Archiv der Kategorie: Zivilrecht

Vorfahrtsverletzung ==> Anscheinsbeweis, oder: Wie schnell ist der Berechtigte gefahren?

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Urheber Moros

Die zweite Entscheidung kommt dann mit dem LG Saarbrücken, Urt. v. 05.06.2020 – 13 S 181/19 – aus dem Saarland. Thematik: Anscheinsbeweis beim Vorfahrtsverstoß (§ 8 Abs. 2 Satz 2 StVO) .

Der Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

„Der Kläger befuhr am Tag des Unfallereignisses die L mit seinem Motorrad aus Richtung pp. kommend in Fahrtrichtung pp.. Als er in einem Bereich, in dem die allgemein zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h galt, eine Straßenkuppe überfuhr, kam es zu einer Kollision mit dem Erstbeklagten, als dieser mit seinem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug von rechts kommend aus einem Feldweg, der etwa 60 m hinter der vom Kläger überfahrenen Kuppe in die L einmündet, nach links in die L einbog. Die Verantwortlichkeit für das Unfallereignis steht zwischen den Parteien im Streit. Der Kläger hat geltend gemacht, sein Vorfahrtsrecht sei durch den Erstbeklagten missachtet worden. Er selbst habe den Zusammenstoß trotz einer Geschwindigkeit von nur 80 km/h nicht vermeiden können, weil ein Bremsvorgang aufgrund der Kürze des Sichtkontakts nicht mehr ausgereicht habe und für ein Ausweichen nicht genügend Raum vorhanden gewesen sei. Die Beklagten haben einen Vorfahrtsverstoß unter Hinweis darauf in Abrede gestellt, dass der Erstbeklagte den Kläger aufgrund der Straßenführung nicht habe sehen können, als er nach ordnungsgemäßem Halt in die L eingefahren sei. Der Kläger habe den Zusammenstoß jedenfalls durch ein Ausweichmanöver vermeiden können, weil der Erstbeklagte sein Fahrzeug auf dem rechten Fahrbahnteil der L  zum Stehen gebracht habe, sodass der linke Fahrstreifen, auf dem kein Gegenverkehr herrschte, frei geblieben sei.“

Das AG hat u.a. ein verkehrstechnisches Sachverständigengutachten eingeholt. Auf der Grundlage dessen hat es eine alleinige Haftung der Beklagten angenommen und der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Es hat aufgrund Anscheinsbeweises einen Verstoß des Erstbeklagten gegen § 8 Abs. 2 Satz 2 StVO bejaht, dem gegenüber ein geringfügiger Verstoß des Klägers gegen § 1 Abs. 1 StVO und die Betriebsgefahr des klägerischen Motorrads zurückträten.

Dagegen die Berufung, die keinen Erfolg hat.

Der Leitsatz der Entscheidung:

Der Anscheinsbeweis eines Vorfahrtsverstoßes (§ 8 Abs. 2 Satz 2 StVO) ist erst dann erschüttert, wenn eine Geschwindigkeit des Vorfahrtberechtigten feststeht, bei der zumindest die Möglichkeit besteht, dass er für den Wartepflichtigen im Zeitpunkt seines Anfahrentschlusses nicht erkennbar war. Der Nachweis einer solchen Geschwindigkeit obliegt dem Wartepflichtigen, weil er Umstände zu beweisen hat, die dem Unfallgeschehen die für einen Vorfahrtsverstoß sprechende Typizität nehmen.

Auffahrunfall nach Liegenbleiben auf der BAB, oder: Wer haftet wie?

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Für den „Kessel Buntes“ habe ich dnan heute zwei Entscheidungen zum Verkehrszivilrecht vorbereitet.

Ich starte mit dem KG, Urt. v. 13.05.2020 – 25 U 144/19. Es geht um die Frage, der (Mit-)Haftung des Halter eines Fahrzeug, das unfallbedingt auf der Autobahn auf Stand- und rechtem Fahrstreifen liegen bleibt und nur teilweise gesichert ist, für einen Auffahrunfall anderer Fahrzeuge, die sich bei Annäherung an die Unfallstelle ihrerseits sorgfaltswidrig verhalten haben.

Das KG ist von folgenden Feststellungen des ausgegangen:

„Der Fahrer des Ford Mondeo, für den der Beklagte haftungsrechtlich einzustehen hat, verlor bei nächtlicher Fahrt auf der Autobahn aus Unachtsamkeit die Kontrolle über sein Fahrzeug. Das Fahrzeug kam quer zur Fahrtrichtung zwischen Standstreifen und rechtem Richtungsfahrstreifen zum Stehen. Der Fahrer verließ die Unfallstelle, ohne für eine Absicherung zu sorgen.

Der Zeuge pp. bemerkte das querstehende Fahrzeug, stellte sein Fahrzeug vor diesem ab und versuchte nachfolgende Fahrzeuge zu warnen. Kurze Zeit später näherte sich der Geschädigte pp. mit seinem Fahrzeug VW Golf der Unfallstelle auf dem rechten Fahrstreifen und kam dann vor der Unfallörtlichkeit auf dem linken Fahrstreifen zumindest fast zum Stehen. Auf dieses Fahrzeug fuhr der bei der Klägerin haftpflichtversicherte VW Passat, auf der linken Fahrspur mit mindestens 130/140 km/h fahrend, auf.“

Das KG stellt fest, dass das Unfallgeschehen für keinen der Beteiligten unabwendbar war und kommt dann zu folgender Abwägung:

„Da sich das Unfallereignis für keinen der Beteiligten als unabwendbares Ereignis im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG darstellt, kommt es für die Haftung der Beklagten gemäß § 17 Abs. 1 StVG auf die Umstände des Einzelfalls an, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Der Ausgleichsmaßstab von § 17 StVG ist eine anderweitige Bestimmung der Ausgleichspflicht im Sinne von § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB (vgl. z.B. Greger/Zwickel, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 5. Aufl. 2014, § 36 Rn. 7; Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Jahnke BGB § 840 Rn. 33; Geiger in Münchener Kommentar zum StVR, 1. Auflage 2017, § 840 BGB Rn. 29).

Im Rahmen der nach § 17 StVG vorzunehmenden Abwägung der Haftungsanteile ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in erster Linie das Maß der Verursachung von Bedeutung, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung (vgl. z.B. BGH VI ZR 282/10, VersR 2011, 1540; VI ZR 59/97, VersR 1998, 474, 475 m.w.N.).

Wie sich aus obigen Ausführungen ergibt, haben beide Fahrzeugführer den Auffahrunfall durch ihr Fehlverhalten maßgebend mit verursacht. Beide Seiten haften nicht allein aufgrund der einfachen Betriebsgefahr der Fahrzeuge, sondern auch aus Verschulden. Jeder der beiden Verursachungsbeiträge begründete angesichts der Verkehrsverhältnisse auf der Autobahn ein erhebliches Gefährdungspotenzial für andere Fahrzeuge, das sich auch realisiert hat. Der Senat bewertet den Haftungsanteil des klägerischen Fahrzeugs höher, da der dessen Fahrer treffende, vorstehend dargestellte Verursachungsbeitrag und Verschuldensvorwurf schwerer wiegt als der des Fahrers des Ford Mondeo. Dies rechtfertigt eine Haftungsquote von 2/3 zu 1/3 zulasten der Klägerin.

Entgegen der in der Klageschrift vertretenen Ansicht sind die Grundsätze der haftungsrechtlichen Gesamtschau (zu dieser z.B. BGH VI ZR 68/04, VersR 2006, 369) im vorliegenden Fall des Gesamtschuldnerregresses nicht anzuwenden. Diese Grundsätze betreffen zwar den auch hier vorliegenden Fall, dass der Schaden durch mehrere voneinander unabhängige Verursachungsbeiträge entstanden ist. Mit ihnen soll aber ein den jeweiligen Haftungsanteilen gerecht werdendes Ergebnis in dem Fall erzielt werden, dass der Geschädigte, den selbst ein Mitverschulden trifft, einen oder mehrere Schädiger in Anspruch nimmt. Es soll verhindert werden, dass der Geschädigte bei mehreren Schädigern letztlich einen größeren Teil seines Schadens zu tragen hat als es seinem Verursachungsbeitrag entspricht.

Diese Problematik kann im vorliegenden Fall nicht auftreten. Im Verhältnis zu dem Fahrzeug, hinter dem versicherungsrechtlich der Beklagte steht, trifft den Geschädigten keine Mithaftung. An dessen Unfall sowie seinem Verursachungsbeitrag für den Zweitunfall war der Geschädigte in keiner Form beteiligt. Ein Mitverschuldensvorwurf gegen ihn kann sich nur aus dem Verhalten ergeben, das mitursächlich für den ihn schädigenden Zweitunfall gewesen ist. Dieses betrifft aber allein das Verhältnis zu dem bei der Klägerin versicherten Fahrzeug. Wenn dies zu einer Reduzierung der Haftung der Klägerin führt, kommt dies dem Beklagten zu Gute, da sich der von der Klägerin verfolgte Gesamtschuldnerregress nur auf die von ihr entsprechend der sie gegenüber dem Geschädigten treffenden Haftungsquote beziehen kann.“

Plötzliche Erkrankung des Rechtsanwalt, oder: Wann muss man einen Kollegen mit der Vertretungung beauftragen?

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Die zweite Entscheidung im „Kessel Buntes“ kommt heute auch vom BGH. Der hatte sich im BGH, Beschl. v. 28.05.2020 – IX ZB 8/18 – mit einer (zivilrechtlichen) Wiedereinsetzungsfrage zu befassen.

Gestritten wird um die Zulässigkeit der Berufung des Beklagten gegen ein OLG-Urteil. Die Berufungsbegründungsfrist war bereits einmal auf Antrag des Klägers bis zum 22.06.2017 verlängert worden. Am 22.06.2017 hat der Beklagte dann eine weitere Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 30.062017 beantragt. Er hat den Antrag mit einer akuten Erkrankung begründet. Das OLG hat die weitere Fristverlängerung abgelehnt, nachdem der Kläger seine Einwilligung verweigert hatte. Die Verfügung des Vorsitzenden ist dem Beklagten am 19.07.2017 zugestellt worden. Am 24.07.2017 hat der Beklagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und die Berufung begründet.

Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags hat der Beklagte einen akuten Erschöpfungszustand angeführt. Er sei deshalb seit dem 21.06.2017 arbeits- sowie verhandlungsunfähig erkrankt und am 22.06. 2017 nicht in der Lage gewesen, die Berufungsbegründung zu erstellen. Die Korrektur und Ausfertigung einer im Entwurf bereits vollständig vorliegenden Berufungsbegründung in einer anderen Sache habe der Beklagte erst nach mehreren Anläufen am späten Abend des 22.06.2017 abschließen können. Das OLG hat den Antrag des Beklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und seine Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen wendet sich der Beklagte mit der Rechtsbeschwerde. Die hatte Erfolg:

„2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Der Beklagte war ohne sein Verschulden verhindert, die Frist zur Begründung der Berufung einzuhalten (§ 233 Satz 1 ZPO). Auf den rechtzeitig gestellten, mit der Nachholung der Berufungsbegründung verbundenen Antrag (§§ 234, 236 ZPO) ist dem Beklagten deshalb Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

a) Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Der Beklagte sei nicht ohne sein Verschulden verhindert gewesen, die Berufungsbegründungsfrist einzuhalten. Der Beklagte habe bereits am 21. Juni 2017 erkennen müssen, dass er aufgrund der Schwere der Krankheitssymptome nicht in der Lage sein werde, die am 22. Juni ablaufende Frist zu wahren. Vor diesem Hintergrund hätten nur zwei Möglichkeiten bestanden. Zum einen hätte der Beklagte den Kläger um Zustimmung zu einer weiteren Fristverlängerung ersuchen können. Zum anderen sei die Beauftragung eines Vertreters mit der Anfertigung der Berufungsbegründung in Betracht gekommen. Hätte der Beklagte bereits am 21. Juni die Zustimmung des Klägers zu einer weiteren Fristverlängerung erbeten, wäre ihm bereits zu diesem Zeitpunkt bekannt geworden, dass eine solche nicht erteilt werden würde. Der Beklagte hätte deshalb bereits am 21. Juni einen Vertreter mit der Anfertigung der Berufungsbegründung beauftragen müssen. Die gleiche Pflicht wäre anzunehmen gewesen, wenn er am 21. Juni noch keine Antwort hinsichtlich einer eventuellen Zustimmung zur Fristverlängerung erhalten gehabt hätte. Die Beauftragung eines Vertreters mit der Anfertigung der Berufungsbegründung habe eine geeignete Maßnahme der Fristwahrung dargestellt. Weder der Umfang noch die Schwierigkeit der Sache ließen die Beauftragung eines Vertreters als ungeeignet erscheinen.

b) Diese Erwägungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss ein Rechtsanwalt allgemeine Vorkehrungen dafür treffen, dass die zur Wahrung von Fristen erforderlichen Handlungen auch dann unternommen werden, wenn er unvorhergesehen ausfällt. Er muss seinem Personal die notwendigen allgemeinen Anweisungen für einen solchen Fall geben. Ist er als Einzelanwalt ohne eigenes Personal tätig, muss er ihm zumutbare Vorkehrungen für einen Verhinderungsfall treffen, zum Beispiel durch Absprache mit einem vertretungsbereiten Kollegen (BGH, Beschluss vom 19. Februar 2019 – VI ZB 43/18, NJW-RR 2019, 691 Rn. 7; vom 8. August 2019 – VII ZB 35/17, NJW 2020, 157 Rn. 12). Konkrete Maßnahmen muss der Rechtsanwalt erst dann ergreifen, wenn er den Ausfall vorhersehen kann. Wird er unvorhergesehen krank, muss er deshalb konkret nur das unternehmen, was ihm dann noch möglich und zumutbar ist (BGH, Beschluss vom 27. September 2016 – XI ZB 12/14, NJW-RR 2017, 308 Rn. 9; vom 18. Januar 2018 – V ZB 113/17, V ZB 114/17, NJW 2018, 1691 Rn. 9; vom 8. August 2019, aaO Rn. 12). Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn der Rechtsanwalt die Frist zur Einlegung oder Begründung eines Rechtsmittels bis zum letzten Tag ausschöpft und daher wegen des damit erfahrungsgemäß verbundenen Risikos erhöhte Sorgfalt aufzuwenden hat, um die Einhaltung der Frist sicherzustellen (BGH, Beschluss vom 8. August 2019, aaO Rn. 13).

Allgemeine Vorkehrungen und konkrete Maßnahmen sollen im Verhinderungsfall ineinandergreifen. Wird ein Einzelanwalt unvorhergesehen krank, müssen allgemeine Vorkehrungen dafür getroffen sein, dass die dem erkrankten Rechtsanwalt konkret noch möglichen und zumutbaren Maßnahmen fristwahrende Wirkung entfalten können. Deshalb wird es regelmäßig ein Verschulden des Rechtsanwalts begründen, wenn er aufgrund seiner Erkrankung nicht mehr in der Lage ist, einen vertretungsbereiten Kollegen zu suchen oder die Suche aufgrund der Kürze der nur noch zur Verfügung stehenden Zeit erfolglos ist (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Februar 2019, aaO Rn. 8). Anders liegt der Fall, wenn sich die im Grundsatz hinreichenden allgemeinen Vorkehrungen im konkreten Fall unvorhersehbar als nicht ausreichend erweisen, etwa deshalb, weil der im Allgemeinen zur Vertretung bereite Kollege selbst verhindert ist.

Auf die allgemeinen Vorkehrungen kommt es nicht an, wenn die dem unvorhersehbar erkrankten Rechtsanwalt konkret noch möglichen und zumutbaren Maßnahmen die Versäumung der Frist auch im Falle sorgfaltsgemäß getroffener allgemeiner Vorkehrungen nicht verhindert hätten (vgl. BGH, Beschluss vom 8. August 2019, aaO Rn. 16). Dies kann anzunehmen sein, wenn die Vornahme der fristwahrenden Handlung durch einen Vertreter unmöglich oder unzumutbar ist und eine Verlängerung der Frist – etwa mangels Einwilligung des Gegners – nicht in Betracht kommt.

bb) Nach diesen Grundsätzen war der Beklagte ohne sein Verschulden verhindert, die Frist zur Begründung der Berufung einzuhalten.

(1) Bei dem Beklagten hat sich am 21. Juni 2017 ein akuter Erschöpfungszustand eingestellt. Der Erschöpfungszustand hat zur Arbeitsunfähigkeit über den 22. Juni – das Datum des Ablaufs der bereits um einen Monat verlängerten Berufungsbegründungsfrist – hinaus geführt. Auf entsprechenden Hinweis des Berufungsgerichts hat der Beklagte ergänzend ausgeführt, dass seine Erkrankung unvorhersehbar gewesen sei.

(2) Vor diesem Hintergrund war der Beklagte gehalten, konkret die Maßnahmen zu ergreifen, die ihm nach Eintritt der Erkrankung noch möglich und zumutbar waren. Möglich und zumutbar war es, einen Antrag auf weitere Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist zu stellen. Dem ist der Beklagte selbst nachgekommen. Der vom Beklagten selbst noch gestellte Fristverlängerungsantrag vermochte die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist nicht zu verhindern, weil die weitere Fristverlängerung gemäß § 520 Abs. 2 Satz 2 und 3 ZPO die Einwilligung des Klägers voraussetzte und diese nicht erteilt wurde.

(3) Es war dem Beklagten hingegen nicht möglich und zumutbar, die fristwahrende Anfertigung der Berufungsbegründung durch einen vertretungsbereiten Rechtsanwalt in Auftrag zu geben. Dabei kann offenbleiben, ob mit dem Berufungsgericht davon auszugehen ist, dem Beklagten habe bereits am 21. Juni 2017 klar sein müssen, dass er die Berufungsbegründung krankheitsbedingt nicht fristgemäß würde fertigen können. Dass der Beklagte über die hierzu erforderlichen medizinischen Fachkenntnisse oder jedenfalls entsprechendes Erfahrungswissen verfügte, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Die Beauftragung eines vertretungsbereiten Rechtsanwalts mit der Anfertigung der Berufungsbegründung bis zum Ablauf des 22. Juni 2017 war aber auch dann keine vom Beklagten konkret zu ergreifende Maßnahme, wenn man auf den 21. Juni als Datum der Beauftragung abstellt.

Dem Mandanten des unvorhersehbar erkrankten Rechtsanwalts dürfen aufgrund der Erkrankung keine Nachteile bei der Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen entstehen. Gleiches gilt, wenn sich der erkrankte Rechtsanwalt – wie im vorliegenden Fall – selbst vertritt. Die Fertigung einer Rechtsmittelbegründung muss deshalb mit der gleichen Sorgfalt möglich sein, wie ohne die Erkrankung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich ein vertretungsbereiter Kollege des erkrankten Rechtsanwalts regelmäßig zunächst in den Sach- und Streitstand einarbeiten muss und deshalb ein zeitlicher Mehraufwand entsteht. Erschwerend tritt hinzu, dass der vertretungsbereite Dritte auch eigene Mandate zu bearbeiten hat und seine zeitliche Verfügbarkeit demzufolge in der Regel eingeschränkt ist. Vor diesem Hintergrund erfordern die Sorgfaltspflichten des unvorhersehbar erkrankten Rechtsanwalts die Beauftragung eines vertretungsbereiten Kollegen mit der Fertigung einer Rechtsmittelbegründung allenfalls dann, wenn bis zum Ablauf der Begründungsfrist ausreichend Zeit zur Verfügung steht. Der erforderliche Zeitraum lässt sich nicht abstrakt festlegen. Maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalls. Tritt die Erkrankung – wie im Streitfall – erst am Tag vor dem Ablauf der Rechtsmittelfrist zutage, kommt die Beauftragung eines vertretungsbereiten Kollegen mit der Fertigung der Rechtsmittelbegründung nur in einfach gelagerten Fällen in Betracht (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Juli 2009 – II ZB 1/09, NJW 2009, 3037 Rn. 10; vom 8. August 2019 – VII ZB 35/17, NJW 2020, 157 Rn. 16). Um einen solchen Fall geht es hier nicht. Das vom Beklagten mit der Berufung vollständig angefochtene Urteil entscheidet auf 21 Seiten über Klage, Hilfsaufrechnung und Widerklage. Der Sache nach geht es um die rechtliche Aufarbeitung einer gescheiterten Mandatsbeziehung mit mehreren Einzelmandaten und den daraus nach Auffassung der Parteien folgenden wechselseitigen Ansprüchen.“

Betrifft zwar das Zivilrecht, kann aber im Strafverfahren auch Bedeutung haben, wenn dort (ausnahmsweise) das Verschulden des Rechtsanwalts zugerechnet wird.

Schlecht erkennbare Durchfahrtsperre, oder: Mitverschulden wegen Verletzung des Sichtfahrgebotes

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Im samstäglichen „Kessel Buntes“ köchelt dann heute zunächst das BGH, Urt. v. 23.04.2020 – III ZR 251/17. Es geht um die Verletzung des Verkehrssicherungspflicht eines Jagdepächters gegenüber einem Radfahrer und um dessen Mitverschulden bei einem Sturz mit seinem Rad.  Wegen dieses Unfalls macht der Kläger gegen die Beklagten Schadensersatzansprüche geltend.

Der BGH geht von folgendem Sachverhalt aus:

„Der Kläger war bis zu dem Unfallgeschehen als Marineoffizier der Bundeswehr tätig. Am Nachmittag des 15. Juni 2012 unternahm er mit seinem Mountainbike eine Radtour. Über die ihm unbekannten Örtlichkeiten hatte er sich zuvor mittels einer Karten-App informiert. Gegen 17.00 Uhr bog er von einer Straße in einen zum Gebiet der zu 1 beklagten Gemeinde gehörenden unbefestigten Feldweg ab, der als Sackgasse in einem Waldstück endete. Nach ungefähr 50 m befand sich auf dem Feldweg eine Absperrung. Diese bestand aus zwei in der Mitte des Weges befindlichen vertikalen nach unten auf den Boden gerichteten Holzlatten, an denen das Verkehrszeichen 260 (Verbot für Kraftfahrzeuge) befestigt war und die durch zwei waagerecht verlaufende verzinkte Stacheldrähte in der Höhe von etwa 60 cm und 90 cm gehalten wurden. Diese waren ihrerseits seitlich des Feldweges an im Unterholz stehenden Holzpfosten befestigt. An einem dieser Pfosten konnten die Stacheldrähte gelöst werden, um die Absperrung zu öffnen. Diese war Ende der 1980er-Jahre mit Zustimmung der Beklagten zu 1 durch den damaligen Jagdpächter errichtet worden. Der ehemalige Bürgermeister der Beklagten zu 1 hatte bis in das Jahr 2013 circa zwei- bis dreimal pro Quartal nach der Absperrung gesehen. Die Beklagten zu 2 und 3 waren die am Unfalltag verantwortlichen Jagdpächter des Niederwildreviers und nutzten den Feldweg regelmäßig, um zu einer hinter der Absperrung gelegenen Wiese zu gelangen, wo sich ein mobiler Hochsitz/Jagdwagen befand.

Als der Kläger die über den Feldweg gespannten Stacheldrähte bemerkte, führte er eine Vollbremsung durch; die Einzelheiten sind zwischen den Parteien streitig. Es gelang ihm nicht, sein Fahrrad rechtzeitig vor der Absperrung zum Stehen zu bringen, sondern er stürzte – links des Verkehrszeichens – kopfüber in das Hindernis. Dort blieb er mit seiner Kleidung hängen und konnte sich nicht mehr bewegen. Gegen 19.20 Uhr bemerkte ihn der zufällig vorbeikommende Beklagte zu 2, der Rettungsdienst und Polizei alarmierte.

Durch den Sturz erlitt der Kläger einen Bruch des Halswirbels und als Folge dessen eine vollständige Querschnittslähmung unterhalb des vierten Halswirbels. Vom 22. Juni 2012 bis 15. April 2013 befand er sich in stationärer Behandlung in einem Querschnittgelähmten-Zentrum. Er ist seit dem Unfall dauerhaft hochgradig pflegebedürftig und bedarf lebenslang einer querschnittslähmungsspezifischen Weiterbehandlung mit kranken-, physio- und ergotherapeutischen Maßnahmen. Das Wehrdienstverhältnis endete zum 31. März 2014; seitdem ist der Kläger Versorgungsempfänger.

Der Kläger verlangt von den Beklagten als Gesamtschuldnern u.a. ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld von mindestens 500.000 €. Das LG hat die Klage abgewiesen. Auf die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers hat das OLG der Klage teilweise stattgegeben, ist dabei aber von einem Mitverschulden von 75 % des Klägers ausgegangen. Dagegen die Revision des Klägers, die Erfolg hatte und zur Zurückverweisung der Sache an das OLG geführt hat.

Wegen der Umfangs der Begründung des BGH beschränke ich mich hier auf den Leitsatz zum Mitverschulden des Klägers:

Das Sichtfahrgebot gebietet es nicht, dass der Fahrer seine Geschwindigkeit auf solche Objekte (hier quer über einen für die Nutzung durch Radfahrer zugelassenen Weg gespannter, nicht auffällig gekennzeichneter Stacheldraht) einrichtet, die sich zwar bereits im Sichtbereich befinden, mit denen der Fahrer – bei Anwendung eines strengen Maßstabs – jedoch unter keinem vertretbaren Gesichtspunkt rechnen muss. Dies betrifft etwa Hindernisse, die wegen ihrer besonderen Beschaffenheit ungewöhnlich schwer erkennbar sind oder deren Erkennbarkeit in atypischer Weise besonders erschwert ist und auf die nichts hindeutet. Die falsche Reaktion eines Verkehrsteilnehmers stellt keinen vorwerfbaren Obliegenheitsverstoß dar, wenn dieser in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht vorhersehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgerechte unter-nimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlichem Erschrecken objektiv falsch reagiert.

Entschädigungsanspruch wegen Verfahrensverzögerung, oder: Aufrechnung mit Kostenerstattung zulässig?

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Die zweite Entscheidung im „Kessel Buntes“ kommt heute auch vom BGH. Im BGH, Urt. v. 07.11.2019 – III ZR 17/19 – hat der BGH über eine Vollstreckungsabwehrklage im Nachgang zu einem Verfahren wegen einer Entschädigung gem. § 198 GVG entschieden.

Dem Beklagten war durch ein Urteil des OLG Karlsruhe vom 12.01.2018 (16 EK 1/18) eine Entschädigung gegen den Kläger in Höhe von 4.800 zugesprochen worden. Der Kläger (Landeskasse?) hatte gegen den Beklagten aus dem vorangegangenen Strafprozess, aufgrund dessen der Kläger eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt (hat), eine festgesetzte Kostenerstattungsforderung in Höhe von 27.739,52 EUR. Auf eine außergerichtliche Aufforderung des Prozessbevollmächtigten des Beklagten zur Zahlung der Forderung aus dem Entschädigungsprozess auf sein Anderkonto hat der Kläger mit Schreiben der Landesoberkasse vom 09.04.2018 die Aufrechnung mit seinem Kostenerstattungsanspruch aus dem Strafverfahren erklärt. Die Aufrechnungserklärung wurden durch die Prozessbevollmächtigten des Klägers mit Schreiben vom 30.04.2018 und 15.05.2018 wiederholt. Mit dem Schreiben vom 14.03.2018 hat der Prozessbevollmächtigte des Beklagten zugleich eine Abtretungserklärung des Beklagten vorgelegt. Danach hat dieser die Klagforderung zur Sicherung offener Ansprüche aus drei in Karlsruhe und Frankfurt von seinem Prozessbevollmächtigten für ihn geführten Verfahren abgetreten.

Der Kläger hat im Wege der Vollstreckungsabwehrklage ua. beantragt, die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des OLG v. 12.01.2018 für unzulässig zu erklären, da die titulierte Forderung durch Aufrechnung erloschen sei. Der Beklagte hält die Aufrechnung für unzulässig und hat seinerseits hilfsweise gegen die Kostenerstattungsforderung des Klägers mit behaupteten Amtshaftungsansprüchen aus dem strafprozessualen Kostenfestsetzungsverfahren aufgerechnet. Zudem hat er die Einrede der Verjährung gegen die Forderung des Klägers erhoben.

Das OLG hatte die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen. Es hat die Aufrechnung als treuwidirg angesehen. Anders der BGH. Er hat aufgehoben und zurückverwiesen. Hier die Leitsätze:

  1. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG normiert einen staatshaftungsrechtlichen, verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruch sui generis, der Verfahrensbeteiligten das Recht auf eine angemessene Entschädigung für Nachteile gewährt, die infolge einer unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens eingetreten sind. Anders als bei einem Amtshaftungsanspruch wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen soll durch die Gewährung einer Entschädigung kein schuldhaftes Fehlverhalten staatlicher Stellen mit spürbaren Auswirkungen für den ersatzpflichtigen Staat sanktioniert („bestraft“) werden (Abgrenzung zu dem Senatsurteil vom 1. Oktober 2009 – III ZR 18/09, BGHZ 182, 301).

  2. Die Aufrechnung gegenüber einem Entschädigungsanspruch wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens mit einer Kostenforderung des Staates aus einem früheren Strafverfahren ist – nach rechtskräftiger Entscheidung über die Entschädigungsklage – grundsätzlich zulässig. Weder stellt sie eine unzulässige Rechtsausübung (§ 242 BGB) dar noch folgt ein Aufrechnungsverbot aus § 394 Satz 1 BGB, § 851 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 399 Alt. 1 BGB beziehungsweise § 198 Abs. 5 Satz 3 GVG (Fortführung des Senatsurteils vom 12. November 2015 – III ZR 204/15, BGHZ 207, 365).

Den Rest der sehr umfangreichen Begründung der Entscheidung bitte selbst lesen. Augehoben hat der BGH wegen der vom Beklagten erhobenen Verjährungseinrede. Dazu hat das Oberlandesgericht – von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig – bisher keine Feststellungen getroffen. Dazu der BGH:

„Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 GKG verjähren Ansprüche auf Zahlung von Kosten in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem das Verfahren durch rechtskräftige Entscheidung über die Kosten – hier durch Rechtskraft des Strafurteils am 10. Januar 2013 – beendet ist. Danach wäre im vorliegenden Fall Verjährung mit Ablauf des 31. Dezember 2017 und damit zu einem Zeitpunkt eingetreten, zu dem noch keine Aufrechnungslage bestanden hat, da das aus § 394 Satz 1 BGB, § 851 Abs. 1 ZPO, § 198 Abs. 5 Satz 3 GVG folgende Aufrechnungsverbot erst mit Rechtskraft des Urteils vom 12. Januar 2018 über die Entschädigungsklage weggefallen ist. Nach § 215 BGB kann jedoch mit einer verjährten Gegenforderung nur aufgerechnet werden, soweit diese bei Eintritt der Aufrechnungslage noch unverjährt war. Allerdings könnte die Verjährung durch die Zahlungsaufforderung der Landesoberkasse mit Kostenrechnung vom 24. August 2016 neu begonnen haben (§ 5 Abs. 3 Satz 2 GKG). Hierzu muss die Kostenrechnung dem Beklagten zugegangen sein (vgl. OLG Koblenz, NStZ-RR 2005, 254, 255 und BeckRS 2011, 6657; BeckOK KostR/Dörndorfer, § 5 GKG Rn. 8 [Stand: 1. September 2019]; Toussaint in Hartmann/Toussaint, Kostenrecht, 49. Aufl., GKG, § 5 Rn. 8), was dieser bestritten hat und deshalb noch aufgeklärt werden muss…..“