Archiv der Kategorie: Hauptverhandlung

StPO II: Faire Auslegung eines Beweisbegehrens, oder: Bedeutungslose Bedeutungslosigkeit?

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Die zweite Entscheidung betrifft auch eine Beweisfrage. Es handelt sich um den BGH, Beschl. v. 26.03.2024 – 2 StR 211/23 -, der sich zur Pflicht des Tatgerichts, ein Beweisbegehren auszulegen, äußert:

„2. Diese Ablehnung des Beweisantrags hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Genügt ein erkennbar als Beweisantrag vorgebrachtes Beweisbegehren seinem Wortlaut nach nicht den Anforderungen an die notwendige Konkretisierung der Beweistatsache, ist es in sonstiger Weise lückenhaft, ungenau formuliert oder mehrdeutig oder bleibt unklar, welcher einsichtige Prozesszweck mit ihm verfolgt werden soll, und lassen sich die hieraus resultierenden Zweifel nicht ohne weiteres eindeutig aus den gesamten Umständen der Antragstellung ausräumen, so ist der Vorsitzende aufgrund der Aufklärungspflicht, die ein Hinwirken auf eine sachdienliche Antragstellung gebietet, der Fürsorgepflicht sowie der Verfahrensfairness (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) grundsätzlich gehalten, den Antragsteller zunächst auf die Bedenken gegen seinen Antrag hinzuweisen und ihm durch entsprechende Befragung Gelegenheit zu geben, die erforderliche Klarstellung vorzunehmen (vgl. BGH, Urteil vom 16. April 1996 ? 1 StR 120/96, NStZ-RR 1996, 336, 337; Beschluss vom 8. Februar 1996 ? 4 StR 776/95, NStZ 1996, 562; LR-StPO/Becker, 27. Aufl., § 244 Rn. 115; KK-StPO/Krehl, 9. Aufl., § 244 Rn. 78). Auch wenn dies nicht zum Erfolg führt, bleibt das Gericht verpflichtet, die vom Antragsteller tatsächlich gewollte Beweisbehauptung durch Auslegung zu ermitteln (vgl. BGH, Urteil vom 26. Januar 2000 ? 3 StR 410/99, NStZ 2000, 267, 268 mwN). Diese kann sich nicht nur aus dem Wortlaut des Antrags, sondern aus allen Umständen, die bei einer nach Sinn und Zweck fragenden Auslegung zu berücksichtigen sind, ergeben (vgl. BGH, Urteil vom 9. Juli 2015 – 3 StR 516/14, StV 2016, 337, 338; Beschlüsse vom 11. April 2007 – 3 StR 114/07, juris Rn. 7; und vom 6. März 2014 – 3 StR 363/13, NStZ 2014, 419). Bei mehreren Interpretationsalternativen ist derjenigen der Vorzug zu geben, die zur Beweiserhebung führt (vgl. BGH, Urteil vom 11. Juli 1984 ? 2 StR 320/84, NStZ 1984, 564, 565; Beschluss vom 12. Mai 2022 – 5 StR 450/21, juris Rn. 15 mwN).

Ferner muss nach der ständigen Rechtsprechung der Beschluss, mit dem ein Beweisantrag wegen Bedeutungslosigkeit der behaupteten Tatsache abgelehnt wird, die Erwägungen anführen, aus denen das Tatgericht der unter Beweis gestellten Tatsache aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen keine Bedeutung für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch beimisst. Für die zu treffende Entscheidung ohne Bedeutung ist eine Tatsache nur dann, wenn ein Zusammentreffen zwischen ihr und der abzuurteilenden Tat nicht besteht oder wenn sie trotz eines solchen Zusammenhangs nicht geeignet ist, die Entscheidung irgendwie zu beeinflussen, wobei sich das Gericht im Urteil nicht in Widerspruch zu der Ablehnungsbegründung setzen darf (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. August 1996 – 4 StR 373/96, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Bedeutungslosigkeit 22; und vom 7. November 2023 – 2 StR 284/23, NStZ 2024, 177, 178; jew. mwN).

b) Hieran gemessen erweist sich die Ablehnung des Beweisantrags als rechtsfehlerhaft.

aa) Die Strafkammer hat das dem Beweisantrag bei verständiger Würdigung zugrundeliegende Beweisthema nur verkürzt behandelt und so den Antrag schon nicht in einem zur Beweiserhebung führenden Sinne ausgelegt.

Der notwendigen Behandlung als Beweisantrag steht zunächst nicht entgegen, dass der Antrag seinem Wortlaut nach zwar positiv formuliert, jedoch inhaltlich auf eine Negativtatsache gerichtet war. Denn der Antrag ist bei verständiger Auslegung – naheliegend ? dahingehend zu verstehen, dass unter Beweis gestellt war, es habe zwischen dem Angeklagten und Ü.   keine betäubungsmittelbezogenen Kontakte gegeben. Eine dahingehende Auslegung drängte sich auch deshalb auf, weil die Verteidigung des Angeklagten zuvor einen – von der Strafkammer mangels bestimmter Tatsachenbehauptung rechtsfehlerfrei abgelehnten – „Beweisantrag“ auf Einvernahme des Ü.   mit derselben Stoßrichtung gestellt hatte. Darin hatte sie beantragt, Ü.   als Zeugen zum Beweis der Tatsache zu vernehmen, dass dieser ausschließlich mit J.    Betäubungsmittelhandel betrieben habe. Mit dem der Verfahrensrüge zugrunde liegenden ? in enger zeitlicher Abfolge gestellten ? Beweisantrag wollte die Verteidigung bei gleichem Beweisziel ihr Beweisthema konkretisieren, was sie im Beweisantrag durch die beispielhafte Aufzählung verschiedener Handlungssequenzen, die ausschließlich zwischen Ü.   und J.   stattgefunden haben sollten ? „Drogen verkauft“, „Absprachen gehalten“ und „geschäftlichen Beziehung“ ? zum Ausdruck brachte. Soweit die Strafkammer ausführt, dass schon unklar sei, was Gegenstand der „Absprache“ oder was mit „geschäftlichen Beziehung“ gemeint sei, und insoweit eine konkrete Tatsachenbehauptung vermisst, hat sie bei der gebotenen Auslegung des Beweisantrags dessen Beweisthema und Zielrichtung unzulässig verkürzt.

bb) Infolgedessen hat die Strafkammer den Beweisantrag rechtsfehlerhaft allein am Maßstab der rechtlichen Bedeutungslosigkeit gemessen und dabei den tatsächlichen Gehalt der unter Beweis gestellten Tatsachen außer Betracht gelassen. Sie hat deshalb bei ihrem Ablehnungsbeschluss verkannt, dass der Beweisantrag nicht darauf abzielte, aus dem Umstand der ausschließlichen betäubungsmittelbezogenen Kommunikation zwischen Ü. und J.    die Annahme einer bandenmäßigen Tatbegehung unter Beteiligung des Angeklagten zu widerlegen. Insofern hat sie zwar – für sich genommen rechtsfehlerfrei – angenommen, dass die unter Beweis gestellte Tatsache der Absprachen ausschließlich zwischen Ü.   und J.   eine Bandenabrede nicht ausschloss (vgl. BGH, Urteil vom 23. April 2009 – 3 StR 83/09, juris Rn. 9). Sie hat jedoch nicht in den Blick genommen, dass bei sachgerechter Auslegung des Antrags nachgewiesen werden sollte, dass – unabhängig von der rechtlichen Einordnung als Bande – zwischen dem Angeklagten und Ü.   zu keiner Zeit betäubungsmittelbezogene Kontakte bestanden und damit insbesondere Rückschlüssen in tatsächlicher Hinsicht entgegengetreten werden sollte, der Angeklagte und Ü.   hätten über den Kryptodienst A.   unter Pseudonymen miteinander kommuniziert. Mit diesem Gesichtspunkt befassen sich die Ablehnungsgründe nicht.

cc) Die Ablehnung des Beweisantrags erweist sich zudem aus einem weiteren Grund als rechtsfehlerhaft. Denn das Gericht muss sich an der dem Ablehnungsbeschluss zugrundeliegenden Annahme der Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache festhalten lassen. Es darf sich im Urteil nicht zu der Ablehnungsbegründung in Widerspruch setzen oder seine Überzeugung auf das Gegenteil der unter Beweis gestellten Tatsache stützen (vgl. BGH, Urteil vom 19. September 2007 – 2 StR 248/07, StraFo 2008, 29; Beschlüsse vom 20. August 1996 – 4 StR 373/96, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Bedeutungslosigkeit 22; vom 29. April 2014 – 3 StR 436/13, juris Rn. 3).

Hiergegen hat die Strafkammer verstoßen, indem sie – allein orientiert an der defizitären Auslegung des Beweisantrags ? feststellte, dass Ü.   dem Angeklagten Anweisungen gab, an wen die Betäubungsmittel auszuliefern seien und wie – nach der Festnahme des J.    – im Hinblick auf die im Bunker vorrätig gehaltenen Drogen der Gruppierung zu verfahren sei. Damit hat sie entgegen dem vorgenannten Verständnis des Beweisantrags der behaupteten Beweistatsache nicht nur eine die Entscheidung tragende Bedeutung beigemessen, sondern sogar das Gegenteil davon festgestellt.“

StPO I: Hinzuziehung eines psychiatrischen SV, oder: Beurteilung der Schuldfähigkeit

© bluedesign – Fotolia.com

Heute gibt es dann drei StPO-Entscheidungen. Ich eröffne den Reigen mit dem OLG Celle, Beschl. v. 11.04.2024 – 3 ORs 10/24, der allgemein zur Erforderlichkeit der Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen zur Beurteilung der Schuldfähigkeit Stellung nimmt. Und zwar wie folgt:

„Das Landgericht hat davon abgesehen, zur Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten einen psychiatrischen Sachverständigen zu hören. Das hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

Nachdem das Landgericht festgestellt hat, dass der Angeklagte seit 2013 – und damit auch zum Tatzeitpunkt – an einer paranoiden Schizophrenie leidet, derentwegen er seitdem fortlaufend in ärztlicher Behandlung ist und Neuroleptika als Depotmedikation erhält, gebot die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) die Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen. Dies galt hier umso mehr, als der Angeklagte nach dem weiteren Ergebnis der Beweisaufnahme zum Tatzeitpunkt unter der Einwirkung von Amphetamin und des Neuroleptikums Paliperidon stand, zwischen denen nach dem eingeholten gerichtsmedizinischen Gutachten Wechselwirkungen wahrscheinlich waren.

Zwar gibt es – abgesehen von § 246a StPO – keine allgemeinen Vorgaben, wann das Tatgericht bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit einen Sachverständigen hinzuziehen muss oder aufgrund eigener Sachkunde entscheiden kann (vgl. BGH StV 2008, 618). Liegen indes Anhaltspunkte vor, die geeignet sind, Zweifel an der vollen Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Tatausführung zu wecken, so ist die Anhörung eines Sachverständigen in aller Regel geboten; denn derartige Zweifel rufen im Allgemeinen Beweisfragen hervor, zu deren zuverlässiger Beantwortung oft nicht einmal eine allgemeine ärztliche Ausbildung, sondern nur die intensive Arbeit innerhalb eines besonderen Fachgebiets befähigt (vgl. BGH NStZ-RR 2003, 19; 2007, 83; Becker in: Löwe/Rosenberg, StPO 27. Aufl., § 244 Rn 78 mwN). Solche Anhaltspunkte liegen etwa vor, wenn der Angeklagte in nervenärztlicher Behandlung stand oder steht oder wenn er erklärt hat, dass er an Schizophrenie leide und Medikamente benötige (BGH StV 1982, 54; 2011, 647; Becker aaO mwN). Die Beurteilung endogener Psychosen, zu denen auch die paranoide Schizophrenie gehört, sowie mehrerer belastender Faktoren im Zusammenwirken – wie etwa Drogenkonsum und psychopathische Persönlichkeit – bedarf stets sachverständiger Beratung (vgl. Verrel/Linke/Koranyi in: Leipziger Kommentar, StGB 13. Aufl., § 20 Rn. 236 mwN).

Die Urteilsgründe belegen auch nicht, dass hier trotz des Zusammentreffens mehrerer der vorstehend aufgezeigten Faktoren ein Ausnahmefall vorlag, in dem das Tatgericht über eine besondere Sachkunde verfügte oder aufgrund sonstiger Umstände Auswirkungen der psychischen Störung auf die Tatbegehung von vornherein auszuschließen waren. Solche ergeben sich insbesondere nicht daraus, dass der Angeklagte angegeben hat, am Tattag „weder Stimmen gehört noch unter Verfolgungswahn gelitten zu haben“ (S. 17 UA) und dass der Angeklagte „damals wegen seiner paranoiden Schizophrenie bereits medikamentös behandelt“ wurde und dies „nach den Angaben des Angeklagten zu einer Stabilisierung seines psychischen Zustands geführt habe“ (S. 17 UA). Denn die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Sachverständigen ist unabhängig von der Selbsteinschätzung des Angeklagten zu beurteilen (vgl. BGHR StGB § 21 Sachverständiger 8). Sie ist bei Vorliegen von Anzeichen, die auch nur eine gewisse Möglichkeit dafür geben, dass der Angeklagte in geistiger Hinsicht von der Norm abweichen könnte, selbst dann geboten, wenn der Angeklagte sich in der Hauptverhandlung nicht auf einen solchen Zustand beruft (BGH NStZ-RR 2006, 140).

Ungeachtet dessen hat sich der Angeklagte hier ausweislich der Urteilgründe dahin eingelassen, dass er „am Tattag psychotisch und aufgrund einer Phobie nicht in der Lage gewesen sei, mit dem Bus (…) zu fahren“ (S. 17 UA). Der Umstand, dass er seinem Vater gegenüber zuvor erklärte, er werde mit dem Bus fahren, steht dem nicht entgegen. Abgesehen davon, dass bereits die zeitliche Nähe zwischen diesem Gespräch und der Fahrt nicht genau festgestellt ist („unmittelbar vor dem 18.01.2023 bzw. am 18.01.2023“, S. 18 UA), existiert kein allgemeiner Erfahrungssatz, dass bei Vorliegen einer Phobie auch deren Erwähnung in diesem Zusammenhang zwingend zu erwarten gewesen wäre. Erst recht ist aber nicht ohne besondere Sachkunde zu beurteilen, wie sich dies bei Personen mit einer paranoiden Schizophrenie im Zusammenwirken mit Amphetaminintoxikation darstellt. Die Möglichkeit des späteren Auftretens der Symptome oder einer krankheitsbedingten Einengung der kognitiven Fähigkeiten in Bezug auf Handlungsalternativen und Problemlösung begründete die Notwendigkeit sachverständiger Beratung.

Hinzu kommt, dass der Angeklagte sich nach den Feststellungen zu den Vorstrafen auch schon gegenüber dem Amtsgericht Magdeburg auf eine vergleichbare Phobie berufen hat (S. 7 UA). Gerade mit Blick auf die wiederholte Behauptung einer Phobie war die Hinzuziehung eines Sachverständigen geboten. Denn endogene Psychosen wie die paranoide Schizophrenie sind differentialdiagnostisch von Persönlichkeitsstörungen abzugrenzen, die eine ähnliche Symptomatik aufweisen, insbesondere dem Borderline-Syndrom, welches mit – vorübergehenden oder dauerhaften – Symptomen wie Phobien, Zwangshandlungen oder Wahn einhergehen kann (Verrel/Linke/Koranyi aaO Rn. 85 mwN).

Auch zielstrebiges und folgerichtiges Verhalten steht der Annahme einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht unbedingt entgegen (vgl. BGH NStZ-RR 2007, 83; 2009, 115). Abgesehen davon hat das Landgericht in seine Würdigung des Verhaltens des Angeklagten als „durchweg sachgerecht und unauffällig“ (S. 18 UA) sowie „völlig situationsgerecht“ (S. 19 UA) nicht einbezogen, dass der Angeklagte sich im Zustand einer Amphetaminintoxikation, die „erhebliche Auffälligkeiten“ (S. 15 UA) verursachte, sowie unter Mitführen einer Umhängetasche, die u.a. zwei Klemmleistenbeutel mit Marihuana, zwei Klemmleistenbeutel mit Amphetaminanhaftungen und drei Klemmleistenbeutel mit Ecstasy-Tabletten enthielt, auf den Weg zu einem Termin mit seiner Bewährungshelferin machte.

Vor diesem Hintergrund und angesichts der Feststellung, dass „der Angeklagte psychisch instabil ist und trotz der Einnahme der ihm ärztlicherseits verordneten Medikamente dazu neigt, kriminelle Handlungen zu begehen“ (S. 23 UA), durfte von der Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen nicht abgesehen werden.

Auf diesem Rechtsfehler beruht das Urteil.“

EÖB I: EÖB nicht von allen Richtern unterschrieben, oder: Das war es = Einstellung des Verfahrens

© sharpi1980 – Fotolia.com

Heute dann mal wieder etwas StPO, und zwar einiges zum Eröffnungsbeschluss.

Zunächst hier der BGH, Beschl. v. 16.05.2024 – 2 StR 528/23. Ein Klassiker, nämlich der nicht von allen Berufsrichtern unterschriebene Eröffnungsbeschluss. Ergebnis: Einstellung des Verfahrens:

„1. Es besteht ein von Amts wegen zu berücksichtigendes Verfahrenshindernis, weil es an einem wirksamen Eröffnungsbeschluss fehlt.

a) Der Eröffnungsbeschluss vom 10. Mai 2023, den lediglich zwei statt nach § 199 Abs. 1 StPO, § 76 Abs. 1 Satz 2 GVG, § 33b Abs. 1 und 7, § 33a Abs. 2, § 107 JGG richtig drei zur Mitwirkung berufene Berufsrichter unterschrieben haben, ist mangels einer Entscheidung in der für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Besetzung unwirksam (vgl. BGH, Urteil vom 20. Mai 2015 ‒ 2 StR 45/14, BGHSt 60, 248, 250).

Zwar ist die Unterzeichnung eines Eröffnungsbeschlusses durch die erlassenden Richter als solche keine Wirksamkeitsvoraussetzung (BGH, Beschlüsse vom 17. Oktober 2013 ‒ 3 StR 167/13, NStZ 2014, 400 f. mwN; vom 14. Juli 2016 ‒ 2 StR 514/15, NStZ 2017, 55, 56; vom 21. Oktober 2020 ‒ 4 StR 290/20, NStZ 2021, 179, 180; vom 6. Juni 2023 ‒ 5 StR 136/23, NStZ-RR 2023, 253). Vielmehr kann auch anderweit nachgewiesen werden, dass der Beschluss tatsächlich von allen hierzu berufenen Richtern gefasst worden ist. Das setzt jedoch eine mündliche Beschlussfassung oder eine dahin zu verstehende gemeinsame Besprechung oder Beratung voraus (BGH, Beschlüsse vom 13. März 2014 ‒ 2 StR 516/13, juris Rn. 3; vom 6. Juni 2023 ‒ 5 StR 136/23, aaO).

Eine Beschlussfassung durch alle hierzu berufenen Richter lässt sich nicht feststellen. Die seinerzeit der Jugendkammer als weiteres berufsrichterliches Mitglied zugewiesene Richterin am Landgericht, die den Eröffnungsbeschluss nicht unterschrieben hat, hat in ihrer dienstlichen Erklärung vom 18. März 2024 bekundet, der Eröffnungsbeschluss sei von ihr weder vorbereitet worden noch habe er ihr vorgelegen. Eine eigene Mitwirkung an der Beschlussfassung sei ihr nicht erinnerlich. Die beiden anderen berufsrichterlichen Mitglieder der Jugendkammer, die den Eröffnungsbeschluss unterzeichnet haben, haben jeweils dienstlich erklärt, keine Erinnerung an das Zustandekommen des Beschlusses vom 10. Mai 2023 zu haben. Eine Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens konnte die Jugendkammer, die in der Besetzung mit zwei Berufsrichtern verhandelt hat, in der Hauptverhandlung nicht nachholen (BGH, Urteil vom 25. Februar 2010 ‒ 4 StR 596/09, juris Rn. 11 f.; Beschluss vom 29. September 2011 ‒ 3 StR 280/11, NStZ 2012, 225, 226).

b) Das Fehlen eines Eröffnungsbeschlusses stellt ein in der Revisionsinstanz nicht mehr behebbares Verfahrenshindernis dar, das die Einstellung des gerichtlichen Verfahrens, gemäß § 467 Abs. 1 StPO auf Kosten der Staatskasse, zur Folge hat (BGH, Urteil vom 14. Mai 1957 ‒ 5 StR 145/57, BGHSt 10, 278, 279; Beschlüsse vom 29. September 2011 ‒ 3 StR 280/11, NStZ 2012, 225, 226; vom 18. Juli 2019 ‒ 4 StR 310/19, juris Rn. 3). Zur Klarstellung hebt der Senat das angegriffene Urteil mit den Feststellungen auf (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. September 2011 ‒ 3 StR 280/11, aaO; vom 13. März 2014 ‒ 2 StR 516/13, juris Rn. 4; vom 6. Juni 2023 ‒ 5 StR 136/23, NStZ-RR 2023, 253, 254).“

Und dann dasselbe noch einmal im BGH, Beschl. v. 15.05.2024 – 6 StR 161/14 – für den nach Verbindung in der Hauptverhandlung gefassten EÖB.

OWi III: Zustellung durch Einlegen in den Briefkasten? oder: Datumsvermerk auf dem Briefumschlag

entnommen wikimedia.org Urheber: Sarang

Und dann als letzte Entscheidung noch etwas zur Verjährungsproblematik. Es handelt sich um den OLG Saarbrücken, Beschl. v. 03.06.2024 – 1 Ss (OWi) 44/24, von dem ich aber nur die Leitsätze einstelle, da das OLG den Verjährungseintritt umfangeich begründet hat. Es geht in der Entscheidung um die Wirksamkeit der Ersatzzustellung durch Einlegung des Bußgeldbescheides in den Briefkasten. Dazu stellt das OLG fest:

1. Eine Verjährungsunterbrechung nach §§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG setzt die Wirksamkeit der Zustellung des Bußgeldbescheides voraus.

2. Voraussetzung einer wirksamen Ersatzzustellung des Bußgeldbescheides durch Einlegen in den Briefkasten nach den §§ 51 Abs. 1 Satz 1 OWiG, 1 SVwZG, 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG, 180 ZPO ist der Vermerk des Datums der Zustellung auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks.

3. Die Heilung eines Zustellungsmangels nach den §§ 51 Abs. 1 Satz 1 OWiG, 1 SVwZG, 8 VwZG durch den tatsächlichen Zugang des Bußgeldbescheides beim Verteidiger setzt das Vorliegen einer Zustellungsvollmacht voraus.

StPO III: Funkzellenabfrage ohne Katalogstraftat, oder: (Neues) Beweisverwertungsverbot

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und dann noch der BGH, Beschl. v. 10.01.2024 – 2 StR 171/23 – zum Beweisverwertungsverbot nach einer Funkzellenabfrage ohne Katalogstraftat, der für BGHSt bestimmt ist

Folgender Sachverhalt: Das LG hat den Angeklagten wegen Diebstahls mit Waffen in drei Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb, und Diebstahls in zwei Fällen verurteilt und im Übrigen freigesprochen. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision, die hinsichtlich eines Falls der Verurteilung mit der Verfahrensrüge Erfolg hatte.

Mit seiner Verfahrensrüge hatte der Angeklagte beanstandet, das LG habe bei seiner Beweiswürdigung in einem Verurteilungsfalls der Urteilsgründe retrograde Standortdaten aus einer Funkzellenabfrage rechtsfehlerhaft verwertet. Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Auf der Grundlage eines mit „wegen besonders schweren Fall des Diebstahls […] gemäß §§ 242 , 243 StGB “ eingeleiteten Ermittlungsberichts der Polizei vom 12.02.2020 beantragte die Staatsanwaltschaft den Erlass eines „Funkzellenbeschlusses“ beim AG -Ermittlungsrichter. Der Ermittlungsrichter erließ den Beschluss zur Erhebung der nach § 96 TKG in der Fassung vom 03.05.2012 (im Folgenden: § 96 TKG a.F.) erhobenen und gespeicherten Verkehrsdaten, bei mobilen Anschlüssen unter anderem auch der Standortdaten, betreffend die Tatortfunkzelle am Folgetag wegen des Verdachts einer Straftat nach §§ 242, 243 StGB. Der Erhebungszeitraum lief vom 09.02.2020, 22.30 Uhr, bis zum 10.02.2020, 11.58 Uhr. Nach Umsetzung des Beschlusses am 17.02.2020 wurde der Angeklagte auf Basis der erhobenen Verkehrsdaten als möglicher Täter ermittelt. Das LG hat die Inhalte der Funkzellenauswertung im Selbstleseverfahren und durch Vernehmung eines Polizeibeamten entgegen dem jeweiligen Widerspruch der Verteidigung in die Hauptverhandlung eingeführt. Seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten hat es auch auf die Verwertung der aus der Funkzellenabfrage gewonnenen Erkenntnisse gestützt.

    1. Die Anordnung einer Funkzellenabfrage nach § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO setzt den Verdacht einer besonders schweren Straftat nach § 100g Abs. 2 StPO voraus. Die in § 100g Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StPO enthaltene Verweisung auf § 100g Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO ist so auszulegen, dass diese zugleich die Anordnungsvoraussetzungen des § 100g Abs. 1 Satz 3 StPO erfasst.
    2. Fehlt es bei einer Funkzellenabfrage nach § 100g Abs. 3 Satz 1 StPO an dem Verdacht einer Katalogtat nach § 100g Abs. 2 StPO, hat dies ein Beweisverwertungsverbot zur Folge.“

Achtung: Widerspruch nicht vergessen!