung anwächst.

Ich stelle dann zunächt wieder einige Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung vor. Zunächst weise ich hin auf den LG Halle, Beschl. v. 15.4.2021 – 3 Qs 41/21. Das LG teilt der Staatsanwaltschaft mehr als deutlich mit, was es davon hält, wenn ein Beiordnungsantrag nicht „unverzüglich“ an das Gericht weitergeleitet wird und wann eine Weiterleitung nicht mehr „unverzüglich“ ist, nämlich:

Die Weiterleitung eines Antrags auf Beiordnung als Pflichtverteidiger drei Wochen nach Antragstellung – ist auch unter Berücksichtigung einer Prüfungs- und Überlegungsfrist nicht unverzüglich im Sinne von §§ 141 Abs. 1, 142 Abs. 1 Satz 2 StPO.

Ebenso deutlich der LG Halle, Beschl. v. 20.04.2021 – 10a Qs 42/21. Auch da hatte die StA den Beiordnungsantrag rund sechs Wochen liegen lassen und dann eingestellt. Das LG meint: So nicht. Und dann – aller guten Dinge sind drei – noch einmal das LG Halle im LG Halle, Beschl. v. 20.04.2021 – 10a Qs 43/21. In allen drei Beschlüssen weist das LG übrigens darauf hin, dass auch die Regelung des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO, wonach eine Bestellung unterbleiben kann, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, zu keinem anderen Ergebnis führt. Diese Regelung gilt nur für den Fall der Bestellung eines Pflichtverteidigers ohne Antrag nach § 141 Abs. 2 StPO.

Richtig wird dann aber nicht nur in Halle entschieden, sondern auch beim LG Hamburg, wie sich aus dem LG Hamburg, Beschl. v. 21.05.2021 -601 Qs 18/21 – ergibt. Das LG macht es – zumindest teilweise anders – als das „überordnete“ OLG.

Anders als die wohl zumindest h.M. in der landgerichtlichen Rechtsprechung macht es das LG Bonn im LG Bonn, Beschl. v. 18.05.2021 – 63 Qs 41/21. Das sieht die nahcträgliche Beiordnung als unzulässig an und bemüht mal wieder das Kostenargument. Dabei wird m.E. immer übersehen, dass es letztlich nicht auf die Frage der „Bedürftigkeit“ des Beschuldigten ankommen kann. Denn der muss ja nach Nr. 9007 KV GKG die Kosten des Pflichtverteidigers tragen, wenn er verurteilt wird.

Pflichti III: Mehrere „gesamtstrafenfähige Verfahren“, oder: Mehr als ein Jahr Freiheitsstrafe zu erwarten?

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Und dann zum Schluss des Tages noch der LG Erfurt, Beschl. v. 27.04.2021 – 7 Qs 89/21. Thema: Noch einmal Beiordung in einem Gesamtstrafenfall:

„Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

Zutreffend hat der Beschwerdeführer eingewandt, dass die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO vorliegen. Demnach liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung dann vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Dabei beurteilt sich die Schwere der Tat vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolge. Eine Straferwartung von 1 Jahr Freiheitsstrafe ist in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers (Meyer – Goßner/ Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 140 Abs. 2 StPO ).

Das im vorliegenden Verfahren gegenständliche Delikt des unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, rechtfertigt vor dem Hintergrund der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge keine Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Allerdings darf das vorliegende Verfahrens nicht isoliert betrachtet werden. Die Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie „nur“ wegen einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung erreicht wird (OLG Naumburg, Beschluss vom 22.05.2013, Az.: 2 Ss 65/13; OLG Halle, Beschluss vom 23.11.2018, Az.: 10a Qs 132/18; LG Magdeburg, Beschluss vom 30.04.2020, Az.: 25 Qs 802 Js 70719/20; alle veröffentlicht in juris ).

Gegen den Beschwerdeführer sind mehrere Verfahren anhängig, darunter zwei vor großen Straf-kammern der Landgerichte und eines vor dem Schöffengericht (s. unter I. ). In dem vor der großen Strafkammer des Landgerichts Erfurt anhängigen Verfahrens (a.a.O.) wird dem Beschwerdeführer und seinen 6 Mitangeklagten u.a. schwerer Bandendiebstahl in 4 Fällen zur Last gelegt. Allein für den schweren Bandendiebstahl sieht das Gesetz eine Mindestfreiheitsstrafe von 1 Jahr vor, § 244 a Abs. 1 StGB. Der mutmaßliche Tatzeitraum erstreckt sich von September bis Oktober 2019. Ein Hauptverhandlungstermin wurde noch nicht bestimmt. In sämtlichen Parallelverfahren wurde Rechtsanwältin Pp. dem Beschwerdeführer als Pflichtverteidigerin beigeordnet. Es besteht demnach die Erwartung, dass die dem Beschwerdeführer in den Parallelverfahren drohende Strafe mit der in dem vorliegenden Verfahren drohenden Strafe gesamtstrafenfähig ist und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche ein Jahr Freiheitsstrafe übersteigt. Dabei kommt es nicht darauf an, dass im vorliegenden Verfahren derzeit keine Gesamtstrafenbildung mit den Strafen aus den Parallelverfahren ansteht, ausreichend ist, wenn diese Möglichkeit nachträglich in Betracht kommt ( OLG Halle, Beschluss vom 23.11.2018 a.a.O.). Es war somit in jedem Verfahren eine Pflichtverteidigerin zu bestellen, anderenfalls hinge es von der bloßen Zufälligkeit ab, ob die Verfahren verbunden werden oder nicht, ob einem Angeklagten ein Verteidiger beizuordnen ist oder nicht ( LG Magdeburg, Beschluss vom 30.04.2020 a.a.O.).“

Pflichti II: Auslieferungshaft im Ausland, oder: Dann ist im Inland ein Pflichtverteidiger zu bestellen

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Das zweite Posting befasst sich dann noch einmal mit einer Entscheidung vom LG Nürnberg-Fürth. Im LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 04.05.2021 – 12 Qs 20/21 –, hat das LG die Frage entschieden, ob die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO auch dann vorliegen, wenn gegen den Beschuldigten Auslieferungshaft in anderer Sache im Ausland zum Zwecke der Überstellung ins Inland vollzogen wird. Das LG hat das bejaht:

„2. Dem Angeklagten war Rechtsanwalt D. als Pflichtverteidiger beizuordnen, weil ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vorliegt.

a) Nach der genannten Vorschrift ist ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben, wenn sich der Angeklagte auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet. Der Begriff der „Anstaltsunterbringung“ ist weit auszulegen und umfasst neben der Straf- und Untersuchungshaft auch die Auslieferungshaft (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 140 Rn. 16).

aa) Unerheblich ist, ob die Pflichtverteidigerbestellung für die Sache, in der die Freiheitsentziehung vollzogen wird, oder für ein anderes Strafverfahren erfolgen soll. Denn die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten sind durch die vollzogene Freiheitsentziehung in beiden Fällen gleichermaßen eingeschränkt (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. August 1999 – 1 Ws 411/99, juris Rn. 11; LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 29. Mai 2012 – 5 Qs 53/12, juris Rn. 3).

Soweit aufgrund systematischer Erwägungen zu früherer Rechtslage im Hinblick auf das Verhältnis von § 140 Abs. 1 Nr. 4 und 5 StPO a.F. vertreten wurde, § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO a.F. erfasse nicht den Fall einer in anderer Sache vollzogenen Freiheitsentziehung (dazu etwa LG Dresden, Beschluss vom 23. Mai 2018 – 14 Qs 16/18; LG Osnabrück, Beschluss vom 6. Juni 2016 – 18 Qs 526 Js 9422/16 (17/16), je in juris), ist diese Auffassung durch die Änderung des § 140 StPO aufgrund des Gesetzes zur Regelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. 2019 Teil I, 2128) überholt.

bb) Nichts anderes gilt, wenn sich der Angeklagte im Ausland in Haft befindet (OLG Koblenz, Beschluss vom 30. Mai 1984 – 1 Ws 411/84, NStZ 1984, 522; SSW/Beulke, StPO, 4. Aufl., § 140 Rn. 25; vgl. auch den 21. Erwägungsgrund der Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26. Oktober 2016, ABl. L 297/1 vom 4. November 2016 für den Fall eines EuHB). So liegen die Dinge hier: Der Angeklagte befindet sich zur Überzeugung der Kammer derzeit in serbischer Auslieferungshaft. Das ergibt sich aus der Mitteilung des Bayerischen LKA vom 12. Februar 2021, wonach der Angeklagte aufgrund der internationalen Fahndung in Serbien festgenommen worden sei und einer dies bestätigenden weitergeleiteten Mail von Interpol Belgrad. Zwar verfügte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth am 29. April 2021 auf Nachfrage der Kammer über keine gesicherten Erkenntnisse darüber, dass sich der Angeklagte in Serbien (weiterhin) in Auslieferungshaft befindet; das Auslieferungsersuchen an die serbischen Behörden sei gestellt worden. Diese tatsächliche Unsicherheit steht nach Auffassung der Kammer einer Pflichtverteidigerbeiordnung aber nicht entgegen, weil es jedenfalls keine Erkenntnisse gibt, die der gesicherten Festnahme des Angeklagten am 12. Februar 2021 widersprechen oder eine Beendigung der Auslieferungshaft belegen.

Eine Bewertung dahin, auf eine im Ausland vollzogene Freiheitsentziehung käme es nicht an, wäre mit dem Gesetzeswortlaut des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO nicht zu vereinbaren. Diese Vorschrift enthält keine räumliche Einschränkung im Hinblick auf den Ort der Anstaltsunterbringung. Auch nach Art. 4 Abs. 4 Buchstabe b der zitierten Richtlinie (EU) 2016/1919, deren Umsetzung § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO n.F. dient (BT-Drs. 19/13829, 34), ist es für die Gewährung von Prozesskostenhilfe in jedem Fall ausreichend, dass sich der Angeklagte in Haft befindet, ohne dass diese Voraussetzung nach Ort oder Anlass des Vollzugs der Freiheitsentziehung näher eingegrenzt würde (vgl. auch BT-Drs. 19/13829, 37).

b) Da § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO dem Gericht kein Ermessen einräumt, war beim Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen die Beiordnung des Pflichtverteidigers anzuordnen.

Der Beiordnung steht nicht entgegen, dass Rechtsanwalt D. vom Beschwerdeführer bereits als Wahlverteidiger mandatiert worden ist. Der Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers enthält nämlich die implizite Erklärung, die Wahlverteidigung werde mit der Beiordnung enden (OLG München, Beschluss vom 6. März 1992 – 1 Ws 161/92, wistra 1992, 237; KG, Beschluss vom 19. September 2011 – (2) 1 Ss 361/11 (53/11), juris Rn. 7; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 142 Rn. 40).

Der beantragten Beiordnung steht ebenso wenig entgegen, dass der Beschwerdeführer keinen ortsansässigen Rechtsanwalt beigeordnet sehen will. Denn das ist nach allgemeiner Ansicht kein wichtiger Grund im Sinne des § 142 Abs. 5 Satz 3 StPO, der einer Bestellung entgegenstünde (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 142 Rn. 51 f. m.w.N.).“

Pflichti I: „Unverzüglich“ bedeutet: „eine Woche“, oder: Rückwirkende Bestellung

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Heute dann ein Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen.

Ich starte mit dem m.E. sehr schön begründeten LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 04.05.2021 – 12 Qs 22/21 –, der sich noch einmal mit den Fragen der nachträglichen Beiordnung befasst. Der Beschuldigte hatte sich in anderer Sache in Haft befunden, so dass ein Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vorlag. Über den Beiordnungsantrag des Beschuldigten war aber nicht entschieden und nach Aufhebung des Haftbefehls wurde die Beiordnung dann abgelehnt. Dazu das LG, dessen Entscheidung man auch zusammenfassen könnte mit: „So nicht.“:

„2. Die sofortige Beschwerde hat in der Sache Erfolg. Dem Angeklagten war Rechtsanwalt P. als Pflichtverteidiger beizuordnen.

a) Die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO liegen vor. Nach dieser Vorschrift ist der Fall einer notwendigen Verteidigung gegeben, wenn sich der Angeklagte aufgrund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet, was auch die Straf- und Untersuchungshaft umfasst (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. § 140 Rn. 16). Unerheblich ist dabei, ob die Pflichtverteidigerbestellung für die Sache, in der die Freiheitsentziehung vollzogen wird, oder für ein anderes gleichzeitig geführtes Strafverfahren erfolgen soll. Denn die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten sind durch den Vollzug der Freiheitsentziehung in beiden Fällen gleichermaßen eingeschränkt. (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. August 1999 – 1 Ws 411/99, juris Rn. 11; LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 29. Mai 2012 – 5 Qs 53/12, juris Rn. 3).

Soweit aufgrund systematischer Erwägungen zu früherer Rechtslage im Hinblick auf das Verhältnis von § 140 Abs. 1 Nr. 4 und 5 StPO a.F. vertreten wurde, § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO a.F. erfasse nicht den Fall einer in anderer Sache vollzogenen Freiheitsentziehung (dazu etwa LG Dresden, Beschluss vom 23. Mai 2018 – 14 Qs 16/18; LG Osnabrück, Beschluss vom 6. Juni 2016 – 18 Qs 526 Js 9422/16 (17/16), beide in juris), ist diese Auffassung durch die Änderung des § 140 StPO aufgrund des Gesetzes zur Regelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. 2019 Teil I, 2128) überholt.

Vom weggefallenen systematischen Argument abgesehen ist eine andere Bewertung mit dem Gesetzeswortlaut des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO auch nicht zu vereinbaren. Diese Vorschrift enthält keine Einschränkung im Hinblick auf Anlass oder Ort der Anstaltsunterbringung. Auch nach Art. 4 Abs. 4 Buchstabe b der Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26. Oktober 2016 (ABl. L 297/1 vom 4. November 2016, fortan: PKH-Richtlinie), deren Umsetzung § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO n.F. dient (BT-Drs. 19/13829, 34), ist es für die Gewährung von Prozesskostenhilfe in jedem Fall ausreichend, dass sich der Angeklagte in Haft befindet, ohne dass diese Voraussetzung nach Ort oder Anlass des Vollzugs der Freiheitsentziehung näher eingegrenzt würde (vgl. auch BT-Drs. 19/13829, 37).

Damit war es für die Pflichtverteidigerbestellung grundsätzlich ausreichend, dass sich der Angeklagte im Zeitpunkt der Antragstellung am 19. Februar 2021 in Untersuchungshaft in anderer Sache befand.

b) Für die Bestellung ist im gegebenen Fall unschädlich, dass der Grund der notwendigen Verteidigung im Zeitpunkt der amtsrichterlichen Entscheidung über den Antrag am 6. April 2021 bereits entfallen war.

aa) Zur früheren Rechtslage war weitgehend anerkannt, dass eine Pflichtverteidigerbestellung nur für die Zukunft möglich ist, da die Beiordnung dem Zweck einer zukünftigen ordnungsgemäßen Verteidigung und nicht dem Kosteninteresse des Angeklagten oder einem Vergütungsanspruch des Verteidigers gegen die Staatskasse dient (Nachweise bei Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. § 140 Rn. 19).

bb) Nach Auffassung der Kammer gilt das nicht mehr uneingeschränkt für die neue Rechtslage. Vorliegend hatte die Beiordnung nachträglich zu erfolgen. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des OLG Nürnberg (Beschluss vom 6. November 2020 – Ws 120/20, juris; ähnlich LG Hamburg, Beschluss vom 26. März 2021 – 604 Qs 6/21, BeckRS 2021, 6859 Rn 9; LG Bochum, Beschluss vom 18. September 2020 – II-10 Qs 6/20, juris Rn. 42 m.w.N.) geht die Kammer davon aus, dass im Lichte der PKH-Richtlinie eine nachträgliche Verteidigerbestellung nicht versagt werden kann, wenn die Entscheidung hierüber verzögert getroffen wurde.

(1) Befindet sich der Beschuldigte – wie hier – in einer Anstaltsunterbringung, wird ihm, wenn er noch keinen Verteidiger hat, ein Pflichtverteidiger bestellt, sobald diese Unterbringung bekannt wird (§ 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO; ein Ausnahmefall gem. Abs. 2 Satz 3 der Vorschrift lag hier nicht vor). Dem Fall, dass der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat, steht dabei gleich, dass der gewählte Verteidiger – wie hier – bereits mit dem Antrag ankündigt, das Wahlmandat mit der Bestellung niederzulegen (vgl. BT-Drs. 19/13829, 36).

Die sachbearbeitende Staatsanwältin erhielt Kenntnis vom aktuellen Freiheitsentzug des Angeklagten spätestens am 10. Februar 2021, als sie die von der polizeilichen Ermittlung zurückgelaufene Akte, in der die Untersuchungshaft des Angeklagten in der Haftsache deutlich vermerkt war, zur Akteneinsicht an Rechtsanwalt P. verfügte. Am 22. Februar 2021 ging sodann der Beiordnungsantrag des Rechtsanwalts bei der Staatsanwaltschaft ein. Damit hatte die Staatsanwaltschaft gem. § 142 Abs. 2 i.V.m. § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO ihrerseits den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung „unverzüglich“ zu stellen, wenn sie nicht nach § 142 Abs. 2 StPO vorgehen wollte. Nach letztgenannter Bestimmung kann die Staatsanwaltschaft in Eilfällen selbst über die Bestellung entscheiden, was sie sich dann binnen Wochenfrist vom Gericht bestätigen lassen muss.

Die Strafprozessordnung definiert den Begriff der Unverzüglichkeit nicht. Ausweislich der Gesetzesmaterialien bedeutet unverzüglich zwar nicht sofort, die Bestellung muss aber so rechtzeitig erfolgen, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden (BT-Drs. 19/13829, 37). Diese Begriffsbestimmung nähert sich damit dem allgemeinen juristischen Verständnis der Unverzüglichkeit als „ohne schuldhaftes Zögern“ (vgl. § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB; ähnlich LG Bochum, Beschluss vom 18. September 2020 – II-10 Qs 6/20, juris Rn. 30). Diese Auslegung steht im Einklang mit der vorrangigen und europarechtlich autonom auszulegenden PKH-Richtlinie. Nach deren Art. 6 Abs. 1 Satz 1 sind die Entscheidungen über die Bestellung von Rechtsbeiständen unverzüglich zu treffen. Dem im obigen Sinn verstandenen „unverzüglich“ der deutschen Sprachfassung der Richtlinie entsprechen gleichsinnig in der englischen Fassung „without undue delay“, in der französischen „sans retard indu“, in der italienischen „senza indebito ritardo“ oder in der polnischen „bez zb?dnej zw?oki“.

(2) Der – hier nicht aktivierten – Bestimmung des § 142 Abs. 4 Satz 2 StPO kann die konkretisierende Wertung entnommen werden, dass Unverzüglichkeit bei Wahrung der Wochenfrist noch bejaht werden kann; darüber hinaus jedoch nicht mehr (so schon zum alten Recht Lüderssen/Jahn in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 141 Rn. 19). Die Kammer hält diese Wertung jedenfalls auf den hier gegebenen Fall einer auf § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO beruhenden notwendigen Verteidigung regelmäßig für anwendbar. Zumindest bei einem im Inland vollzogenen und aktenkundigen Freiheitsentzug ist eine darüber hinaus gehende längere Prüfungsfrist des Beiordnungsgrundes sachlich nicht erforderlich.

(3) Die Wochenfrist – zwischen Eingang des Beiordnungsantrags des Verteidigers und der Abschlussverfügung, die den Beiordnungsantrag der Staatsanwaltschaft an das Gericht enthielt – wurde hier durch die Staatsanwaltschaft um mehr als das Doppelte überschritten, ohne dass aus der Akte nachvollziehbare Gründe hierfür erkennbar würden. Damit liegt eine nicht gerechtfertigte Verzögerung vor.

(4) Folge des Verstoßes gegen das Unverzüglichkeitsgebot ist hier, dass die Pflichtverteidigerbestellung rückwirkend zu erfolgen hat. Das ist notwendig, um ein Unterlaufen des Zwecks der PKH-Richtlinie zur effektiven Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten durch eine Verzögerung oder Untätigkeit auf Justizseite zu verhindern (OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 – Ws 120/20, juris Rn. 26; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. § 142 Rn. 20; vgl. auch den 1. Erwägungsgrund der PKH-Richtlinie). Nur ein solches Verständnis stellt die praktische Wirksamkeit („effet utile“, dazu etwa Mayer in Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV, 71. EL August 2020, Art. 19 Rn. 57 f.; Nachweise zur Rechtsprechung des EuGH bei Potacs, EuR 2009, 465, 467 f.) der unionsrechtlichen Mindeststandards der PKH-Richtlinie (vgl. dazu deren 16. und 30. Erwägungsgrund) sicher.

(5) Die Kammer sieht sich mit vorliegender Entscheidung in Übereinstimmung mit den Erwägungen des OLG Nürnberg in dessen zitiertem Beschluss vom 6. November 2020. Sofern im dortigen Leitsatz die Pflichtverteidigerbestellung an eine „wesentliche“ Verzögerung anknüpft, versteht die Kammer das nicht als eine zusätzliche Voraussetzung für die Beiordnung – dafür geben die dortigen Beschlussgründe nichts her –, sondern als Bezugnahme auf den konkret vom Strafsenat entschiedenen Sachverhalt, in dem die eingetretene Verzögerung evident wesentlich war.“

Und dann für die Sammlung aus dem inzwischen unüberschaubaren Reservoir der Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung:

Für mich nicht nachvollziehbar und klar gegen Sinn und Zweck der Neuregelung.