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StPO II: Schriftliche Anklageübersetzung erst in der HV, oder: (Immer) Aussetzung des Verfahrens?

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Bei der zweiten Entscheidung zur Anklage geht es um die Frage der Aussetzung der Hauptverhandlung, wenn der Angeklagte eine schriftliche Übersetzung der Anklageschrift erst in der HV erhält. Es handelt sich um den BGH, Beschl. v. 21.02.2024 – 3 StR 373/23.

Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen eines schweren sexuellen Übergriffs verurteilt. Der inhaftierte rumänische Angeklagte versteht kein Deutsch. Er erhielt die Anklageschrift nur in deutscher Sprache übersandt. Zu Beginn der Haupt­verhandlung wurde die Anklage verlesen und für den Angeklagten durch einen Dolmet­scher übersetzt. Unter Hinweis darauf, er habe bisher keine schriftliche Überset­zung der Anklage erhalten, beantragte der Angeklagte die Aussetzung des Ver­fahrens. Die bei den Akten befindliche, ins Rumänische übersetzte Anklage wurde dem Angeklagten dann übergeben.

Das LG unterbrach die Hauptver­handlung und bestimmte einen Termin zur Fortsetzung in neun Tagen. Eine Aussetzung der Hauptverhandlung wurde abgelehnt. Das sei zur Wahrung eines fairen Verfah­rens nicht notwendig sei, da der in der Anklage dargelegte Sachverhalt nur eine Tat umfasste und dem Angeklagten bereits bekannt sei. Denn der Angeklagte habe sich je­weils in Anwesenheit eines Dolmetschers schon in einem Haftprüfungstermin zum Tatvorwurf eingelassen und die Anklageschrift mit seinem Verteidiger erörtert. Die Revision des Angeklagten blieb erfolglos:

Die Verfahrensrüge ist zulässig erhoben, hat in der Sache aber keinen Erfolg. Die Ablehnung des Aussetzungsantrages bei gleichzeitiger Unterbrechung der Hauptverhandlung ist nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat mit dieser Vorgehensweise weder § 265 Abs. 4 StPO noch das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK verletzt. In der gegebenen Situation war das Ermessen der Strafkammer nicht „auf null“ dahin reduziert, dass das Verfahren zwingend auszusetzen war.

Der Angeklagte moniert zwar im Ausgangspunkt zutreffend einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 Buchst. a EMRK in Verbindung mit § 201 Abs. 1 Satz 1 StPO, § 187 Abs. 2 Satz 1 und 3 GVG dadurch, dass er die übersetzte Anklageschrift nicht bereits vor der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens erhielt. Nach den genannten Normen hatte er das Recht, innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihm verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden, hier in Form einer schriftlich übersetzten Anklage zu einem Zeitpunkt jedenfalls vor Beginn der Hauptverhandlung. Ein Ausnahmefall von diesem Erfordernis, der namentlich dann gegeben sein kann, wenn der Verfahrensgegenstand tatsächlich und rechtlich einfach zu überschauen ist, lag nicht vor (vgl. im Einzelnen BGH, Beschluss vom 10. Juli 2014 – 3 StR 262/14, BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. a Unterrichtung 1; Urteil vom 23. Dezember 2015 – 2 StR 457/14, BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. a Anklageschrift 1 Rn. 24).

 

Der Verfahrensverstoß wirkt sich jedoch infolge der Aushändigung der übersetzten Anklage am ersten Tag der Hauptverhandlung in Verbindung mit deren längerer Unterbrechung im Ergebnis nicht aus. Ein Anspruch des Angeklagten auf Aussetzung des Verfahrens bestand nicht. Hierzu im Einzelnen:

1. Nach § 265 Abs. 4 StPO hat das Gericht die Hauptverhandlung auszusetzen, wenn dies infolge einer Veränderung der Sach- oder Verfahrenslage zur Vorbereitung der Verteidigung angemessen erscheint. Grundsätzlich kann jede vom Angeklagten nicht verschuldete Verschlechterung seiner Verteidigungsmöglichkeit Anlass zur Aussetzung geben (BGH, Beschluss vom 27. Juni 2018 – 1 StR 616/17, NStZ 2019, 481 Rn. 23). Ob die Verhandlung auszusetzen ist, entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen, dessen Ausübung es in seinem Beschluss darzustellen hat. Maßgebend hierfür ist, ob die prozessuale Fürsorgepflicht und die Gewährleistung eines fairen Verfahrens die Aussetzung gebieten (vgl. BGH, Beschlüsse vom 2. Februar 2000 – 1 StR 537/99, BGHR StPO § 265 Abs. 4 Verteidigung, angemessene 6; vom 25. Juni 2002 – 5 StR 60/02, BGHR StPO § 265 Abs. 4 Verteidigung angemessene 8; Urteil vom 30. August 2012 – 4 StR 108/12, NStZ 2013, 122, 123 mwN).

Nach teilweise vertretener Auffassung ist das in Fällen einer verspäteten Überlassung der (übersetzten) Anklage immer der Fall. Es bestehe eine Aussetzungspflicht (OLG Celle, Beschluss vom 24. Juni 1997 – 21 Ss 73/97, StV 1998, 531; Rübenstahl, StraFo 2005, 30, 32; LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 201 Rn. 44, 49; KK-StPO/ Schneider, 9. Aufl., § 201 Rn. 11; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 201 Rn. 10, jeweils mwN). Begründet wird dies mit der hohen Bedeutung der rechtzeitigen Unterrichtung des Angeklagten von den verfahrensgegenständlichen Vorwürfen.

Der Bundesgerichtshof hat die Frage, ob beim Umgang mit einer verspäteten Überlassung der Anklageschrift im Rahmen der Entscheidung nach § 265 Abs. 4 StPO freies Ermessen besteht oder ob dieses derart reduziert ist, dass die Verteidigungsrechte allein mit einer Aussetzung des Verfahrens zu wahren sind, bislang ausdrücklich offengelassen (BGH, Urteil vom 23. Dezember 2015 – 2 StR 457/14, BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. a Anklageschrift 1 Rn. 25; s. auch MüKoStPO/Wenske, 2. Aufl., § 201 Rn. 40 f.).

2. Von dem Grundsatz des freien Ermessens in § 265 Abs. 4 StPO ist in der vorliegenden Konstellation nicht abzuweichen. Vielmehr ist es hier wie bei anderen von § 265 Abs. 4 StPO erfassten Verfahrensfehlern eine Frage des Einzelfalls, wie das Gericht ein faires Verfahren gewährleistet und sicherstellt, dass die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten im Ergebnis nicht unangemessen verkürzt werden. Unter Umständen kann hierfür eine – gegebenenfalls längere – Unterbrechung der Hauptverhandlung genügen. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:

a) Gegen eine Aussetzungsplicht spricht bereits, dass der Gesetzgeber sie für andere Verfahrenskonstellationen zur Gewährleistung einer hinreichenden Verteidigung ausdrücklich vorgeschrieben hat. Zu nennen sind insoweit die Nichteinhaltung der Ladungsfrist (§ 217 Abs. 2, § 228 Abs. 3 StPO), der Übergang vom Sicherungs- in das Strafverfahren (§ 416 Abs. 2 Satz 2 StPO) oder das neue Hervortreten taterschwerender Umstände (§ 265 Abs. 3 StPO; s. dazu BGH, Urteil vom 24. Januar 2003 – 2 StR 215/02, BGHSt 48, 183, 186 ff.). Für den Fall der verspäteten Überlassung der (übersetzten) Anklageschrift existiert eine entsprechende Vorschrift nicht.

b) Wollte man § 265 Abs. 4 StPO eine strikte Aussetzungspflicht im Fall der verspäteten Anklageüberlassung entnehmen, ginge dies über die europarechtlichen Vorgaben hinaus. Die europäischen Rechtsnormen und die sie ausformende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die bei der Auslegung des nationalen Prozessrechts zu beachten sind (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307, 317 ff.; vom 18. Dezember 2014 – 2 BvR 209/14 u.a., NJW 2015, 1083 Rn. 41; BGH, Urteil vom 4. Mai 2017 – 3 StR 323/16, NStZ 2018, 51, 53), verlangen in diesen Fällen ebenfalls keine Aussetzung des Verfahrens.

Art. 6 Abs. 3 Buchst. a EMRK gibt lediglich vor, dass generell ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung bestehen muss, und besagt nichts darüber, in welcher Form das Gericht diese zu gewähren hat. Wird der Angeklagte über die gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe nicht im Sinne des Art. 6 Abs. 3 Buchst. a EMRK innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihm verständlichen Sprache unterrichtet, ist dies nach europäischem Recht grundsätzlich heilbar. Denn ein Verstoß gegen eine einzelne Regel der Menschenrechtskonvention macht das Strafverfahren nicht ohne Weiteres zu einem unfairen. Für eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK kommt es darauf an, ob das Strafverfahren insgesamt fair war. Dies muss in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung des gesamten Verfahrensablaufs und nicht auf der Grundlage einer isolierten Beurteilung eines besonderen Aspekts oder Geschehens geprüft werden. Hierbei sind die Mindestrechte nach Art. 6 Abs. 3 EMRK zu berücksichtigen; sie sind aber kein Selbstzweck. Ihr eigentliches Ziel ist die Fairness des Strafverfahrens insgesamt zu gewährleisten (st. Rechts. des EGMR; s. etwa EGMR, Urteil vom 9. November 2018 – 71409/10, NJW 2019, 1999 Rn. 120 ff. mwN). Verstöße können dadurch kompensiert werden, dass dem Angeklagten genommene Einflussmöglichkeiten in einem späteren Verfahrensstadium eingeräumt oder fehlerhafte Verfahrensteile wiederholt werden, wenn dadurch insgesamt seine Rechtsstellung gewahrt wird und der Fehler sich damit im Ergebnis nicht auswirkt. Der fair-trial-Grundsatz aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK ist nur verletzt, wenn im Verfahren in seiner Gesamtheit rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde. Um die Subjektstellung des Beschuldigten in einem rechtlich geordneten Strafprozess zu schützen, muss ihm insbesondere die Möglichkeit gegeben werden, aktiv auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2500/09 u.a., BVerfGE 130, 1, 25; Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 u.a., BVerfGE 133, 168 Rn. 58; s. auch BGH, Beschluss vom 29. November 2006 – 1 StR 493/06, BGHSt 51, 150 Rn. 16; Urteil vom 4. Mai 2017 – 3 StR 323/16, NStZ 2018, 51, 52; KK-StPO/Lohse/Jakobs, 9. Aufl., EMRK Art. 6 Rn. 41 ff.; HK-EMRK/Harrendorf/König/Voigt, 5. Aufl., EMRK Art. 6 Rn. 105).

Auch die Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, die Beschuldigten das Recht auf schriftliche Übersetzung wesentlicher Unterlagen innerhalb einer angemessenen Frist auf Staatskosten gewährt, dient lediglich der Schaffung von Mindeststandards innerhalb der Europäischen Union. Spezifische verfahrensrechtliche Konsequenzen bei Nichtgewährung entsprechender Leistungen sieht die Richtlinie nicht vor.

c) Gegen einen strikten Aussetzungsanspruch des Angeklagten spricht außerdem die Vielfalt der möglichen Verfahrens- und Fallkonstellationen bei einer verspäteten Überlassung der Anklage.

Große Unterschiede können schon hinsichtlich Umfang und Komplexität der Sachverhalte und damit des Zeitraums bestehen, der für eine angemessene Vorbereitung der Verteidigung im Sinne des Art. 6 Abs. 3 Buchst. b EMRK zu veranschlagen ist. In einfach gelagerten Fällen genügen hierfür wenige Stunden oder Tage; andere erfordern über drei Wochen (vgl. § 229 Abs. 1 StPO).

Für die Möglichkeit der ordnungsgemäßen Verteidigung ist außerdem von Bedeutung, zu welchem Zeitpunkt der Angeklagte die Kenntnis von der (übersetzten) Anklage erhält. Wird ihm die Anklage oder deren Übersetzung – wie hier – vor oder zu Beginn der Hauptverhandlung überlassen, kann er seine Verteidigung in der Regel noch auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe einstellen und als Subjekt des Verfahrens aktiv Einfluss auf dessen Gang und Ergebnis nehmen. Wird der Angeklagte der Tatvorwürfe dagegen erst zu einem späten Stadium der Hauptverhandlung gewahr, in dem bereits ein wesentlicher Teil von ihr durchgeführt ist, kann es zur angemessenen Wahrung seiner Verteidigungsrechte geboten sein, mit der Hauptverhandlung von vorn zu beginnen. Das gilt insbesondere bei einer in Unkenntnis der Anklageschrift abgegebenen Einlassung (vgl. BGH, Urteil vom 23. Dezember 2015 – 2 StR 457/14, BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. a Anklageschrift 1 Rn. 26). Generell gilt:

Je größer der Umfang der vor der Unterrichtung stattgefundenen Hauptverhandlung und je komplexer Tatvorwurf und Beweislage, desto näher liegt die Aussetzung. Je einfacher der Verfahrensstoff und je früher die Unterrichtung, desto eher genügt eine Unterbrechung des Verfahrens.

d) Gegen eine Aussetzungspflicht in jedem Einzelfall spricht schließlich, dass das Gericht im Rahmen seiner Justizgewährungspflicht bei der Entscheidung nach § 265 Abs. 4 StPO auch die Interessen anderer Verfahrensbeteiligter und den Beschleunigungsgrundsatz zu wahren hat (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Juli 2018 – 1 StR 34/18, NStZ 2018, 673, 675). Die verspätete Unterrichtung vom Anklagevorwurf wiegt nicht stets derart schwer, dass andere Verfahrensgrundsätze zwingend in den Hintergrund treten, wie dies bei einer generellen Aussetzungspflicht der Fall wäre.

3. Nach allem durfte das Landgericht in der vorliegenden Verfahrenssituation die Unterbrechung der Hauptverhandlung einer Aussetzung vorziehen. Es hat das ihm insoweit zustehende Ermessen erkannt, es in nicht zu beanstandender Weise ausgeübt und seine Entscheidung nachvollziehbar begründet (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 27. Juni 2018 – 1 StR 616/17, NStZ 2019, 481 Rn. 23; s. auch BGH, Urteil vom 23. Dezember 2015 – 2 StR 457/14, BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. a Anklageschrift 1 Rn. 25).

Ermessensfehler sind ihm dabei nicht unterlaufen. Auch die Unterbrechungsdauer von neun Tagen liegt innerhalb des dem Tatgericht nach § 228 Abs. 1 StPO zustehenden Spielraums. Dass sich der Angeklagte in dieser Zeitspanne nicht genügend auf die Hauptverhandlung vorbereiten konnte, trägt er selbst nicht vor. Es ist auch nicht ersichtlich, dass diese Unterbrechungsdauer nicht ausreichte, zumal sie die Ladungsfrist des § 217 Abs. 1 StPO überstieg, die der Gesetzgeber als grundsätzlich genügend für die Vorbereitung auf eine Hauptverhandlung ansieht (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Mai 1971 – 3 StR 10/71, BGHSt 24, 143, 146).

StPO I: Anspruch auf schriftliche Übersetzung, oder: Reicht mündliche Übersetzung des Anklagesatzes?

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Ich stelle heute drei Entscheidungen des BGH zur StPO vor, zwei befassen sich mit der Übersetzung der Anklage. Beide Entscheidungen können m.E. bei der Verteidigung eines ausländischen Mandanten, der der deutschen Sprache nicht hinreichen mächtig ist, von Bedeutung sein.

Die erste Entscheidung stammt vom 1. Strafsent. Der hat im BGH, Beschl. v. 05.03.2024 – 1 StR 366/23 – noch einmal zu den Fragen Stellung gemommen, die mit der schriftlichen Übersetzung der Anklageschrift zusammenhängen.

Das LG hatte den Angeklagten u.a. wegen versuchten Mordes verurteilt. Der der deutschen Sprache nur rudimentär mächtige Angeklagte bean­tragte erfolglos zu Beginn der Hauptverhandlung deren Aussetzung. Zur Begründung hat er u.a. ausgeführt, dass er, auch wenn er die kurdische Sprache besser spreche als die türkische, geschriebene Texte nur auf Türkisch verstehen könne. Eine türkische Übersetzung der Anklageschrift sei ihm nicht ausgehändigt wor­den. Eine schriftliche Übersetzung der Anklageschrift in die türkische Spra­che erhielt der Angeklagte bis zum Schluss der Hauptverhandlung nicht. Am 6. Verhandlungstag gab der Angeklagte eine bestreitende Einlassung ab. Der An­klagesatz war für den Angeklagten während seiner Verlesung mündlich über­setzt worden, ebenso der weitere Verlauf der Hauptverhandlung. Die Revision des Angeklagten hatte Erfolg:

„2. Die zulässig erhobene (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) Verfahrensrüge ist begründet. Der Angeklagte wurde in seinem Recht aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) EMRK verletzt, innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihm verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden.

a) Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) EMRK gewährt dem der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Beschuldigten grundsätzlich das Recht auf Übersendung einer Übersetzung der Anklageschrift in einer für ihn verständlichen Sprache. Dies hat in aller Regel schon vor der Hauptverhandlung zu geschehen. Denn ein Angeklagter kann auf die das Strafverfahren abschließende Entscheidung nur dann hinreichend Einfluss nehmen, wenn ihm der Verfahrensgegenstand in vollem Umfang bekannt ist, was nicht zuletzt die Kenntnis der Anklageschrift einschließlich des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen voraussetzt. Die mündliche Übersetzung allein des Anklagesatzes genügt nur in Ausnahmefällen, namentlich dann, wenn der Verfahrensgegenstand tatsächlich und rechtlich einfach zu überschauen ist (vgl. BGH, Urteil vom 23. Dezember 2015 – 2 StR 457/14, BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. a Anklageschrift 1 Rn. 23 f.; Beschluss vom 10. Juli 2014 – 3 StR 262/14, BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. a Unterrichtung 1 Rn. 4).

b) Letzteres trifft auf den dem Angeklagten zur Last gelegten Vorwurf des Mordes, zumal unter Annahme von zwei Mordmerkmalen, nicht zu. Jedenfalls angesichts der Schwere und Komplexität des konkret erhobenen Tatvorwurfs genügte auch der Haftbefehl vom 29. Juni 2022, der dem Angeklagten in türkischer Übersetzung ausgehändigt worden war, nicht, um diesen über Art und Grund der in der Hauptverhandlung erhobenen Beschuldigung in allen Einzelheiten zu informieren; der Angeklagte ist nicht gehalten, den Haftbefehl mit der Anklage abzugleichen. Dies gilt erst recht mit Blick darauf, dass dem Angeklagten mit dem Haftbefehl – anders als mit dem zu Beginn der Hauptverhandlung verlesenen Anklagesatz (§ 243 Abs. 3 Satz 1 StPO) – die Erfüllung von lediglich einem Mordmerkmal angelastet worden war. Ein Angeklagter kann auf die das Strafverfahren abschließende Entscheidung nur dann hinreichend Einfluss nehmen, wenn ihm der Verfahrensgegenstand in vollem Umfang bekannt ist (BGH, Urteil vom 23. Dezember 2015 – 2 StR 457/14, BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. a Anklageschrift 1 Rn. 24).

c) Die vorstehenden Ausführungen gelten entsprechend mit Blick auf die gerügte Verletzung des § 187 Abs. 2 Satz 1, Satz 3 GVG.

d) Dass der Angeklagte einen Verteidiger hat, führt unter den hier gegebenen Umständen – auch unter Berücksichtigung des § 187 Abs. 2 Satz 5 GVG – zu keiner abweichenden rechtlichen Bewertung (vgl. BGH, Urteil vom 23. Dezember 2015 – 2 StR 457/14 aaO; Beschluss vom 10. Juli 2014 – 3 StR 262/14, BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. a Unterrichtung 1 Rn. 4 mwN).

3. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf einem etwaigen Informationsdefizit des Angeklagten beruht. Es kann dahinstehen, in welchem Umfang und zu welchen Beweistatsachen zu dem Zeitpunkt, zu dem sich der Angeklagte zur Sache eingelassen hat, die Beweisaufnahme bereits durchgeführt worden war. Denn nach der Wiedergabe seiner Einlassung in den Urteilsgründen hat er das Tatgeschehen in weiten Teilen abweichend vom Anklagevorwurf geschildert. Damit hat er sich in vollem Umfang gegen die ihm angelastete Beschuldigung gestellt, soweit diese sich im bisherigen Verlauf der Beweisaufnahme bereits abgebildet hatte (insoweit anders: BGH, Beschluss vom 10. Juli 2014 – 3 StR 262/14, BGHR MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. a Unterrichtung 1 Rn. 5 [umfassendes Geständnis]; vgl. Urteil vom 23. Dezember 2015 – 2 StR 457/14 Rn. 12, 26 [überwiegendes Bestreiten]). Es ist nicht auszuschließen, dass der Angeklagte insgesamt in anderer Weise als tatsächlich erfolgt auf den Verfahrensverlauf Einfluss genommen hätte, wäre er gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) EMRK über Art und Umfang des Tatvorwurfs in allen Einzelheiten frühzeitig informiert worden“.

StPO I: Auf Stellungnahmen muss man nicht warten, oder: Angekündigte Stellungnahme und Frist

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Und dann geht es auf in die neue Woche, und zwar mit zwei Entscheidungen zum rechtlichen Gehör bzw. zur Anhörungsrüge, und zwar der BGH, Beschl. v. 14.11.2023 – 4 StR 239/23.

In der Entscheidung hat der BGH einen Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden des 4. Strafsenats, der damit begründet war, dass dem Angeklagten keine Fristverlängerung gewährt und kein weiterer Pflichtverteidiger bestellt wordne ist, zurückgewiesen. Zur Ablehnung hier nur der Leitsatz:

Wird die Richterablehnung mit der Vorbefassung des abgelehnten Richters mit der Sache begründet, ist dieser Umstand regelmäßig nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen. Anders verhält es sich nurbeim Hinzutreten besonderer Umstände, die über die Tatsache bloßer Vorbefassung als solcher und der damit verbundenen inhaltlichen Äußerung hinausgehen.

Das ist h.M. in der Rechtsprechung. Und der BGH führt dann zur angelehnten Fristverlängerung aus:

„b) Ausgehend von diesen Maßstäben begründet weder die Ablehnung einer Fristverlängerung durch den Vorsitzenden noch die unterlassene Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers die Besorgnis der Befangenheit.

Die in den Ablehnungsgesuchen thematisierten Mitteilungen des Vorsitzenden an den Angeklagten und an seinen Verteidiger Rechtsanwalt S., wonach eine Fristverlängerung nicht in Betracht komme, entsprechen – sowohl im Hinblick auf die Frist des § 345 Abs. 1 StPO als auch des § 349 Abs. 3 Satz 2 StPO – der Gesetzeslage (vgl. BGH, Beschluss vom 10. November 2021 – 2 StR 189/21, juris Rn. 4; Beschluss vom 24. Januar 2017 – 3 StR 447/16, NStZ-RR 2017, 148; Beschluss vom 13. Dezember 2007 – 1 StR 497/07, juris Rn. 4). Zudem entspricht es der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass Stellungnahmen zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts nach Ablauf der Frist des § 349 Abs. 3 Satz 2 StPO selbst dann nicht abgewartet zu werden brauchen, wenn sie ausdrücklich in Aussicht gestellt worden sind (vgl. BGH, Beschluss vom 31. August 2021 – 2 StR 189/21, juris Rn. 3; Beschluss vom 30. Juli 2008 – 2 StR 234/08, NStZ-RR 2008, 352). Dies gilt selbst dann, wenn der Beschwerdeführer gleichzeitig um Überlassung der Akten bittet (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Juli 1990 – 4 StR 263/90, juris Rn. 4; Löwe-Rosenberg/Franke, 26. Aufl., § 349 Rn. 20). Die Ablehnung eines weiteren Entscheidungsaufschubs durch den Vorsitzenden war – zumal nach anfänglichem Zuwarten mit einer Entscheidung auf eine entsprechende Eingabe des Angeklagten hin – in Ermangelung eines sachlichen Grundes hierfür unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgrundsatzes sachgerecht.

Gleiches gilt für die von dem Angeklagten angeführten Erwägungen, der Vorsitzende habe ihm einen oder mehrere weitere Pflichtverteidiger beiordnen und für die Übermittlung des Antrags des Generalbundesanwalts an ihn persönlich Sorge tragen müssen. Der Angeklagte ist durch zwei Pflichtverteidiger vertreten. Anhaltspunkte dafür, dass durch diese eine ordnungsgemäße Verteidigung nicht gewährleistet ist, ergeben sich weder aus dem Vortrag des Angeklagten noch sind solche Umstände sonst ersichtlich. Ob ein Verteidiger von der Möglichkeit zur Stellungnahme zum Antrag des Generalbundesanwalts Gebrauch macht, obliegt allein seiner Verantwortung (vgl. KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 349 Rn. 20 mwN). Eine Pflicht des Revisionsgerichts oder des Vorsitzenden, auf die Abgabe einer Stellungnahme nach § 349 Abs. 3 Satz 2 StPO hinzuwirken, existiert ebenso wenig wie eine solche zur zusätzlichen Übermittlung der Antragsschrift nach § 349 Abs. 3 Satz 1 StPO an den verteidigten Beschwerdeführer persönlich (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2001 – 5 StR 278/01, juris Rn. 1 mwN).“

Und das hat der BGh dann später noch einmal im BGH, Beschl. v. 14.02.2024 – 4 StR 239/23 – bestätigt.

Verfahrensrüge II: Aufklärungsrüge der StA scheitert, oder: Durchsuchungsbericht fehlt

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Im zweiten Posting stelle ich dann das BGH, Urt. v. 15.05.2024 – 6 StR 374/23 – vor. Das LG hat den Angeklagten vom Vorwurf u.a. des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision. Die hatte keinen Erfolg:

„1. Mit der Anklage hat die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten zur Last gelegt, am 18. November 2022 in seiner Wohnung Betäubungsmittel – unter anderem rund 3,7 kg Cannabisblüten und 31,7 g Kokain – gelagert zu haben, die überwiegend zum gewinnbringenden Weiterverkauf durch ihn bestimmt gewesen seien. Zudem habe er in Griffweite der Betäubungsmittel verschiedene Waffen und waffenähnliche Gegenstände aufbewahrt, darunter eine mit Stahlkugeln geladene Druckgaspistole, eine Armbrust, eine Machete und einen Teleskopschlagstock, die zur Absicherung seiner Betäubungsmittelgeschäfte gedient hätten.

Das Landgericht hat zum Anklagevorwurf keine näheren Feststellungen getroffen. Der Angeklagte hat sich auf sein Schweigerecht berufen. Die Ergebnisse einer bei ihm durchgeführten Wohnungsdurchsuchung hat die Strafkammer für unverwertbar erachtet.

a) Hierzu hat sie in dem angegriffenen Urteil festgestellt, dass der Zeuge KHK M. und weitere Polizeibeamte am Vormittag des 18. November 2022, einem Freitag, zur Vollstreckung eines Durchsuchungsbeschlusses wegen des Verdachts des Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge die vermeintliche Wohnanschrift des Angeklagten aufsuchten. Seine dort lebende Mutter teilte den Beamten mit, dass ihr Sohn nicht mehr bei ihr wohne. Nachdem ihr der Grund der beabsichtigten Durchsuchung erläutert und sie über ihr Zeugnisverweigerungsrecht belehrt worden war, erklärte sie, Angaben machen zu wollen, weil ihr Sohn schon längere Zeit Probleme habe. Sie teilte seine neue – etwa vier Kilometer entfernte – Anschrift mit und versicherte den Beamten, dass sie ihn nicht über den polizeilichen Einsatz informieren werde. Zudem erklärte sie sich damit einverstanden, dass Polizeibeamte bei ihr bleiben könnten, bis die Wohnung ihres Sohnes durch die Polizei gesichert sei. Zwei Polizeibeamte blieben sodann bei ihr.

Vor Antritt der etwa fünfminütigen Fahrt zur neuen Anschrift des Angeklagten teilte der Zeuge KHK M. die neuen Erkenntnisse zur Wohnanschrift des Angeklagten telefonisch der zuständigen Dezernentin der Staatsanwaltschaft mit, die sogleich die sofortige Durchsuchung der neuen Wohnung des Angeklagten wegen Gefahr im Verzug anordnete. Die Gründe für die Annahme von Gefahr im Verzug wurden nicht in der Akte dokumentiert.

b) Die Strafkammer hat die Ergebnisse der Wohnungsdurchsuchung für unverwertbar erachtet, weil ein bewusster und schwerwiegender Verstoß gegen den Richtervorbehalt nach Art. 13 Abs. 2 GG und § 105 Abs. 1 Satz 1 StPO vorliege. Für die Annahme von Gefahr im Verzug habe es keine ernsthaften Anknüpfungstatsachen gegeben. Zudem sei ausreichend Zeit und Gelegenheit gewesen, zumindest telefonisch einen Ermittlungsrichter zu erreichen; dies sei aber noch nicht einmal versucht worden.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft bleibt ohne Erfolg.

1. Die von der Beschwerdeführerin erhobenen Aufklärungsrügen, die jeweils darauf abzielen, das Landgericht hätte wegen unzutreffender Annahme eines Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbot weitere Beweise erheben müssen, genügen nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO und erweisen sich deshalb als unzulässig.

a) Die Beschwerdeführerin hat es jeweils versäumt, den polizeilichen Durchsuchungsbericht vom 22. November 2022 vorzulegen. Dessen hätte es jedoch bedurft, um dem Senat die erforderliche eigene umfassende Überprüfung des Verfahrens im Hinblick auf den behaupteten Rechtsfehler zu ermöglichen. Der Inhalt des anlässlich der Durchsuchung gefertigten polizeilichen Vermerks ist sowohl für die Annahme von Gefahr im Verzug als auch für die Beurteilung des Gewichts eines eventuellen Verfahrensverstoßes von wesentlicher Bedeutung (vgl. BGH, Urteile vom 12. Juli 2023 – 6 StR 417/22, Rn. 6; vom 10. Juli 2014 – 3 StR 140/14, Rn. 16; Beschlüsse vom 1. Februar 2022 – 5 StR 373/21; vom 16. Februar 2016 – 5 StR 10/16, Rn. 4; vom 24. Januar 2012 – 4 StR 493/11; vom 2. Dezember 2010 – 4 StR 464/10; KK-StPO/Henrichs/Weingast, 9. Aufl., § 105 Rn. 23; MüKo-StPO/Hauschild, 2. Aufl., § 105 Rn. 45).

b) Die Vorlage des polizeilichen Durchsuchungsvermerks durch die Beschwerdeführerin war auch nicht deshalb entbehrlich, weil sie zudem die Sachrüge erhoben und das Landgericht im Rahmen seiner schriftlichen Urteilsgründe nähere Ausführungen zu dem nach seiner Ansicht bestehenden Beweisverwertungsverbot gemacht hat. Denn es ist für den Senat nicht sicher erkennbar, ob die in den Urteilsgründen – in nicht gebotener Weise (vgl. BGH, Urteile vom 12. Juli 2023 – 6 StR 417/22, Rn. 6; vom 14. Dezember 2022 – 6 StR 340/21, Rn. 19) – dargestellten Verfahrenstatsachen die für die Annahme von Gefahr im Verzug und die Verwertbarkeit der Durchsuchungs-erkenntnisse maßgebliche Beweislage vollständig wiedergeben; Zweifel daran bestehen schon deshalb, weil die Revision weitere Inhalte des Telefonats vom 18. November 2022 zwischen dem Zeugen KHK M.    und der Dezernentin der Staatsanwaltschaft behauptet, die nicht Eingang in das Urteil gefunden haben.

Das Landgericht hat lediglich die von ihm für wesentlich erachteten Beweisergebnisse dargestellt und in erster Linie unter deren Würdigung seine Auffassung begründet, es liege ein Beweisverwertungsverbot vor. Die Kenntnisnahme des maßgebenden Akteninhalts durch den Senat selbst kann aber nicht durch die Darstellung vom Landgericht ausgewählter Teile ersetzt werden (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juli 2014 – 3 StR 140/14, Rn. 17; Beschluss vom 29. April 2015 – 1 StR 235/14, Rn. 50).

2. Mit ihrer in allgemeiner Form erhobenen Sachrüge dringt die Beschwerdeführerin ebenfalls nicht durch.

a) Die Urteilsgründe genügen den sich aus § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO ergebenden formellen Anforderungen an ein freisprechendes Urteil (vgl. BGH, Urteile vom 2. Juni 2022 – 2 StR 353/21, Rn. 15; vom 27. Februar 2020 – 4 StR 568/19, Rn. 6). Das Landgericht hat den Anklagevorwurf dargestellt und in nachvollziehbarer Weise mitgeteilt, dass verwertbare Beweise zum Beleg des Tatvorwurfs nicht vorgelegen haben.

b) Das Urteil genügt auch den sachlich-rechtlichen Anforderungen an einen Freispruch. ……“

StPO II: Verzögerung 6 Jahre, 11 Monate, 2 Wochen, oder: Für ein Verfahrenshindernis nicht langsam genug

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Und dann habe ich hier den BGH, Beschl. v. 17.01.2024 – 2 StR 100/23 – zur Frage der Verfahrensverzögerung und wie man damit umgeht.

Im sog. Rechtsgang ist der Angeklagte durch Urteil vom 19.06.2014 – bei Teileinstellung im Übrigen – wegen Urkundenfälschung in 24 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt, von der es drei Monate wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung für vollstreckt erklärt hat. Auf die Revision des Angeklagten hat der BGH dieses Urteil mit Beschluss vom 28. Juli 2015 teilweise u.a. im Ausspruch über die Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Das LG hat dann zweiten Rechtsgang mit Urteil vom 06.12.2017 erneut verurteilt und angeordnet, dass von der erstgenannten Gesamtfreiheitsstrafe wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung sechs Monate, eine Woche und drei Tage als vollstreckt gelten.

Dagegen die Revision, mit der u.a. ein Verfahrenshindernis aufgrund einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung geltend gemacht wird. Das liegt nach Auffassung des BGH nicht vor.

„1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird ein Verfahrenshindernis begründet durch Umstände, die es ausschließen, dass über einen Prozessgegenstand mit dem Ziel einer Sachentscheidung verhandelt werden darf. Diese müssen so schwer wiegen, dass von ihnen die Zulässigkeit des gesamten Verfahrens abhängig gemacht werden muss (st. Rspr., vgl. BGH, Urteile vom 25. Oktober 2000 – 2 StR 232/00, BGHSt 46, 159, 168 f.; vom 11. August 2016 – 1 StR 196/16, wistra 2017, 108, 109).

Ein Anwendungsfall wird innerhalb dieser Rechtsprechung in der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung gesehen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 2000 – 2 StR 232/00, BGHSt 46, 159). So verletzt eine erhebliche Verzögerung eines Strafverfahrens den Betroffenen in seinem aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) herrührenden Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren und zugleich die in Artikel 6 Abs. 1 MRK niedergelegte Gewährleistung, die eine Sachentscheidung innerhalb angemessener Dauer sichern soll (vgl. BGH, Beschluss vom 13. November 2003 – 5 StR 376/03, NStZ 2004, 639, 640 mwN).

Allerdings führt eine Verletzung des Beschleunigungsgebots grundsätzlich nicht zu einem Verfahrenshindernis, sondern ist durch die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verzögerung und ggf. durch eine Kompensation in Anwendung der sog. Vollstreckungslösung ausreichend berücksichtigt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 25. Oktober 2000 – 2 StR 232/00, BGHSt 46, 159, 168 f.; vom 11. August 2016 – 1 StR 196/16, wistra 2017, 108, 109; Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 146; vgl. auch EGMR, Urteile vom 13. November 2008 – 10597/03, StV 2009, 519, 521 Rn. 68; vom 20. Juni 2019 – 497/17, NJW 2020, 1047, 1048 Rn. 55). Lediglich in außergewöhnlichen Sonderfällen, wenn eine angemessene Berücksichtigung des Verstoßes im Rahmen der Sachentscheidung bei umfassender Gesamtwürdigung nicht mehr in Betracht kommt, kann eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ein Verfahrenshindernis begründen, das den Abbruch des Verfahrens rechtfertigen kann (vgl. BGH, Urteile vom 11. August 2016 – 1 StR 196/16, wistra 2017, 108, 109 mwN; vom 6. September 2016 – 1 StR 104/15, wistra 2017, 193, 195 Rn. 30).

2. Ein solch außergewöhnlicher Sonderfall ist vorliegend zu verneinen. Zwar ist festzustellen, dass das Verfahren überlang und insgesamt sechs Jahre, elf Monate und zwei Wochen rechtsstaatswidrig verzögert worden ist. Es genügt jedoch, einen Ausgleich durch eine Kompensationsentscheidung zu gewähren.

a) Dem liegt im Wesentlichen folgender Verfahrensablauf zugrunde:

aa) Bis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung liegen nach den durch die Revision nicht beanstandeten Feststellungen und Wertungen des Landgerichts durch die Justizbehörden verursachte Verfahrensverzögerungen von zwei Jahren, vier Monaten und zwei Wochen vor.

Hiernach begannen die Ermittlungen betreffend die aus den Jahren 2004 und 2005 stammenden Taten im Jahr 2007. Im Ermittlungsverfahren fand zwischen dem 28. März 2008 und dem 1. August 2008 über einen Zeitraum von vier Monaten keine Verfahrensförderung statt.

Nach Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft am 20. Oktober 2009 ließ das Landgericht die Anklage mit Beschluss vom 7. April 2011 zu und eröffnete das Hauptverfahren. Die Hauptverhandlung begann am 3. November 2011. Mit Urteil vom 19. Juni 2014 wurde der Angeklagte wegen Urkundenfälschung in 24 Fällen verurteilt. Mit Beschluss vom 28. Juli 2015 – 2 StR 38/15 (NStZ 2016, 430) hob der Senat das Urteil wie ausgeführt auf.

In der Folge gingen die Akten am 23. Oktober 2015 bei der Staatsanwaltschaft und am 29. Oktober 2015 erneut bei dem Landgericht ein. Der Neubeginn der Hauptverhandlung war für den 5. Juli 2017 vorgesehen. Tatsächlich begann sie aufgrund eines Befangenheitsantrags der Verteidigung vom 4. Juli 2017 erst am 18. Oktober 2017. Die Hauptverhandlung endete mit dem nunmehr angefochtenen Urteil vom 6. Dezember 2017.

bb) Daneben stellt der Senat nach Auswertung des Akteninhalts von Amts wegen eine weitere Verfahrensverzögerung von vier Jahren und sieben Monaten nach Erlass der angefochtenen Entscheidung fest.

(1) Zwar ist eine sich nicht aus den Urteilsgründen ergebende Verletzung des Beschleunigungsgebots im Revisionsverfahren grundsätzlich nur auf eine Verfahrensrüge hin zu prüfen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 28. Mai 2020 – 3 StR 99/19, juris Rn. 24). Allerdings ist für Verzögerungen nach Urteilserlass ein Eingreifen des Revisionsgerichts von Amts wegen geboten, wenn der Angeklagte diese Gesetzesverletzung nicht form- und fristgerecht rügen konnte (vgl. BGH, Beschluss vom 2. August 2000 – 3 StR 502/00, NStZ 2001, 52; vom 20. Juni 2007 – 2 StR 493/06, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 32; KK-StPO/Lohse/Jakobs, 9. Aufl., MRK, Art. 6 Rn. 38; MüKo-StGB/Maier, 4. Aufl., § 46 Rn. 514; offengelassen durch BGH, Beschluss vom 26. Juli 2023 – 3 StR 506/22, juris Rn. 6).

(2) Davon ausgehend ist nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eine weitere Verzögerung von vier Jahren und sieben Monaten festzustellen, die auf die erheblich verzögerte Versendung der Verfahrensakten durch die Staatsanwaltschaft an das Revisionsgericht zurückzuführen ist. Die dort vollständig am 9. Juli 2018 eingegangenen Verfahrensakten wurden erst am 8. März 2023 – soweit die Übersendungsverfügung das Datum 8. März 2022 trägt, handelt es sich um ein offenkundiges Schreibversehen – weitergeleitet, weil sie in der Zwischenzeit „außer Kontrolle“ geraten waren. Sie erreichten am 16. März 2023 den Generalbundesanwalt und gingen am 24. April 2023 beim Senat ein. Unter Berücksichtigung einer angemessenen Bearbeitungszeit (vgl. auch § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO) und eingedenk des Umstandes, dass Rechtsmittelsachen stets als Eilsachen zu behandeln sind (Nr. 153 RiStBV), ergibt sich hieraus eine rechtsstaatswidrige Verzögerung von vier Jahren und sieben Monaten.

b) Dieser Verfahrensablauf begründet eine unangemessene Verfahrensdauer einschließlich rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen von insgesamt sechs Jahren, elf Monaten und zwei Wochen. Es ist jedoch ausreichend, dies durch eine Kompensationsentscheidung auszugleichen.

aa) Die Verfahrensdauer ist für sich genommen unangemessen lang. Seit Bekanntgabe der Vorwürfe an den Angeklagten am 17. März 2008 sind fünfzehn Jahre und elf Monate vergangen.

Zwar darf bei dieser Betrachtung nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Gesamtverfahrensdauer auch maßgeblich durch die über zweieinhalb Jahre andauernde Hauptverhandlung bis zum Verfahrensabschluss im ersten Rechtsgang bedingt ist und die Durchführung des Rechtsmittelverfahrens ein weiteres Jahr und vier Monate erforderte.

Gleichwohl übertrifft die Verfahrensdauer die gesetzliche Verfolgungsverjährung von fünf Jahren (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB) mittlerweile um das Doppelte, was auch angesichts rechtlicher und tatsächlicher Schwierigkeiten des gesamten Tatkomplexes – so wurde dem Angeklagten mit Anklage vom 20. Oktober 2009 Steuerhinterziehung in fünfundzwanzig Fällen sowie Urkundenfälschung in sechsundneunzig Fällen zur Last gelegt – unangemessen ist (vgl. BVerfG NJW 1993, 3254, 3255). Auch das Höchstmaß des Regelstrafrahmens von fünf Jahren (§ 267 Abs. 1 StGB; vgl. hierzu OLG Rostock StV 2011, 220, 222) ist in diesem Umfang überschritten. Hinzu treten die dargelegten nicht zu rechtfertigenden Verfahrensverzögerungen durch Justizorgane von nunmehr insgesamt sechs Jahren, elf Monaten und zwei Wochen.

bb) Ein Verfahrenshindernis geht damit jedoch nicht einher.

(1) Dies gilt zunächst für den durch das Landgericht ermittelten Zeitraum, wonach bis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung durch Justizorgane verschuldete Verfahrensverzögerungen von zwei Jahren, vier Monaten und zwei Wochen gegeben sind.

Gemessen an den durch das Landgericht festgestellten Belastungen des Angeklagten im Zeitraum vom 26. April 2012 bis Dezember 2012 waren diese im Rahmen der Sachentscheidung zu berücksichtigen und das Landgericht hatte hierfür – wie rechtsfehlerfrei geschehen – eine Kompensationsentscheidung zu treffen.

(2) Nichts Anderes gilt auch bei Berücksichtigung der gesamten Verfahrensdauer einschließlich aller durch die Justizorgane verschuldeten Verfahrensverzögerungen, insbesondere der besonders ins Gewicht fallenden unterlassenen Weiterleitung der Akten an das Revisionsgericht durch die Staatsanwaltschaft.

Insoweit gewinnt zunächst Bedeutung, dass die getroffenen Feststellungen den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch der angefochtenen Entscheidung tragen und das Verfahren nunmehr durch die Senatsentscheidung seinen Abschluss findet (vgl. bei einer fast fünfjährigen, willkürlich unterlassenen Aktenübersendung an das Revisionsgericht BGH, Urteil vom 9. Dezember 1987 – 3 StR 104/87, BGHSt 35, 137, 140 f.), die Akten dem Revisionsgericht auch nicht willkürlich vorenthalten wurden, sondern „außer Kontrolle“ geraten waren (vgl. BGH aaO).

Zudem ist weder ersichtlich noch von der Revision konkret vorgetragen, dass der Angeklagte durch das Verfahren besonderen Belastungen ausgesetzt war, die über die allgemeine Dauer des Verfahrens hinausgegangen wären und allein durch eine Einstellung ausgeglichen werden könnten. So befand er sich in dem hiesigen Verfahren zu keinem Zeitpunkt in Untersuchungshaft (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Juli 2023 – 3 StR 506/22, juris Rn. 7).

Des Weiteren stand für ihn bereits im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Senatsentscheidung vom 28. Juli 2015 rechtskräftig fest, dass er sich in dreizehn (von nunmehr achtzehn) Fällen der Urkundenfälschung schuldig gemacht hat und er hierfür unter anderem eine Freiheitsstrafe von drei Monaten als Einzelstrafe, im Übrigen Geldstrafen von 60 bzw. 90 Tagessätzen verwirkt hatte. Dass darüber hinaus die weiteren Fälle eine Strafbarkeit begründeten, war einerseits aufgrund des Aufhebungsgrundes der nicht ausschließbar fehlerhaften konkurrenzrechtlichen Bewertung in diesen Fällen, andererseits aufgrund des Umstandes, dass nur die Feststellungen zum Gebrauchmachen und nicht des Herstellens der falschen Urkunden aufgehoben wurden, ebenfalls erkennbar. Für den Angeklagten war mithin ersichtlich, dass er trotz der Aufhebung nicht mit einem Teilfreispruch, sondern vielmehr mit einem weiteren Schuldspruch und der Verhängung weiterer Einzelstrafen zu rechnen hatte. Dabei hatte er als alleiniger Revisionsführer stets Gewissheit darüber, dass eine Strafverschärfung ausgeschlossen war (§ 358 Abs. 2 StPO).

In einer Gesamtschau der überlangen Verfahrensdauer einschließlich der durch die Justiz verschuldeten Verzögerungen sowie des Umstands, dass sich die Taten nur im Bereich mittlerer Kriminalität bewegten, andererseits aber der geringen und allgemein bleibenden Belastungssituation des Angeklagten, genügt eine weitere Kompensationsentscheidung.“

Na ja, zumindest etwas, ansonsten: Ohne Worte.

Und dazu heißt es dann:

„b) Schließlich hält auch die Höhe der Kompensation für die festgestellte rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung rechtlicher Nachprüfung stand. Das Landgericht hat nach dem sog. Vollstreckungsmodell (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124) zur Entschädigung für die bis Urteilserlass eingetretene rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von zwei Jahren, vier Monaten und zwei Wochen angeordnet, dass fünf Monate – soweit laut Urteilstenor insgesamt sechs Monate, eine Woche und drei Tage als vollstreckt gelten, ist in diesen Zeitraum ein für vollstreckt erklärter Teil in Höhe von einem Monat, einer Woche und drei Tagen aus einer einbezogenen Vorverurteilung eingeflossen – der verhängten ersten Gesamtfreiheitsstrafe als vollstreckt gelten. Dies hält sich im Rahmen des dem Tatrichter eingeräumten Bewertungsspielraums und ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. zum Maßstab BGH, Urteile vom 23. Oktober 2013 – 2 StR 392/13, NStZ-RR 2014, 21; vom 12. Februar 2014 – 2 StR 308/13, NStZ 2014, 599; Beschlüsse vom 1. Juni 2015 – 4 StR 21/15, NStZ 2015, 540; vom 11. August 2016 – 1 StR 196/16, wistra 2017, 108, 110; vom 1. Dezember 2020 – 2 StR 384/20, StV 2021, 355 Rn. 8).

3. Daneben ist das Urteil um eine Kompensation für den nach Urteilserlass eingetretenen und aufgezeigten Konventionsverstoß zu ergänzen.

Diese ist aufgrund des erheblichen Umfangs der Verzögerung so zu bemessen, dass der nach Abzug der bereits durch das Landgericht ausgesprochenen Kompensation und nach Anrechnung (§ 51 Abs. 2 StGB) der bereits vollstreckten und in die Gesamtfreiheitsstrafen einbezogenen Vorstrafen – hierbei handelt es sich um eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten sowie eine Gesamtgeldstrafe von 260 Tagessätzen, wobei von dieser wiederum 40 Tagessätze als vollstreckt gelten – verbleibende vollstreckungsfähige Strafrest der beiden Gesamtfreiheitsstrafen als vollstreckt gilt, so dass dem Angeklagten keine weiteren Freiheitsentziehungen drohen.

Dabei ist unbeachtlich, dass diese Art der Kompensation sich – vorbehaltlich der Berechnung durch die Vollstreckungsbehörde – maßgeblich auf die zweite Gesamtfreiheitsstrafe auswirken wird und einen Ausgleich nur bei Widerruf der Strafaussetzung gewähren würde (vgl. EGMR, Urteil vom 20. Juni 2019 – 497/17, NJW 2020, 1047, 1049 Rn. 58).“

Wortreich, aber nicht unbedingt überzeugend. Und sorry für den langen Text. Das liegt an der Länge der Verfahrensdauer 🙂 .