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Wenn der Dolmetscher unentschuldigt nicht erscheint, oder: Können Ordnungsmittel verhängt werden?

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Die zweite Entscheidung, der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 17.10.2022 – 12 Qs 57/22 – beantwortet die Frage, ob gegen einen nicht erschienenen Dolmetscher ein Ordnungsgeld verhängt werden kann. Das AG hatte gegen einen unentschuldigt nicht erschienenen Dolmetscher ein Ordnungsgeld in Höhe von 500 EUR, ersatzweise 3 Tage Ordnungshaft verhängt. Das LG hat den Beschluss auf die Beschwerde des Dolmetschers aufgehoben:

„2. Die Beschwerde ist auch begründet.

Für die Verhängung des festgesetzten Ordnungsmittels fehlt es an einer Rechtsgrundlage. Bei einem Dolmetscher handelt es sich um einen am Strafverfahren Beteiligten eigener Art. Er ist damit kein Sachverständiger, sodass § 77 StPO nicht anwendbar ist und gegen ihn bei unentschuldigtem Fehlen keine Ordnungsmittel festgesetzt werden dürfen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 185 GVG Rn. 7 u.a. mit Verweis auf LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 2. Dezember 1977 – 7 Qs 218/77, MDR 1978, 508). Wegen des strafähnlichen Charakters eines Ordnungsmittels gilt das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG. Damit scheidet auch eine entsprechende Anwendung des § 77 StPO und der für Zeugen geltenden Regelung des § 51 StPO aus (LG Cottbus, Beschluss vom 11. August 2008 – 24 jug Qs 40/08, juris Rn. 14). Gegen den nicht erschienenen Beschwerdeführer kann also kein Ordnungsmittel verhängt werden. Daher kann vorliegend dahinstehen, ob die Einwendung des Beschwerdeführers zutrifft, dass er für die Verhandlung am 25. August 2022 keine Ladung erhalten habe.“

StPO II: Unterbrechung/Begriff der Sachverhandlung, oder: Wenn es nach dem Feueralarm nicht weitergeht

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Als zweite StPO-Entscheidung stelle ich den BGH, Beschl. v. 03.08.2022 – 5 StR 47/22 – zum Begriff der Sachverhandlung (§ 229 StPO) vor.

Das LG hat die Angeklagten wegen gewerbsmäßigen Bandenbetruges verurteilt. Dagegen haben die Angeklagten Revision eingelegt, die sie u.a. auf die Verfahrensrüge einer Verletzung von § 229 Abs. 1 und 4 StPO, weil im Hauptverhandlungstermin vom 27.11.2020 nicht verhandelt worden sei. gestützt haben. Die Rüge hatte beim BGH keinen Erfolg:

„1. Die von allen Angeklagten erhobenen Rügen einer Verletzung von § 229 Abs. 1 und 4 StPO , weil im Hauptverhandlungstermin vom 27. November 2020 nicht verhandelt worden sei, sind unbegründet.

a) Den Rügen liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Der betreffende Hauptverhandlungstermin begann um 9 Uhr. Zu Beginn teilte der Mitangeklagte F. der Strafkammer seine neue Wohnanschrift mit. Anschließend ordnete die Vorsitzende die Fortsetzung der Vernehmung des vor dem Sitzungssaal wartenden Zeugen S. an. Bevor diese begonnen werden konnte, wurden auf Initiative eines Verteidigers der Inhalt bereits gestellter Ablehnungsgesuche sowie die Frage erörtert, inwieweit Mitangeklagte sich den entsprechenden Anträgen angeschlossen haben. Währenddessen wurde Feueralarm ausgelöst, weshalb das Gerichtsgebäude geräumt werden musste. Grund hierfür war ein Kabelbrand, der auch zu einem Stromausfall führte. Angesichts dessen regten mehrere Verteidiger die Vertagung der Hauptverhandlung an. Die Vorsitzende ordnete indes um 9.40 Uhr lediglich die Unterbrechung bis 11 Uhr an; anschließend sollte der Zeuge S. vernommen werden.

Die Hauptverhandlung konnte allerdings an diesem Tag nicht wie beabsichtigt fortgesetzt werden, weil der Sitzungssaal im weiteren Verlauf durch die Feuerwehr, die den Brandherd in diesem Raum vermutete, gesperrt wurde und ein Ausweichsaal nicht verfügbar war. Die Vorsitzende erklärte die Hauptverhandlung an diesem Tag deswegen um 11.10 Uhr für beendet. Die Verfahrensbeteiligten wurden vor dem Sitzungssaal entlassen. Der nächste Hauptverhandlungstag fand am 11. Dezember 2020 statt.

b) Die Rügen sind unbegründet.

aa) Eine Hauptverhandlung gilt im Sinne des § 229 Abs. 4 Satz 1 StPO als fortgesetzt und muss demgemäß nicht ausgesetzt werden, wenn in einem Fortsetzungstermin zur Sache verhandelt wird. Das ist der Fall, wenn Prozesshandlungen vorgenommen werden oder Erörterungen zu Sach- oder Verfahrensfragen stattfinden, die geeignet sind, das Verfahren inhaltlich auf den Urteilsspruch hin zu fördern und die Sache ihrem Abschluss substantiell näher zu bringen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Januar 2021 – 5 StR 496/20 , NStZ 2021, 381).

Indes kann auch in der Befassung lediglich mit Verfahrensfragen eine Förderung des Verfahrens in der Sache liegen, wenn deren Ziel die Klärung ist, durch welche Untersuchungshandlungen der Aufklärung des Sachverhalts Fortgang gegeben werden kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn die für den Fortsetzungstermin in Aussicht genommene sonstige Förderung des Verfahrens infolge unvorhersehbarer Ereignisse nicht stattfinden kann. Denn es sind regelmäßig Situationen vorstellbar, in denen eine Hauptverhandlung aufgrund solcher Geschehnisse nur in wesentlich geringerem Umfang als geplant, möglicherweise sogar nur durch eine Entscheidung über die Unterbrechung des Verfahrens nach § 228 StPO gefördert werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 16. November 2017 – 3 StR 262/17 , NStZ 2018, 297, 298 mwN).

bb) Danach wurde in der Sitzung vom 27. November 2020 zur Sache verhandelt. Die Hauptverhandlung sollte an diesem Tag um 9 Uhr mit der Vernehmung eines Zeugen fortgesetzt werden. Nur aufgrund einer auf einen Verteidiger zurückgehenden Erörterung bereits vorliegender Ablehnungsgesuche konnte der Zeuge nicht unmittelbar nach Sitzungsbeginn vernommen werden. Anders als von der Verteidigung erbeten, unterbrach die Vorsitzende nach der infolge des Feueralarms angeordneten Räumung des Gerichtsgebäudes die Sitzung lediglich für eine Stunde und zwanzig Minuten, um anschließend die für diesen Verhandlungstag geplante Beweisaufnahme durchzuführen. Dass dies letztlich nicht möglich war, lag nicht in der Macht der Strafkammer, sondern daran, dass die Feuerwehr den Sitzungsraum gesperrt und kein Ausweichsaal zur Verfügung gestanden hatte. Unter diesen – unvorhersehbaren – Umständen konnte die Strafsache ihrem Abschluss nur durch die Anordnung der Unterbrechung der Hauptverhandlung nach § 228 StPO substantiell näher gebracht werden. Andernfalls hätte die Hauptverhandlung allein aufgrund eines unvorhersehbaren Ereignisses ausgesetzt und mit ihr von neuem begonnen werden müssen ( § 229 Abs. 4 Satz 1 StPO ). Dies stünde aber weder mit der Verfahrensökonomie noch mit dem Anspruch des Angeklagten auf einen zügigen Abschluss des Verfahrens in Einklang (vgl. BGH aaO).“

StPO I: Pflichtverteidiger ist kein Rechtsanwalt mehr, oder: „Scheinverteidigung“ ist absoluter Revisionsgrund

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Und heute dann StPO-Entscheidungen.

Zunächst der BGH, Beschl. v. 30.08.2022 – 4 StR 117/22 – zum „Scheinverteidiger“. Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen schweren Raubes verurteilt. Dagegen die Revision. Nach dem Revisionsvorbringen wurde der Angeklagte in der Hauptverhandlung am 10.12.2021, an dem das angefochtene Urteil erging, allein von dem ihm beigeordneten weiteren Pflichtverteidiger verteidigt. Dieser war seit dem 02.12.2021 nicht mehr als Rechtsanwalt zugelassen.

Der BGH hat aufgehoben:

„2. Die Verfahrensrüge ist in zulässiger Weise erhoben. Der Vortrag der Revision genügt den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 25. November 2021 – 4 StR 103/21 Rn. 4 mwN). Die Pflichtverteidigerin trägt unter Mitteilung der erhaltenen schriftlichen Auskunft der Rechtsanwaltskammer Hamm konkret und bestimmt vor, seit wann der weitere Verteidiger nicht mehr zur Rechtsanwaltschaft zugelassen war. Die Ausführungen hierzu sind nicht etwa unklar oder widersprüchlich. Die Revision teilt zusätzlich die – ihrerseits unklaren – Angaben des vormaligen Rechtsanwalts gegenüber der Pflichtverteidigerin dazu mit, wann ihm die Zulassung entzogen worden sei, ohne damit inhaltlich von ihrem Vorbringen abzurücken. Indem sie diese ihr insoweit unter Berücksichtigung von § 76 BRAO allein zugänglichen und die weiteren für den gerügten Verfahrensfehler bedeutsamen Tatsachen vorgetragen hat, ist die Revision den Vortragserfordernissen gerecht geworden (vgl. auch BGH, Beschluss vom 13. März 2019 – 1 StR 532/18 Rn. 5 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 344 Rn. 22).

3. Die Verfahrensrüge ist begründet.

a) Das Erlöschen (13 BRAO) der Anwaltszulassung des Pflichtverteidigers vor dem letzten Hauptverhandlungstag ergibt sich zweifelsfrei bereits aus dem von der Revision übermittelten Schreiben der Rechtsanwaltskammer Hamm.

b) Da es sich vorliegend um einen Fall notwendiger Verteidigung handelt (140 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 5 StPO), begründet die alleinige Mitwirkung des nicht mehr als Rechtsanwalt zugelassenen „Scheinverteidigers“ an der Hauptverhandlung den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO (vgl. BGH, Beschluss vom 13. März 2019 – 1 StR 532/18 Rn. 10; Beschluss vom 20. Juni 2006 – 4 StR 192/06 Rn. 4; Beschluss vom 5. Februar 2002 – 5 StR 617/01, BGHSt 47, 238, 239, 242). Mit der Verlesung der Urteilsformel ist ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung betroffen (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juni 2018 – 1 StR 616/17 Rn. 11; Beschluss vom 6. Juni 2001 – 2 StR 194/01 Rn. 6; Beschluss vom 30. Oktober 1990 – 5 StR 472/90; Urteil vom 26. Juli 1961 – 2 StR 575/60, BGHSt 16, 178, 180).“

Bundesratsinitiative zur Ausdehnung des § 229 StPO, oder: Kein Fristenlauf in Fällen höherer Gewalt

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Und als zweites Posting dann hier der Hinweis darauf, dass es eine Bundesratsinitiative zur Ausdehnung des § 229 StPO gibt.

Die Bundesländer haben nämlich am 07.10.2022 im Bundesrat eine Entschließung zur Änderung der StPO in Form der Erweiterung der Hemmungstatbestände in § 229 StPO um die Fälle der höheren Gewalt verabschiedet (vgl. BR-Drucks. 402/22). Darin fordert der Bundesrat, dass die Unterbrechungsfristen des § 229 StPO auch in Fällen höherer Gewalt nicht laufen. Darunter sollen insbesondere Seuchen und Katastrophen fallen. Gelten soll dies unabhängig davon, ob die Hauptverhandlung bereits zehn Tage gedauert hat. Anstelle einer zeitlich befristeten Regelung, die es für die Corona-Zeit gab und die sich bewährt habe, sei eine dauerhafte Lösung geboten. Die geltenden Vorgaben würden auch den Fall einer Quarantäne nicht erfassen, weil es sich dabei lediglich um den Verdacht einer Krankheit und nicht um eine tatsächliche Krankheit handele. Weitere denkbare Anwendungsfälle für „höhere Gewalt“ seien Sperrungen des Luftraumes, wie es sie z.B. aufgrund der Aschewolke des Vulkans Eyjafjallajökull im Jahr 2010 oder aufgrund von Terroranschlägen bereits gegeben habe.

Man darf gespannt sein, wie die Bundesregierung auf diese Initiative reagieren wird. M.E. ist an der Stelle Vorsicht geboten. Denn im Ergebnis führen solche Hemmungen zu einer Ausdehnung und Zerstückelung der Hauptverhandlung.

Pflichti III: Nochmals zur rückwirkenden Bestellung, oder: Uneinigkeit im Haus

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Und dann im letzten Beitrag noch einige Entscheidungen zur Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung. Dazu kann man inzwischen feststellen, dass die wohl herrschende Meinung in der Rechtsprechung der LG/AG die rückwirkende Bestellung als zulässig ansieht. Das lässt sich in etwa folgenden Leitsätzen zusammenfassen:

1. Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ist vorzunehmen, weil ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde.
2. „Unverzüglich“ im Sinnde des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO bedeutet, dass über den Beiordnungsantrag in der Regel innerhlab von zwei Wochen zu entscheiden ist.
3. Die Möglichkeit, nahc § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO von einer Bestellung in denjenigen Fällen abzusehen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, gilt ausdrücklich nicht für Fälle einer notwendigen Verteidigung nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO.

Dazu hier dann LG Flensburg, Beschl. v. 05.10.2021 – II Qs 45/21, LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 31.05.2022 – 5/6 Qs 20/22 zur (rückwirkenden) Bestellung im Strafbefehlsverfahren, wenn im Zeitpunkt der Entscheidung die Bestellungsvoraussetzungen nicht mehr vorliegen, LG Kiel, Beschl. v. 30.08.2021 – 1 Qs 30/21LG Kiel, Beschl. v. 22.7.2022 – 5 Qs 7/22 und LG Konstanz, Beschl. v. 10.09.2022 – 3 Qs 68/22.

Teilweise wird die rückwirkende Bestellung aber auch als unzulässig angesehen, wie z.B. hier der LG Kiel, Beschl. v. 31.03.2022 – 10 Qs 19722 und der AG Flensburg, Beschl. v. 04.08.2022 – 480 Gs 829/22.

Was mich immer erstaunt ist die teilweise uralte Rechtsprechung, die zur Stützung der ablehnenden Ansicht herangezogen wird, und: Warum ist man sich nicht innerhalb eines Gerichts einig, wie man entscheiden will – siehe die Entscheidungen aus Kiel 🙂 .