Die zweite Entscheidung, die ich vorstelle, kommt aus Bayern. Das BayObLG hat im BayObLG, Beschl. v. 12.09.2024 – 201 ObOWi 837/24 – zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Verweigerung der Aufnahme der Rechtsbeschwerdebegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle Stellung genommen. Ergangen ist die Entscheidung in einem Bußgeldverfahren, sie hat aber in allen Fällen Bedeutung, in denen ein Rechtsmittel zu Protokoll der Geschäftsstelle begründet werden kann, also auch im Strafverfahren.
Das AG hatte den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Der Betroffene hat gegen das in seiner Anwesenheit verkündete Urteil form- und fristgerecht Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gestellt. Das vollständige Urteil wurde ihm am 10.01.2024 zugestellt. Am Rosenmontag, den 12.02.2024 hat das AG den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gemäß § 346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen, da das Rechtsmittel nicht innerhalb der Monatsfrist begründet worden sei. Gegen diesen Beschluss hat der Betroffene die Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Das BayObLG hat dem Betroffenen Wiedereinsetzung gewährt, seinen Zulassungsantrag aber verworfen:
„Dem Betroffenen ist auf seinen Antrag hin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde zu bewilligen (§ 44 Satz 1 StPO, § 46 Abs. 1 OWiG), da er ohne eigenes Verschulden an der Nichteinhaltung der Frist gehindert war.
1. Nach dem Vortrag des Betroffenen, welcher ausreichend glaubhaft gemacht wurde (§ 45 Abs. 2 Satz 1 StPO, § 46 Abs. 1 OWiG), ist von folgendem Sachverhalt auszugehen:
Das Amtsgericht hatte sowohl im Internet als auch durch ein Schild am Eingang des Gerichts die Sprechzeiten der Geschäftsstelle mit 8:00 Uhr bis 12:00 Uhr angegeben. Am 12.02.2024, dem letzten Tag der Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, um 11:49 Uhr war der Betroffene bei Gericht erschienen, um seinen Antrag zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts zu begründen. Dort teilte man ihm mit, dass die zuständige Stelle nur bis 11:30 Uhr geöffnet hatte. Ein Bediensteter erklärte um 11:54 Uhr nochmals ausdrücklich, die Begründung des Betroffenen werde heute nicht mehr protokolliert, da die Geschäftsstelle geschlossen habe. Der Betroffene solle am nächsten Tag wiederkommen. Eine Protokollierung der Antragsbegründung des Betroffenen am 12.02.2024 erfolgte deshalb nicht.
2. Der form- und fristgerecht (§ 45 Abs. 1 StPO; § 46 Abs. 1 OWiG) zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts gestellte Wiedereinsetzungsantrag des Betroffenen führt zur Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in die versäumte Frist zur formgerechten Begründung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil vom 14.12.2023.
Die verspätete Begründung beruhte auf einem Justizverschulden, weil das Amtsgericht deren fristgerechte Aufnahme zu Unrecht abgelehnt hatte. In einem solchen Fall ist dem Betroffenen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (Meyer Goßner/Schmitt StPO 67. Aufl. § 345 Rn. 22 m.w.N).
a) Art. 19 Abs. 4 GG garantiert die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes. Davon umfasst ist zum einen das formelle Recht, überhaupt Gerichte einschalten zu können. Zum anderen ist die Effektivität des Rechtsschutzes und der gerichtlichen Kontrolle selbst Teil des Gewährleistungsgehalts des Art. 19 Abs. 4 GG (st. Rspr. vgl. nur BVerfGE 35, 263, 274; 40, 272, 275; 67, 43, 58; 84, 34, 49). Auch der Anspruch eines Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist berührt. Der Zugang zu einer gerichtlichen Entscheidung in der Sache darf daher – vorbehaltlich verfassungsunmittelbarer Schranken – in keinem Fall ausgeschlossen, faktisch unmöglich gemacht oder in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (BVerfGE 40, 272, 174; 44, 302, 305). Zulässig ist es lediglich, den Zugang zu den Gerichten von der Erfüllung formeller Voraussetzungen, insbesondere von der Einhaltung bestimmter Fristen, abhängig zu machen (BVerfGE 9, 194, 199; 10, 264, 267). Die Anforderungen, die an den Rechtsschutzsuchenden dabei gestellt werden, dürfen nicht überspannt werden (BVerfGE 25, 158, 166; 26, 315, 318; 31, 388, 390). Prozessuale Fristen dürfen deshalb bis zu ihrer Grenze ausgenutzt werden (BVerfGE 40, 42, 44; 41, 323, 328; 52, 203, 207; 69, 381, 385). Dass ein Betroffener bis zum letzten Tag der Frist abwartet, ehe er eine fristgebundene prozessrechtliche Erklärung abgibt, kann ihm daher grundsätzlich nicht vorgeworfen werden. Lediglich dann, wenn ihm hinsichtlich der Fristversäumnis ein Verschulden zur Last liegt, kann ihm diese vorgehalten werden, mit der Folge, dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verweigert werden kann. Er hat beispielsweise den Aufwand zu kalkulieren, der zeitlich und organisatorisch erforderlich ist, damit die Rechtsmittelerklärung in der gesetzlich vorgeschriebenen Form innerhalb der Frist gegenüber der zuständigen Stelle abgegeben wird (st. Rspr. vgl. zuletzt BVerfG, Kammerbeschl. v. 14.02.2023 – 2 BvR 653/20 bei juris = NStZ-RR 2023, 145; BayObLG, Beschl. v. 05.06.2024 – 204 StObWs 223/24 bei juris = NStZ-RR 2024, 296). Das Recht eines Rechtsmittelführers, ein Rechtsmittel zu Protokoll der Geschäftsstelle zu begründen, besteht wiederum nur innerhalb der normalen Dienststunden, wobei der Betroffene den begrenzten personellen Möglichkeiten der Justiz Rechnung zu tragen hat (BGH, Beschl. V. 06.03.1995 – 2 StR 683/95 bei juris = NStZ 1996, 353 = BGHR StPO § 44 Verfahrensrüge 9 = StV 1997, 230). In diesem Zusammenhang kann er nicht erwarten, dass der Rechtspfleger während seiner gesamten Dienststunden für die Prüfung der Rechtsmittelbegründung zur Verfügung steht. Zu berücksichtigen bleibt insoweit das Interesse der Allgemeinheit an der Gewährleistung einer funktionstüchtigen, nicht allein auf eine Person fokussierten Rechtspflege (BGH, Beschl. v. 27.11.2008 – 5 StR 496/08 bei juris = NStZ 2009, 585 = StraFo 2009, 23). Auch besteht kein Anspruch darauf, dass bei später Antragstellung allein wegen des bevorstehenden Fristablaufs überobligatorische Tätigkeiten außerhalb des normalen Geschäftsganges entfaltet werden, um die Einhaltung von Fristen zu gewährleisten. Die gesetzlich vorgeschriebene Rechtsmittelfrist beinhaltet nämlich keine reine Bedenkzeit, sondern umfasst zugleich die Zeitspanne, die dem Betroffenen je nach den Umständen zur Erledigung des rein technischen Vorgangs der Rechtsmitteleinlegung und -begründung verbleibt. Es wird deshalb von einem Betroffenen erwartet, dass er seinerseits alles ihm Zumutbare veranlasst, um die rechtzeitige Protokollierung des Rechtsmittels sicherzustellen (OLG Hamm, Beschl. v. 28.05.2015 – 1 Vollz (Ws) 248/15 bei juris = NStZ-RR 2015, 327).
b) Dies zugrunde gelegt haben die Justizbehörden zu Unrecht die rechtzeitige Aufnahme der Rechtsmittelbegründung des Betroffenen am 12.02.2024 verweigert, ohne dass diesen ein Verschulden daran träfe, dass er erst am letzten Tag der First 11 Minuten vor Ende der veröffentlichten Sprechzeit der Geschäftsstelle erschienen war.
aa) Angesichts der öffentlich bekannt gemachten Sprechzeiten der Geschäftsstelle des Amtsgerichts, in denen nicht auf die Möglichkeit einer Verkürzung hingewiesen worden war, stellte es ein Justizverschulden dar, die Geschäftsstelle vorzeitig und ohne Ankündigung zu schließen. Auf die veröffentlichten Dienstzeiten durfte die rechtsuchende Bevölkerung vertrauen. Der Betroffene war deshalb nicht verpflichtet, sich vorsichtshalber noch einmal nach ihnen zu erkundigen. Indem diese verkürzt wurden, wurde der Zugang Rechtssuchender zu einer gerichtlichen Sachentscheidung in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise eingeschränkt.
bb) Ein Verschulden des Betroffenen kann auch nicht aus dem Umstand hergeleitet werden, dass die Schließung der Geschäftsstelle und die Weigerung der Protokollierung der Rechtsmittelbegründung durch den Umstand veranlasst waren, dass die zuständigen Bediensteten befürchteten, eine solche werde erst nach 12:00 Uhr und damit zu einem Zeitpunkt abgeschlossen werden können, der außerhalb der öffentlich bekannt gemachten Sprechzeiten der Geschäftsstelle lag. Hierauf musste sich der Betroffene nicht einstellen, was den Zeitpunkt seines Erscheinens betraf.
Zum einen wollte der Betroffene lediglich die allgemeine Sachrüge erheben und insbesondere das Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung geltend machen. Anders als in den höchstrichterlich (BGH NStZ 1996, 353; 2009, 585) entschiedenen Fällen waren vorliegend gerade keine komplexen Verfahrensrügen zu protokollieren. Dafür, dass die Aufnahme einer einfach gelagerten Erklärung nicht binnen weniger Minuten möglich gewesen wäre, bestehen bereits keine Anhaltspunkte.
Zum anderen hätte es dem Rechtspfleger des Amtsgerichts oblegen, die die Sachrüge beinhaltende Rechtsmittelbegründung des Betroffenen auch dann zu protokollieren, wenn absehbar gewesen wäre, dass er den Vorgang nicht bis exakt 12:00 Uhr würde abschließen können. In einem Fall in welchem der verfassungsrechtlich verbürgte Justizgewährleistungsanspruch des Staates einerseits und der Wunsch des zuständigen Rechtspflegers an der pünktlichen Einhaltung seiner Dienstzeit andererseits inmitten stehen, führt die Abwägung der gegenläufigen Interessen zu dem Ergebnis, dass dem Rechtspfleger die Aufnahme einer Erklärung auch dann zumutbar ist, wenn dies mit einer geringfügigen Verlängerung seiner Arbeitszeit an dem konkreten Tag verbunden wäre. Anders als in dem vom OLG Hamm (a.a.O.) entschiedenen Fall wäre vom Rechtspfleger gerade keine überobligatorische Tätigkeit außerhalb des normalen Geschäftsganges erwartet worden, sondern lediglich eine überschaubare Dienstzeitüberschreitung inmitten gestanden. Insoweit besagt die Entscheidung gerade nicht, dass die Justizbehörden zu keinerlei Überschreitung der Dienstzeit verpflichtet sind, um den Rechtsschutz rechtsuchender Personen zu gewährleisten. Vielmehr handelt es um eine Frage der Zumutbarkeit staatlichen Verhaltens im Einzelfall. In diesem Zusammenhang mag es bei wertender Betrachtung unzumutbar erscheinen, vom Rechtspfleger zu verlangen, sich zur Protokollierung einer fristgebundenen Erklärung in eine weit entfernte Justizvollzugsanstalt begeben zu müssen oder neben der Sachrüge komplexe Verfahrensrügen zu formulieren, die eine intensive Einarbeitung in den Fall erfordern. So liegt der Fall jedoch nicht. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass der Zugang zum Rechtsschutz lediglich von der Formulierung einer einfachen Sachrüge abhängig war. Weder im Hinblick auf die Arbeitsfähigkeit der Justiz noch im Hinblick auf die finanziellen Interessen des Staates wegen eventuell anfallenden Überstunden oder persönliche Interessen der Bediensteten an einem pünktlichen Dienstschluss war im vorliegenden Fall die Aufnahme der Rechtsmittelbegründung des Betroffenen unzumutbar.“
Abgesehen davon: Man scheint es bei dem betroffenen AG eh besonders eilig gehabt zu haben. Denn das AG hat den Zulassungsantrag des Betroffenen nämlich noch vor Ablauf der Begründungsfrist verworfen. Das Urteil vom 14.12.2023 war dem Betroffenen am 10.01.2024 zugestellt worden. Gemäß § 345 Abs. 1 StPO i.V.m. § 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG beträgt die Begründungsfrist einen Monat nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels (§ 345 Abs. 1 Satz 1 StPO). Damit begann die Begründungsfrist nach Zustellung des Beschlusses am 10.1.2024 zu laufen und endete, da es sich beim 10.02.2024 um einen Samstag handelte, gemäß § 43 Abs. 2 StPO erst mit Ablauf des folgenden Montags, mithin am 12.02.2024. An dem Tag ist aber der Zulassungsantrag bereits verworfen worden. Das BayObLG hat nach Gewährung von Wiedereinsetzung daher zur Klarstellung festgestellt, dass der Beschluss des AG vom 12.2.2024 gegenstandslos ist.