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Pflichti II: Wahlanwalt wird Pflichtverteidiger?, oder: Muss der Wahlanwalt ausdrücklich niederlegen?

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Bei manchen Entscheidungen kann man nur den Kopfschütteln. Denn Sie behandeln Probleme, von denen man gedacht hatte, dass sie längst erledigt sind. Dazu gehört auch die Frage, ob der Wahlanwalt, der beantragt, zum Pflichtverteidiger bestellt zu werden, sein Wahlmandat ausdrücklich niederlegen muss oder ob in dem Beiordnungsantrag, die Ankündigung liegt, für den Fall der Bestellung nieder zu legen. M.E. gilt Letzteres und m.E. ist das auch zutreffende h.M. in der Rechtsprechung. Aber: Ganz unstreitig ist das nicht (mehr), weil nach der gesetzlichen Neuregelung der §§ 140 ff. StPO einige Gerichte diese Frage wieder thematisiert haben und das anders sehen.

So z.B. das LG Rostock im LG Rostock, Beschl. v. 16.09.2021 – 22 Qs 157/21  -, den mir der Kollege Penneke erst vor kurzem geschickt hat; das LG bestätigt den AG Rostock, Beschl. v. 26.08.2021 – 23 Ds 161/21. Begründung des LG:

„Nach dem Wortlaut des § 141 Abs. 2 Satz 1 StPO hat die Pflichtverteidigerbestellung jedoch nur dann zu erfolgen, wenn der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat. Mit Schriftsatz vom 11.05.2021 erklärte Rechtsanwalt pp., dass er Herrn pp. verteidige. Die Vollmacht wurde standesgemäß anwaltlich versichert. Die Bestellung von Rechtsanwalt Penneke als Pflichtverteidiger kam aufgrund des bestehenden Wahlmandats nicht in Betracht. Zwar kann auch der bisherige Wahlverteidiger zum Pflichtverteidiger bestellt werden. Voraussetzung ist hierbei jedoch, dass der Wahlverteidiger die Niederlegung seines Mandats für den Fall der beantragten Bestellung ankündigt (vgl. OLG Oldenburg NJW 2009, 3044. BT-Drs. 19/13829, 36, Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 141 Rn. 4/10; Krawczyk in: BeckOK StPO, 40. Edition, § 141 Rn. 2). Fehlerhaft ist es dagegen, den Wahlverteidiger ohne Ankündigung der Mandatsniederlegung als Pflichtverteidiger zu bestellen (vgl. Krawczyk in: BeckOK StPO, 40. Edition, § 141 Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 141 Rn. 4/10), da dies dem klaren Wortlaut von § 141 Abs. 1 S. 1 StPO und dem darin zum Ausdruck kommenden Vorrang der Wahlverteidigung vor der Pflichtverteidigung widersprechen würde (LG Würzburg, Beschluss vom 10.11.202, Az.: 6 Qs 197/20; Krawczyk in: BeckOK StPO, 40. Edition, § 141 Rn. 2). Die teilweise vertretene Ansicht, in dem Antrag auf Beiordnung sei in der Regel die Ankündigung der Niederlegung des Wahlmandates für den Fall der Beiordnung zu erblicken (Thomas/Kämpfer in: MüKo, StPO, § 141 Rn. 2; LG Freiburg, Beschluss vom 26.08.2020, Az.: 16 Qs 40/20), ist indessen mit dem Wortlaut von § 141 Abs. 2 StPO nicht zu vereinbaren.“

M.E. nicht zutreffend (so auch über LG Freiburg und andere hinaus u.a. LG Passau, Beschl. v. 26.01.2021 – 1 Qs 6/21). Ich verstehe auch nicht, warum man auf „alte“ OLG-Rechtsprechung zurückgreift und zudem eine Stelle bei Meyer-Goßner/Schmitt anführt, die zu der Frage nichts hergibt. Denn sie verhält sich nicht zur (konkludenten) Niederlegung. Und der Wortlaut der Regelung steht dem auch nicht entgegen. Das ist ein Totschlagargument, mehr nicht.

Anders und damit richtig macht es übrigens das LG Siegen im LG Siegen, Beschl. v. 16.03.2022 – 10 Qs 26/22 – unter Hinweis auf (ältere) BGH-Rechtsprechung. Aber: Auch das LG Siegen hat man zum Erfolg 🙂 tragen müssen. Denn: Das AG hatte im AG Siegen, Beschl. v. 22.02.2022 – 450 Gs 15/22 – mit einer herzerfrischend knappen Begründung die Bestellung abgelehnt. An der Auffassung hat das AG dann in seinem auf die sofortige Beschwerde ergangenen Nichtabhilfebeschluss, dem AG Siegen, Beschl. v. 04.03.2022 – 450 Gs 15/22 -, ausdrücklich festgehalten, wobei es ausdrücklich „vollinhaltlich auf den angefochtenen Beschluss Bezug “ nimmt – man fragt sich, welche Begründung gemeint ist – , dann aber Ausführungen macht, ohne sich allerdings mit den Einzelheiten zu befassen.  Und auch das LG hat es im LG Siegen, Beschl. v. 08.03.2022 – 10 Qs 26/22 – zunächst anders gesehen und die sofortige Beschwerde ohne weitergehende eigene Begründung zurückgewiesen. Erst auf die nochmalige Gegenvorstellung des Wahlanwalts ist  man dann eingeschwenkt und hat dann endlich richtig entschieden. Das hätte man auch schneller haben können.

 

 

DNA-Identitätsfeststellung, oder: Wiederholungsgefahr und Beweisverwertungsverbot

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Und im zweiten Posting zwei Entscheidungen des LG Rostock, die mir beide der Kollege Penneke aus Rostok geschickt hat.

Zunächst der schon ältere LG Rostock, Beschl. v. v. 21.03.2016 – 11 KLs 10/16 – mit folgendem Leitsatz.

Die Ergebnisse einer entgegen § 81 f Abs. 1 StPO durchgeführten molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen der Angeklagten unterliegen einem Verwertungsverbot, wenn die molekulargenetische Untersuchung trotz Vorliegens einer entgegenstehenden richterlichen Entscheidung durchgeführt worden ist.

Schon „bemerkenswert“ – „trotz …… einer entgegenstehenden richterlichen Entscheidung“.

Im zweiten LG Rostock-Beschluss, dem LG Rostock, Beschl. v. 24.08.2021 – 11 Qs 97/21 (1) – geht es dann um die Wiederholungsgefahr:

„Der Beschwerdeführer ist zwar mit Urteil des Landgerichts Rostock vom 13.03.2020 rechtskräftig wegen gemeinschaftlich begangenen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Es fehlt jedoch an der nach § 81 g Abs. 1, 4 StPO erforderlichen begründeten Annahme, dass gegen den Beschwerdeführer künftig Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sein werden.

Das Landgericht Rostock hat in seinem Urteil unter anderem ausgeführt: Die schwere Erkrankung des Beschwerdeführers – Leukämie seit Herbst 2017 und in Folge ihrer Behandlung seit 2018 eine Vorstufe von Multipler Sklerose – sowie die Tatsache, dass er nunmehr Opiate auf Rezept erhalte, so dass er die durch den Handel mit Betäubungsmitteln finanzierten Drogen zur Selbsttherapie nicht mehr benötige, legten nahe, dass er sich vom Drogenmillieu gelöst habe. In ihrer Entscheidung geht die Kammer davon aus, dass bereits die Hauptverhandlung nachhaltig auf ihn gewirkt habe und ihn die Verurteilung zu dieser Bewährungsstrafe von der Begehung weiterer – insbesondere vergleichbarer – Straftaten abhalte. Davon abweichende Erkenntnisse sind nicht ersichtlich.“

Durchsuchung II: Keine eigenständige Prüfung, oder: „Beschuldigtenvernehmungsstückwerk“

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Die zweite Entscheidung zur Durchsuchung, der LG Rostock, Beschl. v. 19.01.2021 – 11 Qs 191/20 (1) – ist auch schon etwas älter. Ich habe ihn aber leider erst vor kurzem erhalten.

Die im Beschluss angesprochene Frage spielt in der Praxis immer wieder eine Rolle, nämlich die „eigenverantwortliche Prüfung“ der Voraussetzungen für die Anordnung eines Durchsuchungsbeschlusses, oder anders: Der Ermittlungsrichter darf nicht einfach nur den Antrag auf Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses abschreiben und/oder Angaben aus der Strafanzeige übernehmen, sondern muss eigenständig begründen. Das hat der Ermittlungsrichter hier aber nicht getan. Ergebnis: Das LG hat den Durchsuchungsbeschluss als rechtswidrig angesehen:

„Die Beschwerde vom 5.11.2020 gegen die durch den Vollzug der Durchsuchung am 5.11.2020 erledigte Durchsuchungsanordnung vom 17.9.2020 ist zur Feststellung der Rechtswidrigkeit zulässig (Mey-er-Goßner/Schmitt StPO 2020 Vor § 296 Rdnr. 18f. mwN). Die Beschwerde ist auch begründet.

Die Begründung der Durchsuchungsanordnung entspricht jedenfalls insoweit nicht den gesetzlichen Anforderungen, als die tatsächlichen Umstände, aus denen sich der Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer ergeben soll, nicht aufgeführt sind. Die Angabe der wesentlichen Verdachtsmomente darf aber nur dann unterbleiben, wenn die Bekanntgabe den Untersuchungszweck gefährden würde (BGH NStZ-RR 2009, 142, zit. nach juris). Dafür, dass dies vorliegend der Fall gewesen wäre, ist nichts ersichtlich. Die unzureichende Begründung des Durchsuchungsbeschlusses führt vorliegend zur Rechtswidrigkeit der Durchsuchungsanordnung, da der Beschluss nicht erkennen lässt, dass der Ermittlungsrichter die Voraussetzungen für ihren Erlass eigenständig geprüft hätte (BGH aaO. unter Hinweis auf BVerfG, B. v. 31.8.2007 — 2 BvR 1681/07). Dem Beschwerdegericht ist es in einem solchen Fall versagt, die Konkretisierung der den Akten zu entnehmenden, den Anfangsverdacht begründenden Umstände in seiner Beschwerdeentscheidung nachzuholen (BGH aaO.). Dies ist vorliegend allerdings schon deswegen nicht möglich – und dieser Umstand belegt die fehlende eigenständige Prüfung durch den Ermittlungsrichter -, weil die Beschuldigtenvernehmung der pp. vom 6.7.2020, auf der der Tatverdacht nach der polizeilichen Strafanzeige gründen soll, nicht vollständig, sondern nur abschnittsweise und durch Abdeckungen regelrecht zerstückelt zur Ermittlungsakte gelangt ist und dieses Stückwerk weder dem Ermittlungsrichter noch der Beschwerdekammer die Prüfung ermöglichen konnte bzw. kann, ob dem Gewicht des Eingriffs adäquate Verdachtsgründe vorliegen, die über vage Anhaltspunkte und Vermutungen hinausreichen (vgl. BVerfG StraFo 2006, 450 zit. nach juris), ob also der auf bestimmte tatsächliche Anhaltspunkte gestützte konkrete Verdacht, dass eine Straftat begangen worden ist und der Verdächtige als Täter oder Teilnehmer in Betracht kommt (BGH aaO.), vorliegt. Dass der Beschwerdeführer nach ernsthafter Ansicht des Ermittlungsrichters verdächtig sein soll, „von dem gesondert verfolgten pp. regelmäßig 1 Kilogramm Kokain zum gewinnbringenden Verkauf zu erhalten …“, ist dem überlassenen Beschuldigtenvernehmungsstückwerk gerade nicht zu entnehmen. Ersichtlich hat sich der Ermittlungsrichter darauf beschränkt, ohne eigene Prüfung die Angaben aus der Strafanzeige schlicht zu übernehmen. Dies zieht die Feststellung der Rechtswidrigkeit der prozessualen Maßnahme nach sich.“

Pflichti II: Beiordnungsgründe, oder: Unfähigkeit zur Selbstverteidigung, schwere Rechtsfolge, Beweislage

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Im zweiten „Pflichtverteidigerposting“ dann Beiordnungsgründe, und zwar:

Sowohl der Umstand, dass eine (ausländische) Beschuldigte Analphabetin ist, unter Betreuung steht und bei einem Unterlassungsdelikt (hier: § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, passloser Aufenthalt) wegen psychischer Erkrankung §§ 20, 21 StGB in Betracht kommen erfordern jeweils selbständig eine Bestellung eines Pflichtverteidigers wegen Unfähigkeit zur Selbstverteidigung. Jedenfalls begründet aber ansonsten die erforderliche Gesamtschau der angeführten Umstände die Bestellung.

Bei Einholung eines Sachverständigengutachtens ist nicht in jedem Fall die Beiordnung eines Verteidigers erforderlich. Indes kann eine schwierige Sachlage vorliegen, wenn ein Sachverständigengutachten das entscheidende Beweismittel gegen einen Angeklagten ist.

Zur (verneinten) schwierigen Beweislage.

Hätte man m.E. übrigens auch gut anders entscheiden können. Ausschreitungen bei einem Fußballspiel und dann keine schwierige Beweislage?

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge lässt die Mitwirkung eines Verteidigers nicht geboten erscheinen bei nur einem vergleichsweise geringfügiges Delikt, bei dem auch im Fall der Bildung einer Gesamtstrafe lediglich eine geringfügige, für den Beschuldigten nicht wesentlich ins Gewicht fallende Erhöhung der bereits rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe zu erwarten gewesen wäre.

 

 

StGB III: Rechtsbeugung durch den erkrankten Richter?, oder: Fürsorgepflicht des Dienstherrn

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Und hier dann als letzte Entscheidung noch das LG Rostock, Urt. v. 15.11.2019 – 18 KLs 42/18 (1) -, das schon etwas länger in meinem Blogordner schlummert.

Der Vorwurf, der hier einem pensionierten Richter gemacht wurde: 816 Bußgeldbescheide vorsätzlich nicht bearbeitet und schließlich wegen Verjährung eingestellt zu haben. Das hat dann eine Anklage wegen Rechtsbeugung (§ 339 StGB) gegeben. Von dem Vorwurf ist der Angeklagte aber frei gesprochen worden. Wegen der Einzeheiten der Feststellungen verweise ich auf den eingestellten Volltext.; die kann man hier nicht alle einstellen.

Das LG hat dann frei gesprochen und das wie folgt begründet:

„Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen war der Angeklagte aus tatsächlichen Gründen freizusprechen. Er hat nicht im Sinne des § 339 StGB das Recht gebeugt.

Zwar kann das bewusste Nichtbetreiben von Ordnungswidrigkeitenverfahren grundsätzlich Gegenstand einer Rechtsbeugung sein (1.). Die von der Rechtsprechung an diesen Tatbestand gestellten hohen Anforderungen (2.) waren jedoch nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zur Überzeugung der Kammer nicht erfüllt (3.)

1. Durch das Unterlassen verfahrensfördernder Maßnahmen in den Ordnungswidrigkeitenverfahren, die der Anklage zugrunde liegen, hat der Angeklagte objektiv den Tatbestand der Rechtsbeugung gemäß §§ 339, 13 Abs. 1 StGB erfüllt.

Gemäß § 339 StGB wird ein Richter, welcher sich bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache zugunsten oder zum Nachteil einer Partei einer Beugung des Rechts schuldig macht, mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft. Das Beugen des Rechts, somit die Verletzung des Rechts zum Vorteil oder zum Nachteil einer Seite, kann sowohl durch die Verletzung materiellen Rechts als auch durch die Verletzung prozessualer Normen erfolgen. Hat der Täter Verfahrensrecht durch ein Unterlassen im Sinne des § 13 Abs. 1 StGB verletzt, wird das Tatbestandsmerkmal der Rechtsbeugung in der Regel nur dann als erfüllt angesehen werden können, wenn eine rechtlich eindeutig gebotene Handlung unterblieben ist (BGH, Beschluss vom 14.9.17, Az. 4 StR 274/16, Rn. 21, zit. nach juris). Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn der Richter bewusst gegen eine Vorschrift verstoßen hat, die ein bestimmtes Handeln unabweislich zur Pflicht macht oder wenn er untätig bleibt, obwohl besondere Umstände sofortiges Handeln zwingend gebieten (BGH, Urteil vom 04.09.2001, Az. 5 StR 92/01, Rn. 15, zit. nach juris).

Das bewusste Nichtbetreiben von Ordnungswidrigkeiten ohne jegliche Ansehung der von der Ordnungsbehörde erhobenen Vorwürfe, der Person des Betroffenen und der Beweislage mit der Folge, dass es zum Eintritt der Verfolgungsverjährung kommt, ist für sich genommen grundsätzlich eine schwerwiegende Verletzung des Verfahrensrechts. Ein solches Unterlassen widerspricht den sich aus Art. 20 Abs. 3 GG ergebenden wesentlichen Prinzipien rechtsstaatlichen Handelns und verstößt gegen den gesetzlichen Beschleunigungsgrundsatz, der auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren Anwendung findet (OLG Hamm, Beschluss vom 22.06.2016, Az. 1 Rbs 131/15 Rn. 25, zit. nach juris). Zudem birgt ein solches Unterlassen die erhebliche Gefahr, das Vertrauen des Bürgers in die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen zu zerstören.

Zwar gibt es in zeitlicher Hinsicht im Ordnungswidrigkeitenrecht keine eindeutige Handlungsvorgabe für den Bußgeldrichter für verfahrensleitende Maßnahmen. Jedoch darf er sein Tätigwerden insgesamt nicht bewusst so weit hinausschieben, dass aufgrund des Eintritts der Verfolgungsverjährung keine andere Entscheidung als die Einstellung des Verfahrens mehr in Betracht kommt.

Der Annahme einer solch schwerwiegenden Verletzung des Verfahrensrechts steht der im Recht der Ordnungswidrigkeiten geltende Opportunitätsgrundsatz aus § 47 OWiG nicht entgegen. Diese Vorschrift stellt nicht die Befassung mit dem Verfahren an sich zur Disposition, sondern unterstellt nur die Entscheidung, ob mit Blick auf die Sache die Verfolgung geboten ist, dem pflichtgemäßen Ermessen der Verfolgungsbehörde und des Gerichts. Ein Unterlassen jeder Tätigkeit in einem Verfahren ohne Ansehung der Vorwürfe, der Person des Betroffenen und der Beweislage wird hiervon jedoch gerade nicht erfasst.

Vorliegend hätte der Angeklagte, für den sich eine Rechtspflicht zum Tätigwerden (Garantenstellung) aufgrund seiner dienstlichen Stellung als zuständiger Richter am Amtsgericht ergab, ausgehend von den einschlägigen Personalbedarfsberechnungen, objektiv in der Lage sein müssen, sämtliche ihm zugewiesenen Verfahren ordnungsgemäß zu bearbeiten und zu erledigen. Basierend auf der Grundlage der Pensenberechnung nach Pebb§y war er im Jahr 2013 insgesamt mit einem Pensum von 1,13 belastet, im Jahr 2014 mit 0,98 und im Jahr 2015 mit 1,06. Auch wenn hierdurch der Arbeitskraftanteil von 1,0 im Jahr 2013 und im Jahr 2015 überstiegen wurde, so handelte es sich noch um recht moderate Übersteigungen, die von einem durchschnittlichen Richter hätten bewältigt werden können.

2. Es stellt jedoch nicht jede fehlerhafte Bearbeitung eines Verfahrens, jede unrichtige Rechtsanwendung oder jeder Ermessensfehler eine Beugung des Rechts dar. Die Einordnung der Rechtsbeugung als Verbrechenstatbestand indiziert die Schwere des Unwerturteils und führt in der Regel im Falle der rechtskräftigen Verurteilung kraft Gesetzes zur Beendigung des Richterverhältnisses gemäß § 24 Abs. 1 DRiG. Mit dieser gesetzlichen Zweckbestimmung wäre es nicht zu vereinbaren, jede fehlerhafte Rechtsanwendung in den Schutzbereich der Norm einzubeziehen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfasst § 339 StGB deshalb nur den Rechtsbruch als elementaren Verstoß gegen die Rechtspflege, bei dem sich der Amtsträger bewusst in schwerwiegender Weise zugunsten oder zum Nachteil einer Partei von Recht und Gesetz entfernt und sein Handeln als Organ des Staates statt an Recht und Gesetz an seinen eigenen Maßstäben ausrichtet. Insoweit enthält das Tatbestandsmerkmal der Rechtsbeugung ein normatives Element, dem die Funktion eines wesentlichen Regulativs zukommt. Ob ein elementarer Rechtsverstoß vorliegt, ist auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 15.08.2018, Az. 2 StR 474/17, Rn. 20; BGH, Urteil vom 13.05.2015, Az. 3 StR 498/14, Rn.12, BGH Beschluss vom 14.09.2017, Az. 4 StR 274/16, Rn. 19 m.w.N., jeweils zit. nach juris).

Bei der Entscheidung darüber, ob in der verzögerten Bearbeitung einer Rechtssache eine Beugung des Rechts im vorstehenden Sinn liegt, ist zudem in Betracht zu ziehen, dass dem Richter ein Unterlassen – und hierum handelt es sich bei einem „Liegenlassen“ von Akten – nur dann vorwerfbar ist, wenn ihm die verlangte Handlung nach den tatsächlichen Umständen des Einzelfalls möglich und zumutbar gewesen ist (OLG Koblenz, Urteil vom 02.02.2005, Az. 1 Ss 301/14, Rn. 20 m.w.N., zit. nach juris). Der Pflicht eines Beamten, die ihm übertragenen Aufgaben zu erledigen, ist durch seine Arbeitsfähigkeit Grenzen gesetzt; er ist nicht verpflichtet, über seine Leistungsfähigkeit hinaus zu arbeiten, wobei die Leistungsgrenze nicht nur durch äußere, sondern auch durch innere Faktoren – wie körperliche und intellektuelle Fähigkeiten – determiniert wird.

3. Ausgehend von diesen Grundsätzen liegt zur Überzeugung der Kammer keine elementare Rechtsverletzung vor. Zwar verjährte durch die Untätigkeit des Angeklagten eine Vielzahl von Ordnungswidrigkeitenverfahren. Die verlangte Handlung, eine Bearbeitung sämtlicher im Dezernat eingehender Verfahren vor Eintritt der Verjährung, war dem Angeklagten subjektiv jedoch nicht möglich. Der Angeklagte genügte aufgrund seiner individuellen Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale nicht den Anforderungen, die an einen Richter zu stellen sind.

Grundsätzlich kann von jedem durchschnittlichen Richter erwartet werden, dass er ein Pensum bewältigt, welches seinem Arbeitskraftanteil entspricht. Diesen Anforderungen genügte der Angeklagte spätestens ab dem Jahr 2004 nicht mehr. Er wurde trotz eines Arbeitskraftanteils von 1,0 in der Zeit von 2004 bis Ende 2010 lediglich mit einem Dezernat betraut, welches einem Arbeitskraftanteil von 0,5 bis 0,75 entsprach. Zur „Schadensbegrenzung“ wurde er zudem nur im überschaubaren Tätigkeitsfeld der Ordnungswidrigkeiten eingesetzt.

Die Kammer vermochte nicht festzustellen, ob die bereits zu diesem frühen Zeitpunkt vorhandene reduzierte Arbeitsfähigkeit des Angeklagten auf seine beschränkten individuellen Fähigkeiten oder auf seine mangelnde Bereitschaft, sich mit vollem persönlichem Einsatz seinem Beruf zu widmen, zurückzuführen ist.

Im Jahr 2008 erkrankte der Angeklagte sodann an einer rezidivierenden depressiven Störung. Diese Erkrankung führte ausweislich der ärztlichen Stellungnahmen dazu, dass der ohnehin unterdurchschnittlich leistungsfähige Angeklagte spätestens ab dem Jahr 2013 nach einem weiteren Krankheitsschub noch stärker in seiner Leistungsfähigkeit gemindert war. Die Kammer sieht sich außerstande festzustellen, welcher der nunmehr drei Faktoren (fehlende Leistungsbereitschaft, mangelnde individuelle Fähigkeiten, krankheitsbedingte Leistungseinschränkung) im Tatzeitraum ursächlich für die weit unterdurchschnittliche Leistungs- und Arbeitsfähigkeit des Angeklagten war.

Eine elementare Rechtsverletzung könnte jedoch nur dann angenommen werden, wenn der dominierende Faktor für die weit unterdurchschnittliche Einsatzfähigkeit die fehlende Leistungsbereitschaft des Angeklagten war. Nur in diesem Fall läge ein dem Angeklagten vorwerfbares Verhalten vor. Hingegen sind seine fehlenden beziehungsweise unzureichenden individuellen Voraussetzungen und Fähigkeiten dem Angeklagten nicht vorzuwerfen, da er sodann lediglich im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten tätig werden konnte. Auch eine Erkrankung mit einer daraus folgenden reduzierten Leistungsfähigkeit ist dem Angeklagten nicht strafrechtlich vorwerfbar.

Eine Feststellung des dominierenden Faktors lässt sich jedoch, wie ausgeführt, weder für den Zeitraum, in dem der Angeklagte gesund war und erst recht nicht für den Tatzeitraum, in dem noch eine krankheitsbedingte Leistungsminderung hinzutrat, treffen.

Dem Gericht ist bewusst, dass aufgrund der schwierigen Persönlichkeit des Angeklagten bei den Kollegen im Gericht und bei der Staatsanwaltschaft durchaus der Eindruck entstanden sein kann, der Angeklagte sei lediglich zu faul und wolle schlicht die ihm übertragenen Aufgaben nicht erledigen, um mehr Freizeit zu haben. Aus dem Auftreten des Angeklagten lassen sich jedoch keine Rückschlüsse auf die Ursächlichkeit der Leistungsminderung ziehen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen ist der Angeklagte eine sehr unsichere Person, die zwanghaft versucht, eine gesunde Fassade aufrechtzuhalten. Die Kammer kann nicht ausschließen, dass der Angeklagte durch sein teils arrogantes und überhebliches Verhalten versuchte, eigene Unzulänglichkeiten zu überspielen und so möglicherweise fehlerhafte Einschätzungen bei seinen Mitmenschen provozierte.

Dem Angeklagten ist auch nicht vorzuwerfen, dass er dem Dienstherrn gegenüber seine Erkrankung nicht offenlegte beziehungsweise ihre Offenbarwerdung durch Nichtentbinden der ihn behandelnden Ärzte von deren Schweigepflicht zu verhindern suchte. Da sich der Angeklagte, wie der Sachverständige ausführte, selbst seine Erkrankung nicht eingestand, war er auch nicht in der Lage, dies gegenüber Dritten zu tun. Vielmehr versuchte er über lange Jahre, einen gesunden Anschein zu erwecken. Selbst in der Hauptverhandlung und gegenüber dem ihn untersuchenden Sachverständigen sah er sich selbst als einen gesunden Menschen an.

Dem Angeklagten ist letztlich auch kein Wille zur Tatbestandsverwirklichung nachzuweisen. Allein aus dem Umstand der unterlassenen Aktenbearbeitung kann ein solcher Vorsatz nicht geschlossen werden. Der Angeklagte war nach dem von der Kammer aus der Hauptverhandlung gewonnenen Eindruck, den der Zeuge K. und der Sachverständige Dr. S. bestätigten, fest davon überzeugt, überlastet zu sein und wusste sich in dieser Situation nicht anderweitig zu behelfen. Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte mit der Einstellung eine Bestrafung oder Disziplinierung der Betroffenen der Ordnungswidrigkeiten beabsichtigte, liegen nicht vor. Es ist auch nicht ersichtlich, dass es dem Angeklagten bei dem „Liegenlassen“ der Akten allein auf seine Freizeit angekommen ist. Hierfür hätte die fehlende Leistungsbereitschaft der die Handlungen des Angeklagten dominierende Faktor sein müssen. Eine solche Feststellung konnte die Kammer jedoch, wie oben ausgeführt, gerade nicht treffen.

Abschließend spricht gegen eine Bewertung des gesamten Tatvorwurfs als einen elementaren Verstoß gegen die Rechtsordnung auch der Umstand, dass der Dienstherr des Angeklagten spätestens mit der Übersendung des amtsärztlichen Gutachtens vom 06. Februar 2013, in dem die depressive Erkrankung des Angeklagten mitgeteilt wurde, über sämtliche oben aufgeführten leistungsmindernden Faktoren beim Angeklagten informiert war. Dennoch wurde auf die zahlreichen Überlastungsanzeigen des Angeklagten nur mit dem Verweis auf eine objektiv nicht existente Überlastung reagiert. Dem Präsidium des Amtsgerichts G. selbst war es aufgrund der Personal- und Belastungssituation nicht möglich, den Angeklagten geringer zu belasten. Entlastende Maßnahmen hätten jedoch durch den Dienstherrn getroffen beziehungsweise veranlasst werden können. Auch wenn für die fehlende Bereitschaft zur Entlastung die schwierige Persönlichkeit des Angeklagten mitursächlich gewesen sein dürfte, so war doch allen Beteiligten deutlich bewusst, dass der Angeklagte nicht in der Lage war, ein volles Dezernat erfolgreich zu bewältigen. Das Scheitern des Angeklagten hat der Dienstherr damit sehenden Auges in Kauf genommen.“