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StPO I: Unwirksamer Verbindungsbeschluss des LG, oder: Das gemeinschaftliche obere Gericht war der BGH

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Heute dann StPO-Entscheidungen. Alle drei kommen vom BGH.

Ich eröffne mit dem BGH, Beschl. v. 12.07.2022 – 3 StR 121/22.

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen eines in Mönchengladbach begangenen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie wegen einer in Ü. begangenen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, die teilweise Erfolg hatte. Der BGH hat die Veurteilung wegen einer in Ü. begangenen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis aufgehoben:

„1. Die Verurteilung des Angeklagten in Bezug auf Fall II. 4. der Urteilsgründe kann nicht bestehen bleiben, weil das Landgericht für die Entscheidung sachlich nicht zuständig war. Dieser Mangel ist gemäß § 6 StPO vom Revisionsgericht von Amts wegen zu beachten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. Mai 1990 – 4 StR 177/90 , BGHR StPO § 4 Verbindung 3 ; vom 1. Dezember 2005 – 4 StR 426/05 , juris Rn. 3).

Die Staatsanwaltschaft Aachen hatte wegen dieser Tat Anklage zum Amtsgericht – Schöffengericht – Geilenkirchen erhoben, das sie zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet hatte. Nachdem die Vorsitzende des Schöffengerichts erfahren hatte, dass gegen den Angeklagten ein Verfahren vor dem Landgericht Mönchengladbach anhängig war und Bereitschaft bestand, das Verfahren „zu übernehmen“, hat sie es dorthin abgegeben. Durch Beschluss vom 19. April 2021 hat das Landgericht dieses zu dem bei sich anhängigen Verfahren verbunden.

Dieser Verbindungsbeschluss ist unwirksam, da er nicht von dem hierfür zuständigen Gericht erlassen worden ist. Die Verbindung von Strafsachen, die nicht nur die örtliche, sondern auch die sachliche Zuständigkeit betrifft, kann nicht durch eine Vereinbarung der beteiligten Gerichte nach § 13 Abs. 2 Satz 1 StPO vorgenommen werden. Eine solche Verbindung kann vielmehr in den Fällen, in denen – wie im vorliegenden Fall – die verschiedenen Gerichte nicht alle zu dem Bezirk des ranghöheren gehören, gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 StPO nur durch Entscheidung des gemeinschaftlichen oberen Gerichts – hier des Bundesgerichtshofs – herbeigeführt werden (vgl. BGH, Urteil vom 30. August 1968 – 4 StR 335/68 , BGHSt 22, 232, 234 ; Beschlüsse vom 21. März 2000 – 1 StR 609/99 , NStZ 2000, 435 f.; vom 7. April 2005 – 3 StR 347/04 , NStZ 2005, 464 Rn. 1). Daran fehlt es. Die Sache ist insoweit nicht bei dem Landgericht Mönchengladbach rechtshängig geworden. Es besteht daher hinsichtlich dieser Tat ein Verfahrenshindernis, das zwar zu einer Teilaufhebung des Urteils, nicht jedoch zur Verfahrenseinstellung führt, da die Rechtshängigkeit des Verfahrens bei dem Amtsgericht – Schöffengericht – Geilenkirchen fortbesteht, eine Einstellung dieses Verfahren beenden würde und danach kein Raum für eine Sachentscheidung, gleich durch welches Gericht, verbliebe. Das Verfahren ist daher entsprechend § 355 StPO , soweit es Fall II. 4. der Urteilsgründe betrifft, an das weiterhin zuständige Amtsgericht Geilenkirchen zurückzuverweisen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Juli 1995 – 2 StR 74/95 , BGHR StPO § 4 Verbindung 9 ; vom 16. April 1996 – 4 StR 80/95 , – NStZ-RR 1996, 232; vom 1. Dezember 2005 – 4 StR 426/05 , juris Rn. 4; vom 11. Juli 2013 – 3 StR 166/13 , NStZ-RR 2013, 378).“

 

StPO II: Terminsverlegung wegen Urlaubs abgelehnt, oder: Besorgnis der Befangenheit?

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Und als zweite Entscheidung stelle ich dann einen Beschluss zum Verfahren bei der Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit vor.

Der Kollege Kabus aus Bad Saulgau, der mir den AG Hildesheim, Beschl. v. 11.08.2022 – 116 OWi 34 Js 19484/22 – geschickt hat, verteidigt in einem Bußgeldverfahren wegen einer Verkehrs-Owi beim AG Hildesheim. Dort ist Haupverhandlungstermin anberaumt. Der Verteidiger beantragt Terminsverlegung, da er am Terminstag in Urlaub ist. Das AG teilt mit, dass dem Verlegungsantrag nur stattgegeben wird, wenn die Verhinderung des Kollegen nachgewiesen sei, z.B. durch eine Buchungsbestätigung. Daraufhin lehnt der Kollege den Amtsrichter wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Danach muss der Termin wegen Erkrankung des Amtsrichters aufgehoben werden. Das AG hat den Antrag als „unbegründet“ zurückgewiesen.

„Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen gelten im Ordnungswidrigkeitenverfahren sinngemäß (vgl. beispielhaft Göhler, Ordnungswidrigkeitengesetz, 16. Aufl., Vor § 67, Rz. 8). Ein Richter kann wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen (§ 24 Abs. 1 und Abs. 2 StPO). Das Vorliegen eines Ablehnungsgrundes ist grundsätzlich vom Standpunkt des Ablehnenden aus zu beurteilen (Meyer-Goßner, StPO, 57. Aufl., § 24, Rdr. 8). Dabei kommt es nicht auf die subjektive Sicht des Ablehnenden an, maßgebend sind der Standpunkt eines verständigen und vernünftigen Angeklagten und die Vorstellungen, die sich ein geistig gesunder, bei voller Vernunft befindlicher Prozessbeteiligter bei der ihm zumutbaren ruhigen Prüfung der Sachlage machen kann. Der Ablehnende muss daher Gründe vorbringen, die jedem unbeteiligten Dritten einleuchten (Meyer-Goßner, a.a.O., § 24 Rdnr. 8).

Das Verhalten des Richters während vor Hauptverhandlung kann die Ablehnung begründen, wenn es besorgen lässt, dass er nicht unvoreingenommen an die Sache herangeht, insbesondre von der Schuld des Betroffenen bereits endgültig überzeugt ist (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 24 Rz. 15).

Der Betroffene und sein Verteidiger begründen ihr Ablehnungsgesuch damit, dass Herr Richter am Amtsgericht pp. auf den Antrag des Verteidigers auf Terminsverlegung wegen Urlaubs mit Schreiben vom 08.06.2022 darauf hingewiesen hat, dem Antrag auf Terminsverlegung nur stattgegeben wird, wenn die Verhinderung des Verteidigers nachgewiesen wird, beispielsweise durch Übersendung einer Buchungsbestätigung.

Die ermessensfehlerhafte Verweigerung der Verlegung eines Termins kann einen Ablehnungsrund nach § 24 StPO darstellen.

Ob hier eine ermessensfehlerhafte Verweigerung der Verlegung des Hauptverhandlungstermins vorliegt kann dahingestellt bleiben, denn der Hauptverhandlungstermin wurde mit Verfügung vom 13.06.2022 aufgehoben. Anlass für die Aufhebung war zwar die Erkrankung des abgelehnten Richters. Gleichwohl ist hierdurch das Rechtsschutzbedürfnis für das Ablehnungsgesuch entfallen, da dem Antrag auf Terminsverlegung faktisch entsprochen wurde. Eine darüber hinaus gehende Besorgnis der Befangenheit des abgelehnten Richters ist nicht erkennbar und wird vom Betroffenen und dessen Verteidiger. auch nicht substantiiert geltend gemacht. Für seine Vermutung, der abgelehnte Richter stehe dem Betroffenen und dem Verfahrensgegenstand nicht mit der erforderlichen Distanz gegenüber, finden sich keine Anhaltspunkte.“

Na ja, da hat das AG ja – unbeabsichtigt – die Kurve bekommen. Ich meine, man kann in solchen Fällen schon die Besorgnis (!!) der Befangenheit haben. Warum reicht allein die Erklärung des Kollegen nicht aus für die Verlegung?

Im Übrigen ist m.E. die Zurückweisung des Antrags als unbegründet nicht zutreffend. Wenn das AG davon ausgeht, dass durch die Terminsaufhebung das Rechtsschutzbedürfnis für den Ablehnungsantrag entfallen ist, dann ist/wird der Antrag doch nicht „unbegründet“, sondern er ist gegenstandslos und wird ggf. unzulässig.

StPO I: Vorläufige Einschätzung in anderem Verfahren, oder: Besorgnis der Befangenheit in Folgeverfahren?

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Ich starte in die 37. KW dann mit zwei StPO-Entscheidungen zur Besorgnis der Befangenheit.

In der ersten Entscheidung, die ich vorstelle, dem OLG Oldenburg, Beschl. v. 10.06.2022 – 1 Ws 203/22, 1 Ws 204/22 – geht es um die Frage der (Besorgnis der) Befangenheit in den Fällen de sog. Vorbefassung.

Folgender Sachverhalt:

„Die Staatsanwaltschaft Oldenburg hat unter dem 29. März 2022 gegen die Beschwerdeführer und vier weitere Angeschuldigte Anklage vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Oldenburg wegen Beihilfe zu einem am TT. MM 2021 in Ort1 von dem gesondert verfolgten FF begangen Mord an GG erhoben. FF selbst ist in dem gegen ihn gesondert geführten Verfahren 5 Ks 1204 Js 72704/21 (1/22) wegen dieser Tat sowie wegen Mordes an HH, mit der er nach jesidischem Recht verheiratet war, am 13. Mai 2022 zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt worden.

In dem Verfahren gegen FF hatte die Schwurgerichtskammer unter dem 26. April 2022 eine vorläufige Einschätzung der auf der Basis der bisherigen Beweisaufnahme gewonnenen Erkenntnisse abgegeben und dabei unter anderem ausgeführt, dass der Angeklagte, der fälschlicherweise von einer sexuellen Beziehung zwischen den später Getöteten ausgegangen sei, zur Tatzeit an einem lang anhaltenden Eifersuchtswahn (ICD-10: F22.0) gelitten habe. Sollte der Angeklagte die Taten auf Grund eines spontanen Tatentschlusses begangen haben, sei von einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit auszugehen. Möglicherweise habe er dann auch nicht aus niedrigen Beweggründen gehandelt, so dass die beiden vorgeworfenen Taten als Totschlag zu werten seien. Wenn allerdings festgestellt würde, dass der Angeklagte spätestens während eines Treffens mit den Angeschuldigten im vorliegenden Verfahren vor Begehung der Taten diesen von einer sexuellen Beziehung zwischen den späteren Tatopfern erzählt, diese ihm geglaubt und – getragen von tradierten jesidischen Überzeugungen hinsichtlich der Ehre der Familie – zusammen mit ihm einen Plan zur Tötung beider Personen entwickelt oder ihn zumindest in einem solchen Plan bestärkt bzw. unterstützt hätten und der Angeklagte sodann im Zusammenwirken mit diesen Personen und nicht etwa autonom auf Grund eines spontanen Entschlusses die Taten begangen hätte, sei von einer voll erhalten Schuldfähigkeit auszugehen. Im Rahmen der mündlichen Urteilsbegründung am 13. Mai 2022 führte der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer unter Darlegung der Telekommunikation zwischen FF und den Angeschuldigten und Darstellung deren Beteiligung an der Tötung des GG unter anderem aus, diese hätten – getragen von tradierten jesidischen Überzeugungen hinsichtlich der Ehre der Familie – dessen Tötung entweder mit ihm zusammen geplant oder ihn in einem solchen Plan bestärkt bzw. unterstützt.

Der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer und die beisitzenden Richter, die auch im vorliegenden Verfahren nach der Geschäftsverteilung zuständig wären, haben unter Verweis auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 16. Februar 2021 (1128/17 – Meng/Deutschland) unter dem 13. bzw. 16. Mai 2022 – der Vorsitzende unter Darstellung des Hinweisbeschlusses vom 26. April 2022 sowie des Inhalts der mündlichen Urteilsbegründung – Selbstanzeigen gemäß § 30 StPO abgegeben. Unter Bezugnahme auf diese Selbstanzeigen haben die Angeschuldigten AA und BB den Vorsitzenden Richter des Schwurgerichts und die Beisitzer wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt.

Mit Beschluss vom 23. Mai 2022, auf den wegen der Einzelheiten ebenso Bezug genommen wird wie auf die übrigen bezeichneten Schriftstücke, hat die wegen der Ablehnung sämtlicher Mitglieder der Schwurgerichtskammer zuständige 4. große Strafkammer unter gleichzeitiger Feststellung, dass eine Befangenheit nicht zu besorgen ist, die Befangenheitsanträge der Angeschuldigten gegen den Vorsitzenden Richter am Landgericht CC, den Vorsitzenden Richter am Landgericht DD und den Richter am Landgericht EE als unbegründet zurückgewiesen“

Dagegen die sofortige Beschwerde, die beim OLG keinen Erfolg hatte. Wegen der Einzelheiten der Begründung verweise ich auf dne verlinkten Volltext. Hier stelle ich nur den (amtlichen) Leitsatz zu der Entscheidung ein, und zwar:

Die Vorbefassung des erkennenden Richters mit einem einen anderen Tatbeteiligten betreffenden Strafverfahren vermag auch im Lichte der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 16. Februar 2021 (1128/17 – Meng/Deutschland) grundsätzlich nur dann die Besorgnis der Befangenheit zu begründen, wenn im Ursprungsverfahren hinsichtlich des nunmehr beschuldigten Tatbeteiligten über das für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch Erforderliche hinausgehende Feststellungen getroffen oder hierfür entbehrliche rechtliche Bewertungen vorgenommen worden sind.

 

U-Haft III: Laptop zur Verteidigung in der U-Haft, oder: Wann ist die „Durchsicht“ erlaubt?

Und dann stelle ich noch den KG, Beschl. v. 23.12.2021 – 5 Ws 261/21 – vor. Schon etwas älter, aber eine interessante Frage. Es geht nämlich um die Zulässigkeit der Durchsicht eines im Haftraum eines Untersuchungshäftlings befindlichen, zu Verteidigungszwecken überlassenen Laptops.

Die Staatsanwaltschaft legt dem Angeklagten einen mittäterschaftlich begangenen Mord zur Last. Der Angeklagte befindet sich seit dem 17. Januar 2014 in Untersuchungshaft. Die Schwurgerichtskammer hat am 20.11.2014 beschlossen, „dass wegen des erheblichen Akten- und Datenumfangs die Anschaffung eines […] Laptops“ für den jeweils Inhaftierten „zur Einsicht in der Haftanstalt […] erforderlich [sei], um im weiteren Verfahren eine sachgerechte Verteidigung zu gewährleisten“. Die Beschaffung der (fabrikneuen und nicht internetfähigen) Laptops wurde den Verteidigern übertragen, seitens des Landgerichts Berlin wurde die digitalisierten Akten einschließlich der Video- und Audiodateien auf die Laptops aufgespielt und an die Justizvollzugsanstalt M. übergeben, die ihrerseits die Sperrung der USB-Anschlüsse der Laptops vornahm und diese sodann an die Angeklagten aushändigte. Am 01.10.2019 hat das LG Berlin – Schwurgericht – den Angeklagten nach 300 Hauptverhandlungstagen wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Dagegen die Revision sowohl des Angeklagten als auch die Staatsanwaltschaft, über die im Dezember 2021 noch nicht entschieden war.

Wegen des gegen einen ebenfalls inhaftierten Mitangeklagten bestehenden Verdachts der Bedrohung im Zusammenhang mit der Nutzung sozialer Netzwerke war dessen Laptop untersucht und an diesem ein internetfähiger Zugang festgestellt worden. Dies hat die JVA zum Anlass genommen, auch die den weiteren inhaftierten Mittätern überlassenen Laptops aus den Hafträumen herauszunehmen und diese ebenfalls auf die manipulative Schaffung eines Internetzugangs zu überprüfen. Dabei wurden am 22.10.2020 betreffend den Laptop des Angeklagten ein freier Zugang zum Internet und auf dem Gerät gespeicherte private Fotos festgestellt. Das LG Berlin hat dann auf Antrag der Staatsanwaltschaft die vorläufige Sicherstellung u.a. des aus dem Haftraum des Angeklagten entnommenen Laptops zur Auswertung angeordnet, „um die als Beweismittel im hiesigen Verfahren […] in Betracht kommenden Laptops durch das Landeskriminalamt inhaltlich darauf untersuchen zu lassen, ob eine richterliche Beschlagnahme (einzelner beweiserheblicher Daten) zu beantragen oder gegebenenfalls die Rückgabe zu veranlassen ist“.

Dagegen das Rechtsmittel des Angeklagten, das keinen Erfolg hatte. Hier die (amtlichen) Leitsätze der KG-Entscheidung:

    1. Das Sichtungsverfahren gemäß § 110 StPO wird zwar noch der Durchsuchung zugerechnet, ist jedoch angesichts der fortdauernden Besitzentziehung in seiner Wirkung für den Betroffenen der Beschlagnahme angenähert. Die Beschlagnahme oder Maßnahmen nach § 110 StPO sind, sofern Daten betroffen sind, am Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG zu messen.
    2. Da das Verfahren im Stadium der Durchsicht gemäß § 110 StPO einen Teil der Durchsuchung nach § 102 StPO oder § 103 StPO bildet, kommt es für die Rechtmäßigkeit der Durchsicht nach § 110 StPO darauf an, ob die Voraussetzungen für eine Durchsuchung zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung vorlagen. Maßstab ist insoweit, wenn die Suche im Haftraum eines Untersuchungshäftlings Beweismitteln oder der Einziehung unterliegenden Gegenständen gilt, nicht § 44 UVollzG Berlin, sondern die §§ 102 ff. StPO.
    3. Das Recht auf eine effektive Verteidigung als Ausprägung des Anspruchs auf ein faires Verfahren gebietet es, dass – über den Wortlaut des § 97 Abs. 1 StPO hinaus – Unterlagen, die sich ein Beschuldigter erkennbar zu seiner Verteidigung in dem gegen ihn laufenden Strafverfahren anfertigt, weder beschlagnahmt noch gegen seinen Widerspruch verwertet werden dürfen.
    4. Allein die naheliegende Möglichkeit, dass sich auf dem durchzusehenden Datenträger auch beschlagnahmefreie Gegenstände befinden, macht die Durchsicht und die hierzu erforderliche vorläufige Sicherstellung nicht rechtswidrig. Ist nicht sofort feststellbar, ob einzelne Aufzeichnungen der Verteidigung dienen, so können sie vorläufig sichergestellt werden. Eine Pflicht zur sofortigen ungelesenen Herausgabe besteht nur dann, wenn die Eigenschaft als Verteidigungsunterlage offensichtlich ist.

U-Haft I: Überwachung von Telefongesprächen, oder: Auch noch, wenn es nur noch um die Rechtsfolgen geht

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Heute dann noch einmal Entscheidungen, die mit U-Haft zu tun haben. Allerdings nicht mit der Anordnung von U-Haft, sondern mit deren Vollzug, vor allem also mit U-Haft-Beschränkungen.

Und den Opener mache ich mit dem OLG München, Beschl. v. 25.05.2022 – 2 Ws 283/22 – zur Aufrechterhaltung von Haftbeschränkungen zur Abwendung von Verdunkelungsgefahr auch noch in einem Verfahren, in dem nur noch über den Rechtsfolgenausspruch zu verhandeln ist. Der Angeklagte befindet sich seit dem 28.06.2019 in U-Haft/Unterbringung wegen des dringenden Verdachts der Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch eines Kindes und Nötigung. Es ist u.a. bestimmt, dass Telekommunikation des Angeklagten der Erlaubnis bedarf und ggf. zu überwachen ist. In der Folge Erlaubnisse wurden für Telefonate zwischen dem Angeklagten und seinen Eltern Erlaubnisse erteilt.

Am 13.07.2021 ist der Angeklagte wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit Vergewaltigung und Nötigung schuldig gesprochen worden, gegen ihn wurde eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren verhängt und die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Den Haftbefehl ist nach Maßgabe des Urteils aufrecht erhalten worden.

Auf Revision des Angeklagten hat der BGH das Urteil am 22.03.2022 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Inzwischen befinden sich die Akten wieder „in der Instanz“.

Der Verteidiger des Angeklagten hat beantragt, die Anordnung über die akustische Überwachung der Telefonate zwischen dem Angeklagten und dessen Eltern aufzuheben. Der Antrag hatte keinen Erfolg:

„2. In der Sache hat das Rechtsmittel keinen Erfolg. Denn die Voraussetzungen für eine Überwachung der Telekommunikation des Angeklagten mit seinen Eltern liegen weiterhin vor.

Gemäß § 119 Abs. 1 Nr. 2 StPO kann das Haftgericht anordnen, dass Telekommunikation eines Untersuchungsgefangenen überwacht wird, soweit dies unter anderem zur Abwehr von Verdunkelungsgefahr erforderlich ist. Das gilt auch dann, wenn sich der Haftbefehl – wie hier – auf einen anderen Haftgrund stützt (Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, 2019, § 119, Rn 16).

Im vorliegenden Fall besteht nach wie vor die Gefahr, dass der Angeklagte unüberwachte Telefonate mit seinen Eltern zu Verdunkelungshandlungen missbrauchen würde. Dass er die verfahrensgegenständliche Tat eingeräumt hat und der gegen ihn ergangene Schuldspruch rechtskräftig ist, steht dem nicht entgegen. Denn aufgrund der Teilaufhebung des Urteils ist über den Rechtsfolgenausspruch neu zu verhandeln, und aus in dem Urteil wiedergegebenen Äußerungen des Angeklagten gegenüber seinen Therapeuten ergibt sich, dass er mit Nachdruck eine Unterbringungsanordnung gemäß § 63 StGB auch im vorliegenden Verfahren anstrebt (vgl. insbesondere Bl. 51 der Urteilsgründe, sechster Absatz). Angesichts dessen liegt es nahe, dass der Angeklagte einen Wegfall der Telekommunikationsüberwachung zu nutzen versuchen würde, um in Telefonaten mit seinen Eltern manipulativ darauf hinzuwirken, dass diese in der neuen Verhandlung als Zeugen Angaben zu seiner psychischen Verfassung vor der Tat machen, die geeignet wären, den Rechtsfolgenausspruch im erläuterten Sinne zu seinen Gunsten zu beeinflussen (gemäß § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO stünde das Verschlechterungsverbot der Anordnung einer Unterbringungsmaßregel gemäß § 63 StGB in der neuen Verhandlung nicht entgegen).

Konkreter Anhalt dafür, dass der Angeklagte eine Aufhebung der Telekommunikationsüberwachungsanordnung zu entsprechenden Verdunkelungshandlungen nutzen würde, resultiert daraus, dass er im Ermittlungsverfahren gezielt eine angeordnete Haftbeschränkung umging: Aufgrund der diesbezüglichen Ausführungen im vorletzten Absatz auf Seite 3 des Nichtabhilfebeschlusses hat der Senat die seinerzeitige Berichterstatterin des Hauptsachverfahrens vor der 20. Strafkammer des Landgerichts München I, Frau Richterin am Landgericht P., zu dem konkreten Hintergrund des dort erwähnten Vorfalls befragt. Diese erklärte, dass eine als sachverständige Zeugin vernommene Ärztin des BKH S. im Hauptverhandlungstermin vom 14.04.2021 ausgesagt habe, der Angeklagte sei zu einem Zeitpunkt, zu dem ihm die erforderliche Erlaubnis, Telefonate zu führen, noch nicht vorlag, an einen im Besitz einer Telefonkarte befindlichen Mitpatienten herangetreten und habe diesen dazu überredet, ihm – dem Angeklagten – die Telefonkarte vorübergehend zu überlassen, um damit ein unüberwachtes Telefonat mit seinen Eltern zu führen. Der Senat hat keinen Grund daran zu zweifeln, dass Frau Richterin am Landgericht P. die Aussage der Ärztin zutreffend wiedergegeben hat. Dass deren Angaben nicht den Tatsachen entsprechen, sondern gleichsam aus der Luft gegriffen sind, ist auszuschließen. Der Senat teilt die Bewertung des Landgerichts, wonach aus jenem Vorfall eine grundsätzliche Bereitschaft des Angeklagten zu einer Gefährdung der Haftzwecke mittels gezielter Manipulationen abzuleiten ist.

Da mildere Mittel zur Verhinderung einer manipulativen Einflussnahme des Angeklagten auf seine in der neuen Verhandlung als Zeugen in Betracht kommenden Eltern nicht gegeben sind, ist die Aufrechterhaltung der beschwerdegegenständlichen Anordnung auch nicht unverhältnismäßig. Das durch Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Interesse des Angeklagten an vertraulicher innerfamiliärer Kommunikation hat unter den gegebenen Umständen hinter dem staatlichen Interesse an einer Meidung missbräuchlicher Einwirkungen auf die neue Verhandlung über den Rechtsfolgenausspruch zurückzustehen.“