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„Neue Masche“ der OLG? oder: Wie werde ich mit einem „versteckten Entbindungsantrag fertig“?

© Alex White - Fotolia.com

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Ein wenig war ich an den – im übertragenen Sinn, ich weiß, es passt nicht so ganz – – Zug der Lemminge erinnert, als ich den OLG Hamm, Beschl. v. 19.05.2015 – 5 RBs 59/15 – gelesen habe. Denn mein erster Gedanke war: Das hatten wir doch gerade schon. Ja, hatten wir: Den versteckten Entbindungsantrag, und zwar im OLG Rostock, Beschl. v. 15.04.2015 – 21 Ss OWi 45/15, vgl. dazu Der „versteckte“ Entbindungsantrag ist „arglistig“. Und damit eine in meinen Augen „neue Masche“ der OLG, um mit Entbindungsanträgen „fertig zu werden“. Denn die Argumentation soll jetzt wohl dahin gehen: Wenn der Entbindungsantrag nicht klar und eindeutig aus dem jeweiligen Schriftsatz erkennbar ist, dann ist er, weil rechtsmissbräuchlich, nicht rechtzeitig und nicht ordnungsgemäß gestellt. Ergebnis: Dann keine Rechtsverletzung, wenn der Amtsrichter den Antrag nicht bescheidet. Das ist auf die Kürze gebracht der Argumentationsstrang der OLG, eröffnet vom OLG Rostock.

Konnte man dem beim OLG Rostock ggf. noch folgen, obwohl ich auch da meine Zweifel hatte (Der „versteckte“ Entbindungsantrag ist „arglistig“, kann man bzw. kann ich es beim OLG Hamm nicht. Beim OLG Rostock ging es um insgesamt 5 eng beschriebene Seiten, die 53 Minuten vor dem Termin eingingen. Beim OLG Hamm sind es gerade mal um etwa 1 ½ eng beschriebene Seiten, die 3 (!!) Stunden vor der Hauptverhandlung bei Gericht eingingen. Warum ein Amtsrichter nicht in der Lage sein soll, innerhalb dieser drei Stunden den Antrag zu lesen – ggf. noch in der Hauptverhandlung, von der der Betroffene „entbunden“ werden soll, in der er ja eh mit der Verwerfung mindestens 15 Minuten warten muss – erschließt sich mir nicht. Das dauert maximal 5 Minuten. Sie sollten und die müssen da sein und die sind da. Und das auch, wenn es in dem Schriftsatz (auch) noch um andere Dinge geht.

Das OLG sieht es natürlich an:

„Angesichts der kurzfristigen Übersendung des wie dargestellt aufgebauten und optisch gestalteten Schriftsatzes vom 02. Februar 2015 an das Amtsgericht per Fax am Vormittag des Terminstages liegt es auf der Hand, dass dies in der Erwartung geschah, der den Entbindungsantrag enthaltende Schriftsatz werde dem in anderen Sachen verhandelnden Amtsrichter entweder nicht rechtzeitig vor der Terminsstunde in der Sache des Betroffenen vorgelegt oder von ihm (in der durch den Befangenheitsantrag zusätzlich gesteigerten Zeitnot) nicht wahrgenommen, um dann aus diesem Versehen eine Verfahrensbeanstandung herzuleiten. Damit ist ein missbräuchliches und auf Irreführung der Gerichte angelegtes Verteidigungsverhalten zu konstatieren, das der Rechtsbeschwerde nicht zum Erfolg zu verhelfen vermag.“

 Fazit/Fragen

  1. Wenn erst ein OLG einmal die Keule „Rechtsmissbrauch“ herausgeholt hat, dauert es nicht lange, bis das nächste OLG nachfeuert?. Und das man das andere OLG natürlich toppen will. Anders kann ich die Entscheidung des OLG Hamm nicht verstehen.
  2. Müssen eigentlich Amtsrichter nicht mehr lesen, was ihnen vorgelegt wird, bzw. können sich damit Zeit lassen?
  3. Kippt dann jetzt insgesamt auch die Rechtsprechung, wonach man bislang davon ausgehen durfte, dass auch am Sitzungstag vom Amtsrichter grundsätzlich erwartet werden darf, dass er einen ihm vorgelegten Schriftsatz zumindest mal „anliest“? Das dürfte sich zwanglos aus dem Recht auf rechtliches Gehör ergeben.
  4. Wo sieht eigentlich das OWiG Vorschriften zur Gestaltung von Anträgen vor?
  5. Wann kommen Handreichungen der OLGs, wie Anträge zu gestalten sind? Vielleicht in einem „Handbuch für einen Entbindungsanträge“ herausgegeben von den vereinigten Budßgeldsenaten der OLG? So unter dem Motto: So hätten wir es gerne.

Auch im Bußgeldverfahren: Grundsätzlich Verteidiger des Vertrauens

 © lassedesignen Fotolia.com

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Mit verhältnismäßig klaren Worten stellt das OLG Hamm im OLG Hamm, Beschl. v. 25.06.2015 – 3 RBS 200/15 – fest: Auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren hat der Betroffene grundsätzlich das Recht, sich in jeder Lage des Verfahrens von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen. In meinen Augen eine Selbstverständlichkeit, ergangen in einem Verfahren, in dem um Terminsverlegung gebeten worden war, u.a. zweimal mit der Begründung, dass der Verteidiger erkrankt sei. Damit hatte sich das AG nicht auseinandergesetzt, sondern den Einspruch des Betroffenen nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen.

Ds OLG schränkt seinen Obersatz dann zwar ein:

„Hieraus folgt zwar nicht, dass die Hauptverhandlung im Ordnungswidrigkeitenverfahren bei jeder Verhinderung des gewählten Verteidigers nicht durchgeführt werden kann und dem Betroffenen ein Erscheinen ohne seinen Verteidiger grundsätzlich nicht zumutbar und ein Ausbleiben des Betroffenen ohne Weiteres als entschuldigt anzusehen wäre. Es kommt vielmehr darauf an, ob die prozessuale Fürsorgepflicht eine Termins-verlegung geboten hätte; Anträge auf Terminsverlegung hat der Vorsitzende nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung der eigenen Terminsplanung , der Gesamtbelastung des Spruchkörpers, des Gebots der Verfahrensbeschleunigung und der berechtigten Interessen der Prozessbeteiligten zu bescheiden (vgl. KG, NZV 2003, 433, BayObLG StV 1995, 10; wistra 2002, 40). Das Interesse des Betroffenen an der Verteidigung durch den gewählten Verteidiger und das Interesse an einer möglichst reibungslosen Durchführung des Verfahrens sind gegeneinander abzuwägen, wobei das Verteidigungsinteresse im Zweifel Vorrang hat (vgl. BayObLG, a.a.O., OLG Hamm, Beschluss vom 21.01.2008 — 4 SsOWi 741/07 — juris; Göhler, OWiG, 16. Aufl., § 71 Rdnr. 30 m.w.N.).“

Aber wir bekommen zugleich auch „Handreichungen“, wann denn nun wohl die Anwesenheit eines Verteidigers erforderlich sein dürfte:

„Denn dass der Betroffene sich ohne seinen Verteidiger ausreichend hätte verteidigen können, versteht sich angesichts der Sach- und Rechtslage nicht von selbst. Zwar handelt es sich lediglich um eine Verkehrsordnungswidrigkeit, jedoch hat der Betroffene die Tat nicht eingeräumt und seine Täterschaft in Abrede gestellt. Zudem handelt es sich um den Vorwurf einer beträchtlichen Geschwindigkeitsüberschreitung, bei der auch die Verurteilung wegen Vorsatzes in Betracht kommt. Außerdem droht dem Betroffenen die Verhängung eines Fahrverbotes mit u.U. einschneidenden Wirkungen. …..“

0,4 g bzw. 0.7 g Marihuanazubereitungen = geringe Menge => Absehen von Strafe

© macrovector - Fotolia.com

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Was ist bei „Marihuanazubereitungen“ ein geringe Menge? Die Antwort auf die Frage, die für den Angeklagten von entscheidender Bedeutung sein kann, gibt uns jetzt (noch einmal) der OLG Hamm, Beschl. v. III-2 RVs 30/15.  Das AG Iserlohn hatte den Angeklagten wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in zwei Fällen u.a. zu einer Gesamtgeldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 10,00 € verurteilt worden. Nach den Feststellungen des AG befand sich der Angeklagte anlässlich von Polizeikontrollen am 11.04.2014 im Besitz von 0,4 g Marihuana und am 22.04.2014 im Besitz von 0,7 g Marihuana. Das OLG hebt auf, weil es Ausführungen zu § 29 Abs. 5 BtMG vermisst:

„Das angefochtene Urteil ist im Strafausspruch rechtsfehlerhaft, da dem Senat anhand der insoweit lückenhaften Strafzumessungserwägungen die Prüfung nicht möglich ist, ob das Berufungsgericht ermessensfehlerfrei von der Möglichkeit eines Absehens von Strafe gemäß § 29 Abs. 5 BtMG keinen Gebrauch gemacht hat. Das Amtsgericht hat die Voraussetzungen und Rechtsfolgen dieser Vorschrift nicht erörtert.

Bei dem Marihuana, welches nach den Feststellungen des Landgerichts Hagen am jeweiligen Tattag im Besitz des Angeklagten vorgefunden wurde, handelt es sich in beiden Fällen um eine sehr kleine Menge, die – nach den getroffenen Feststellungen naheliegend – zum Eigenkonsum des Angeklagten bestimmt war. Sie stellt eine „geringe Menge“ i.S.d. § 29 Abs. 5 BtMG dar.

Als eine „geringe Menge“ im Sinne der vorgenannten Gesetzesbestimmung ist eine Menge anzusehen, die zum einmaligen bis höchstens dreimaligen Gebrauch geeignet ist (vgl. Weber, BtMG, 4.  Aufl., 29 Rdnr. 1801). Bei Cannabis wird die durchschnittliche Konsumeinheit mit 15 mg THC angesetzt, so dass der Grenzwert für die „geringe“ Menge i.S.d. § 29 Abs. 5 BtMG 45 mg (= 0,045 g) THC beträgt. Wird der Wirkstoffgehalt – wie vorliegend – nicht festgestellt, wird zum Teil in der obergerichtlichen Rechtsprechung und in der Literatur ein Cannabisgemisch mit einer Gewichtsmenge von bis zu 6 Gramm als „geringe Menge“ i.S.d. § 29 Abs. 5 StGB angesehen, weil sich unter Annahme einer äußerst schlechten Konzentration von 0,8 % aus 6 g Haschisch noch drei Konsumeinheiten gewinnen lassen (vgl. Weber, a.a.O., § 29 Rdnr. 1811 u. 1812 m.w.N.; Körner, BtMG, 7. Aufl., § 29 Teil 28 Rdnr. 39 m.w.N.; OLG Oldenburg, Beschluss vom 21.10.2008 — Ss 355/08 -; BeckRS 2008, 22472). Stellt man auf die Richtlinien zur Anwendung des § 31 a Abs. 1 BtMG gemäß dem Runderlass des Justizministeriums und des Ministeriums für Inneres und Kommunales vom 19.05.2011 — JMBL.. NRW S. 106 — ab, so ist von einer geringe Menge zum Eigenverbrauch gemäß Ziffer II. 1. der Richtlinien bei Cannabisprodukten bis zu einer Gewichtsmenge von 10 g auszugehen.

Die Marihuanazubereitungen mit einem Nettogewicht von 0,4 g bzw. 0,7 g, die bei dem Angeklagten vorgefunden worden sind, lagen daher erheblich unter den vorgenannten Grenzmengen für Cannabisprodukte von 6 g bzw. 10 g. Das Amtsgericht hat sich dennoch nicht erkennbar mit der Anwendung der Vorschrift des § 29 Abs. 5 BtMG, bei der es sich um eine Ausgestaltung des verfassungsrechtlichen Übermaß-verbotes handelt (vgl. Körner, a.a.O., § 29 Randziffer 3 m.w.N.), befasst. Hierzu hätte vorliegend jedoch insbesondere auch deshalb Anlass bestanden, weil der Angeklagte nach den Feststellungen des Amtsgerichts nicht vorbestraft ist und über den festgestellten strafbaren Betäubungsmittelbesitz hinausgehend konkrete Anhaltspunkte für eine etwaige Fremdgefährdung — etwa durch die nahe liegende Möglichkeit der Abgabe von Betäubungsmitte n an Dritte oder durch Beschaffungskriminalität — nicht ersichtlich sind. Entgegenstehende Feststellungen sind zumindest nicht getroffen. Auch ist nach den Feststellungen des Amtsgerichts nichts dafür ersichtlich, dass es sich bei dem Angeklagten um einen Dauerkonsumenten handelt. Allein die Feststellung des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in zwei Fällen reicht für eine solche Annahme nicht aus.“

Kleine Anmerkung an den Leser, der vielleicht ein wenig verwirrt ist, dass das OLG vom „LG Hagen“ und vom „Berufungsgericht“ spricht: Kann schon mal passieren, dass man übersieht, dass es sich um eine Sprungrevision gehandelt hat 🙂 .

Gefangenengewerkschaft

© chris52 - Fotolia.com

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Und um die Herausgabe dieser Unterlagen ist dann gestritten worden. Nachdem die Unterlagen herausgegeben worden sind, geht es noch um die Feststellung der Rechtswidrigkeit der zunächst unterbliebenen Aushändigung der Unterlagen. Die StVK hat die Maßnahme der JVA nicht beanstandet. Das OLG hat das anders gesehen:

Aus dem Zusammenspiel dieser beiden Vorschriften ergibt sich, dass Gefangene bestimmte Gegenstände schon aufgrund gesetzlicher Anordnung nicht besitzen bzw. empfangen dürfen. Insoweit besteht allenfalls auf Tatbestandsseite ein gewisser Beurteilungsspielraum (vgl. dazu: Kment/Vorwalter, JuS 2015, 193) der Justizvollzugsanstalt. Bei anderen Gegenständen hängt der Besitz bzw. Empfang von einer Erlaubnis ab, welche im Ermessen der Anstalt steht.29

Bzgl. der Gefährdung der Sicherheit oder Ordnung ist auf eine abstrakte, vom Verhalten des einzelnen Gefangenen unabhängig zu beurteilende Gefährdung abzustellen (vgl. nur BVerfG NStZ 2003, 621 m.w.N.) Eine solche (auch nur abstrakte) Eignung der Antragsformulare für eine Gefährdung der Sicherheit der Anstalt ist nicht erkennbar. Es ist nicht ersichtlich und auch nicht Grund der Versagung, dass etwa mittels der Papierblätter gefährliche, waffenähnliche Gegenstände hergestellt werden könnten oder dass sie einen gedanklichen Inhalt aufweisen, der die Sicherheit der Anstalt gefährden könnte. Auch einen ordnungsgefährdenden Inhalt, also einen Inhalt, der das geordnete Zusammenleben der Gefangenen beeinträchtigen könnte, weist ein bloßes Antragsformular nicht auf. Zu dem Inhalt des Antragsformulars wurden nähere Feststellungen nicht getroffen, so dass angesichts der Bezeichnung „Antragsformular“ und angesichts der erfolgten Aushändigung eines Exemplars davon auszugehen ist, dass es lediglich die Erklärung erhält, dass der Vereinigung beigetreten wird und es Leerstellen enthält zur Angabe bestimmter persönlicher Daten des Antragstellers. Der gedankliche Inhalt des Antragsformulars ist damit nicht gefährlich. Auch eine Gefährdung des Vollzugsziels ist nicht zu erkennen.31

Letzteres ist indes so nicht zutreffend. Die Grundrechte der Vereinigungs- bzw. Koalitionsfreiheit sind – von Art. 9 Abs. 2 GG abgesehen – vorbehaltslos gewährleistet ist und gelten auch im Bereich des Strafvollzuges (OLG Karlsruhe NStZ 1983, 527; OLG Nürnberg NStZ 1986, 286; LG Mannheim NStZ 1982, 487, 488; wohl auch: KG Berlin NStZ 1982, 222). Vom Schutzbereich der Grundrechte ist auch die Mitgliederwerbung umfasst (BVerfGE 84, 372, 378). Diese Grundrechte unterliegen zwar verfassungsimmanenten Schranken (vgl. BVerfG NStZ 1983, 331; OLG Karlsruhe a.a.O.; OLG Nürnberg a.a.O.; BayObLG NStZ 1982, 84 m. Anm. Seebode). So mögen sie durch diese einschränkbar sein, soweit dies für einen funktionierenden Strafvollzug erforderlich ist. Diese Grundsätze wurden – nach Maßgabe der Ausführungen im angefochtenen Beschluss – aber weder durch den Leiter der Justizvollzugsanstalt im Rahmen der gebotenen Ermessensentscheidung noch durch die Strafvollstreckungskammer berücksichtigt.Bei der erneuten Behandlung und Entscheidung wird die Strafvollstreckungskammer mithin zu prüfen haben, ob der Leiter der JVA X I die Bedeutung des Grundrechts aus Art. 9 Abs. 1 oder Abs. 3 GG (der angefochtene Beschluss enthält keine näheren Angaben zu den Zwecken und dem Betätigungsfeld der Gefangenengewerkschaft; ebenso enthält er auch keine Angaben, ob der Betroffene in den personellen Schutzbereich von Art. 9 Abs. 1 GG fällt) im Rahmen seiner Ermessensentscheidung hinreichend berücksichtigt hat. Weitere Feststellungen erscheinen dem Senat möglich.

Die (Eigen)Haftung des besoffenen Fußgängers

© ExQuisine - Fotolia.com

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Ich hatte in dieser Woche ja schon ein Posting zum „besoffenen Fußgänger“, das ging es allerdings um die Frage der MPU: Der besoffene Fußgänger auf der BAB – MPU. Von der (Grund)Thematik passt dazu das OLG Hamm, Urt. v. 17.04.2015 – 9 U 34/14. Da geht es um die Haftung eines Lkw-Fahrers, mit dem der Kläger als Fußgänger auf einem Parkplatz eines Lidl-Supermarktes ein unheilvolles Zusammentreffen hatte. Der im Unfallzeitpunkt mit 2,49 Promille alkoholisierte Kläger – schon eine ganz Menge – war als Fußgänger zwischen die Achsen des Sattelaufliegers des von dem Beklagten zu 1) gesteuerten und bei der Beklagten zu 2) krafthaftpflichtversicherten Lastzuges geraten. Der Kläger erlitt schwerste Verletzungen. Um den dafür zu leistenden Schadensersatz wurde gestritten. Die Klage ist abgewiesen worden. Das LG hatte wegen Verjährung abgewiesen, das OLG weist in der Sache ab. Eine Haftung der Beklagten gegenüber dem Kläger bestehe jedenfalls deshalb nicht, weil diesen ein weitaus überwiegendes Mitverschulden an dem Zustandekommen des Unfalls treffe, § 254 Abs. 1 BGB, § 9 StVG.

Das OLG sagt: Kein schuldhafter Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1), und zwar

  • nicht gegen § 9 Abs. 5 StVO, weil der Beklagte zu 1) nicht rückwärts gefahren ist,
  • nicht gegen § 1 Abs. 1 und 2 StVO verstoßen, weil nicht festgestellt werden kann, dass der Beklagte zu 1) auf das Auftauchen des Klägers zu spät oder unangemessen reagiert hat und durch eine ihm zumutbare Reaktion seinerseits den Unfall hätte vermeiden können,
  • nicht gegen § 3 Abs. 2a StVO, weil bereits nicht festgestellt werden kann  dass der Beklagte zu 1) während der 2 Sekunden währenden Annäherungsphase den Kläger überhaupt und dann noch als hilfsbedürftige Person i.S.d § 3 Abs. 2a StVO hätte erkennen können und müssen.

Und letztlich:

„Den Kläger trifft ein erhebliches Eigenverschulden an dem Zustandekommen des Unfalls, §§ 9 StVG i.V.m. 254 Abs. 1 BGB. Der Kläger hat gegen das für ihn bei der Teilnahme am Straßenverkehr auch als Fußgänger geltende und sich aus § 1 Abs. 2 StVO ergebende Rücksichtnahmegebot verstoßen. Der Kläger ist sehenden Auges mit nicht geringer Geschwindigkeit seitlich auf den hinteren Bereich des sich langsam vorwärts bewegenden Sattelzuges zugelaufen. Anschließend hat er sich mit beiden Händen an dem Aufbau abgestützt, was zur Folge hatte, dass er durch den vermittelten Drehimpuls zwischen die Hinterachsen des Aufliegers gestürzt ist. Das in höchstem Maße eigengefährdende und nicht verkehrsgerechte Verhalten des Klägers hat sich erwiesenermaßen als Gefahrenmoment in dem Unfall ursächlich niedergeschlagen. Das Fehlverhalten des im Unfallzeitpunkt mit 2,49 Promille alkoholisierten Klägers belegt zudem seine alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit selbst als Fußgänger. Denn es gibt keine andere Erklärung für die von den Zeugen beobachtete Verhaltensweise als eine alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit. Andere Ursachen, wie Unaufmerksamkeit oder Leichtsinn scheiden aus Sicht des Senats angesichts der Übersichtlichkeit der Örtlichkeit und des schnell zu registrierenden Fahrvorgangs aus, insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Kläger zuvor im Ladengeschäft und außerhalb des Sichtfeldes des Beklagten zu 1) auf dem Parkplatzgelände durch starkes Schwanken und einen torkelnden Gang den Zeugen D, T3 und T2 aufgefallen war.

7. Nach alledem ist bei der Haftungsabwägung auf Seiten der Beklagten nur die Betriebsgefahr des Sattelzuges zu berücksichtigen. Dass den Beklagten zu 1) ein Verschulden an dem Unfall trifft, ist – wie ausgeführt – nicht festzustellen. Demgegenüber wiegt das Verschulden des Klägers in Form des groben Verstoßes gegen die allgemeine Rücksichtnahmepflicht aus § 1 Abs. 2 StVO so schwer, dass dahinter die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs vollständig zurücktritt.“