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Beweiswürdigung II: Aussage-gegen-Aussage-Thema, oder: Der Hauptbelastungszeuge ist zum Teil „gekippt“

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Bei dem zweiten Beschluss handelt es sich ebenfalls um eine Entscheidung zur „Aussage-gegen-Aussage-Thematik“, und zwar noch einmal in Zusammenhnag mit einer Verurteilung wegen Vergewaltigung. Auch hier hatte die Revision des Angeklagten Erfolg. Der BGh hat das LG-Urteil im BGH, Beschl. v. 12.08.2021 – 1 StR 162/21 – wegen eines Beweiswürdigungsfehlers aufgehoben, übrigens schon das zweite Mal (vgl. BGH, Beschl. v. 18.03.2020 – 1 StR 67/20):

„1. Der neben dem rechtskräftigen Teilfreispruch vom Vorwurf einer Vergewaltigung am 16. August 2018 ergangene Schuldspruch wegen Vergewaltigung (Geschehen am 15. August 2018) wird von der Beweiswürdigung nicht getragen.

a) Das Landgericht hat sich die Überzeugung von der Tatbegehung durch den Angeklagten am Abend des 15. August 2018 ‒ einer Vergewaltigung seiner Ehefrau, der Nebenklägerin, im Wohnzimmer der gemeinsamen Wohnung (erster Tatkomplex) ‒ allein aufgrund der Angaben der Nebenklägerin im Ermittlungsverfahren und deren Verhaltens in der Hauptverhandlung des zweiten Rechtsgangs gebildet. Dies bildet hier keine ausreichende Grundlage für eine Verurteilung des Angeklagten.

aa) Steht Aussage gegen Aussage und hängt damit die Entscheidung allein davon ab, welcher Aussage das Gericht Glauben schenkt, müssen die Urteilsgründe für das Revisionsgericht nachvollziehbar erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 17. November 1998 ‒ 1 StR 450/98 Rn. 18, BGHSt 44, 256, 257 ; Beschluss vom 5. November 1997 ‒ 3 StR 558/97 Rn. 2 mwN, BGHR StGB § 176 Abs. 1 Beweiswürdigung 3 ). Es bedarf insoweit ‒ dies hat auch das Landgericht nicht verkannt ‒ einer besonders sorgfältigen Würdigung der Aussage des Belastungszeugen, insbesondere einer genauen Inhaltsanalyse, einer Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage, einer Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs sowie einer Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 13. Oktober 2020 ‒ 1 StR 299/20 Rn. 8; Beschluss vom 19. Mai 2020 ‒ 2 StR 7/20 Rn. 4 mwN; vgl. dazu auch Schluckebier in SSW-StPO, 4. Aufl., § 261 Rn. 39).

Hält der einzige Belastungszeuge in der Hauptverhandlung seine ursprünglich erhobenen Vorwürfe zumindest teilweise nicht aufrecht, so dass insoweit ein Freispruch ergeht, ist das Tatgericht zwar nicht von vornherein gehindert, seine Überzeugung auf den aufrechterhaltenen Teil der Aussage des Zeugen zu stützen; regelmäßig müssen aber in einem solchen Fall ‒ insbesondere, wenn eine bewusst falsche Aussage nicht ausgeschlossen werden kann ‒ außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe festgestellt werden, wenn das Tatgericht der Aussage im Übrigen folgen will ( BGH, Urteile vom 23. Mai 2006 ‒ 5 StR 62/06 Rn. 10; vom 13. Januar 2005 ‒ 4 StR 422/04 Rn. 20; vom 29. Juli 1998 ‒ 1 StR 94/98 Rn. 15, BGHSt 44, 153, 159 und vom 17. November 1998 ‒ 1 StR 450/98 Rn. 18, BGHSt 44, 256, 257 ; Beschluss vom 27. November 2017 ‒ 5 StR 520/17 Rn. 6 mwN; vgl. auch Schluckebier in SSW-StPO, aaO; Sander in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 261 Rn. 83c). Derartige „Außenkriterien“ sind für eine tragfähige Beweiswürdigung erforderlich, weil die Glaubhaftigkeit der Angaben des Zeugen in einem solchen Fall insgesamt schwerwiegend in Frage gestellt ist (Schluckebier in SSW-StPO aaO; Sander in Löwe/Rosenberg aaO). Dies gilt auch dann, wenn die Abweichung zwischen der Aussage in der Hauptverhandlung und derjenigen im Ermittlungsverfahren besteht; denn auch in einem solchen Fall ist die Glaubhaftigkeit der Angaben des Zeugen im Regelfall erschüttert.

bb) An diesen Maßgaben gemessen hätte das Landgericht hier eine Überzeugung nur dann auf die Aussage der Nebenklägerin stützen dürfen, wenn es außerhalb ihrer Aussage liegende Umstände, die den Tatvorwurf bestätigen, festgestellt hätte. Denn die Nebenklägerin hat, nachdem sie sich im ersten Rechtsgang auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen und ihr Einverständnis mit der Verwertung ihrer den Angeklagten hinsichtlich beider angeklagter Taten belastenden Angaben erklärt hatte, im zweiten Rechtsgang mitgeteilt, dass ihr das landgerichtliche Urteil des ersten Rechtsgangs am Vortag erstmals übersetzt worden sei und sie in diesem Zuge erkannt habe, dass der darin vom Landgericht ausgeurteilte Tatvorwurf einer Vergewaltigung am 16. August 2018 nicht zutreffe; tatsächlich habe der Angeklagte von seinem an diesem Tag geäußerten Ansinnen, Geschlechtsverkehr mit ihr ausüben zu wollen, Abstand genommen, nachdem sie ihren entgegenstehenden Willen deutlich zum Ausdruck gebracht habe. Auf Frage der Strafkammer, wie die anderslautenden Angaben im Ermittlungsverfahren zu den Geschehnissen am 16. August 2018 zu erklären seien, teilte die Nebenklägerin mit, dass sie möglicherweise die Ereignisse „durcheinander-gebracht“ beziehungsweise Details „mit früheren Erlebnissen verwechselt“ habe (UA S. 25).

Hinsichtlich des ersten Tatvorwurfs hat die Nebenklägerin demgegenüber zu verstehen gegeben, dass dieser zutreffe. Dies schließt die Strafkammer allerdings allein aus folgendem Umstand: Während die Nebenklägerin zu dem Vorgeschehen der Tat am 15. August 2018 Angaben gemacht hat, die mit denjenigen im Ermittlungsverfahren in Einklang standen, hat sie den eigentlichen Vergewaltigungsvorgang am 15. August 2018 nicht mehr geschildert. Sie „öffnete“ nur noch „mehrfach den Mund, um etwas zu sagen“ (UA S. 40), brachte aber nichts heraus und erklärte ‒ nach dem Eindruck der Strafkammer ersichtlich emotional aufgewühlt ‒, über die Sache nicht noch einmal reden zu können, weil sie so schlimm für sie sei.

Eine plausible Begründung für den „Bruch in der Konstanz der Angaben der Nebenklägerin“ (UA S. 35) hat die Kammer nicht finden können. Auf den nicht widerrufenen Teil der von der Nebenklägerin ursprünglich gegen den Angeklagten erhobenen Beschuldigungen hätte das Landgericht eine Verurteilung daher nur stützen dürfen, wenn es weitere außerhalb ihrer Aussage liegende gewichtige Gründe angeführt hätte, die für den Wahrheitsgehalt der polizeilichen Aussage der Nebenklägerin hierzu sprechen. Derartige Gründe hat die Strafkammer indes nicht festgestellt. Tragfähige Gründe, welche die Richtigkeit der Angaben der Nebenklägerin stützen könnten, liegen insbesondere nicht darin, dass das Landgericht die Einlassung des Angeklagten für in Teilen unplausibel und daher unwahr gehalten hat. Ebenso wenig ergeben sich derartige Gründe aus der Erwägung des Landgerichts, dass die Nebenklägerin keinen Grund gehabt habe, ihre bisherigen Angaben zum zweiten Tatvorwurf in Kenntnis der mit einem solchen Aussageverhalten verbundenen Risiken eigener Strafverfolgung einerseits und eines vollständigen Freispruchs des Angeklagten andererseits zu revidieren, an denjenigen zum ersten Tatvorwurf indes festzuhalten, wenn die Angaben insgesamt unwahr gewesen wären. Dies gilt insbesondere deshalb, weil das Landgericht mangels nachvollziehbaren Grundes für die vollständige Abkehr der Nebenklägerin von ihren Aussagen zum Kernbereich des zweiten Tatkomplexes im Ermittlungsverfahren nicht einmal ausschließen konnte, dass die Nebenklägerin zum zweiten Vergewaltigungsvorwurf im Ermittlungsverfahren bewusst gelogen hat.

Nicht tragfähig ist weiter, dass das Landgericht seine Überzeugung auf den persönlichen Eindruck von der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung gestützt und daneben maßgeblich darauf abgestellt hat, dass ein Falschbelastungsmotiv der Nebenklägerin nicht erkennbar sei und deren Aussageverhalten in der Gesamtbetrachtung dafür spreche, dass sich das Geschehen am 15. August 2018 so zugetragen habe, wie von ihr im Ermittlungsverfahren geschildert. Denn die Erwägungen zum Fehlen eines Falschbelastungsmotivs der Nebenklägerin und weitere vom Landgericht im Rahmen der Aussageanalyse angeführte Gesichtspunkte, wie etwa die Aussagegenese, der Detailreichtum der Aussagen oder die Schilderung eigener Gefühle durch die Nebenklägerin, galten gleichermaßen für die frühere ‒ von der Nebenklägerin im zweiten Rechtsgang revidierte ‒ Darstellung des Geschehens am 16. August 2018 (zweiter ‒ freigesprochener ‒ Tatkomplex). Insoweit hat die Nebenklägerin aber gerade eingeräumt, dass dieser Tatvorwurf nicht der Wahrheit entspricht. Es fehlt mithin an einer tragfähigen Grundlage für eine Verurteilung.“

Beweiswürdigungsentscheidungen haben immer ein wenig viel Text 🙂 .

Akteneinsicht I, oder: Keine Akteneinsicht bei Aussage-gegen-Aussage-Konstellation

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Heute dann mal ein Akteneinsichtstag, allerdings ohne den straßenverkehrsrechtlichen Dauerbrenner „Einsicht in Messdaten“ pp. Dazu habe ich zwar einiges in meinem Blogordner hängen, das bringe ich dann aber in den nächsten Tagen mal in einer Übersicht gesammelt. Nein, heute gibt es zunächst nur Entscheidungen zur Akteneinsicht des Verletzten und/oder Dritter.

Und den Reigen eröffne ich mit dem AG Krefeld, Beschl. v. 25.07.2017 – 24 Ls-3 Js 897/16-19/17. Thema: Zur Versagung von Akteneinsicht an den Nebenkläger gemäß § 406e Abs. 2 S. 2 StPO wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks bei Bestehen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation, den mir der Kollege P. Vogt aus Dusiburg übersandt hat.

Mit der Anklage ist dem Angeklagten zur Last gelegt worden, die Zeugin und Nebenklägerin mit Gewalt und unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert war, genötigt zu haben, sexuelle Handlungen des  Angeklagaten an sich zu dulden, wobei der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzog. Das AG hat für die Nebenklägerin weitere Akteneinsicht versagt:

„Eine weitergehende Akteneinsicht war gemäß § 406e Abs. 2 S. 2 StPO wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks zum derzeitigen Zeitpunkt des Verfahrens abzulehnen.

Zum derzeitigen Zeitpunkt besteht eine Konstellation Aussage gegen Aussage.

Über das Protokoll der polizeilichen Vernehmung der Nebenklägerin finden sich in der Akte Vernehmungen des Zeugen pp.  sowie der Zeuginnen pp. und pp.

Bei den Zeugen handelt es sich um so genannte Erstaussageempfänger. Darüber hinaus findet sich in der Akte Whats-App-Verkehr zwischen der Zeugin und dem Beschuldigten.

Eine weitergehende Akteneinsicht war gemäß § 406 Abs. 2 S. 2 StPO zu versagen, da der Untersuchungszweck des Verfahrens gefährdet erscheint.

Der Untersuchungszweck im Sinne dieses gesetzlichen Versagungsgrundes ist gefährdet, wenn durch die Aktenkenntnis des Verletzten eine Beeinträchtigung der gerichtlichen Sachaufklärung (§ 244 Abs. 2 StPO) zu besorgen ist. Zwar steht dem mit der Sache befassten Gericht ein weiter Entscheidungsspielraum zu. Die durch das Akteneinsichtsrecht des Verletzten stets begründete Gefahr einer anhand des Akteninhalts präparierten Zeugenaussage reicht für sich alleine zur Versagung der Akteneinsicht nicht aus. Vielmehr ist für die Frage der Gefährdung des Untersuchungszwecks eine Würdigung der Verfahrens- und Rechtslage im Einzelfall vorzunehmen.

Im vorliegenden Fall führt die Reduzierung des gerichtlichen Ermessens auf Null zu einer weitergehenden Versagung der begehrten Akteneinsicht. Eine umfassende Einsicht in die Verfahrensakten ist dem Verletzten in aller Regel in solchen Konstellationen zu versagen, in denen seine Angaben zum Kerngeschehen von der Einlassung des Angeklagten abweichen und eine Aussage-gegen Aussage-Konstellation vorliegt.

Diese Beweiskonstellation erfährt ihr Gepräge durch eine Abweichung der Tatschilderung des Zeugen von der eines Angeklagten, ohne dass ergänzend auf weitere unmittelbare tatbezogene Beweismittel, etwa belastende Indizien mit Zeugenaussagen über Geräusche oder Verletzungsbilder zurückgegriffen werden kann. Diese Verfahrenskonstellation ist auch gegeben, wenn der Angeklagte selbst keine eigenen Angaben zum Tatvorwurf macht, sondern sich durch Schweigen verteidigt.

So liegt es hier. In beiden Fällen ist das gerichtliche Ermessen grundsätzlich auf Null reduziert, da eine unbeschränkte Akteneinsicht der der Nebenklägerin mit der gerichtlichen Pflicht zur bestmöglichen Sachaufklärung unvereinbar ist.

Entscheidend bei der Beweiswürdigung bei einer solchen Aussage gegen Aussagekonstellation ist die inhaltliche Konstanz aufeinander folgender Vernehmungen derselben Zeugin sowie Realkennzeichen, die eine erlebnisbasierte Aussage ausmachen Erhält die einzige Belastungszeugin im Rahmen einer Aussage-gegen Aussage-Konstellation nahe liegend vermittelt über ihren Beistand (§ 397a StPO) Kenntnis von Inhalten ihrer früherer Vernehmungen oder aber auch von etwaigen Widersprüchen in den Angaben der Erstaussagempfänger so wäre bei umfassender Aktenkenntnis eine Anpassung des Aussageverhaltens der einzigen Belastungszeugin an die jeweils aktuelle Verfahrenslagen nicht auszuschließen. Dies würde unter einer umfassenden Sachverhaltsaufklärung gemäß § 244 Abs. 2 StPO zuwiderlaufen für (vgl. Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg 1 Ws 120/14 vom 24.11.2014; 1 Ws 110/14 vom 24.10.2014).“