Archiv der Kategorie: Ermittlungsverfahren

StPO II: „Nachträgliche“ Zeugnisverweigerung, oder: Klassisches Beweisverwertungsverbot

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Der zweiten Entscheidung des Tages, dem LG Oldenburg, Beschl. v. 03.02.2022 – 2 Qs 40/22 – liegt eine „klassische“ Fallgestaltung zugrunde, und zwar:

Ein Ehepaar streitet sich, er soll sie geschlagen haben. Dann verlässt er das Haus und fährt mit dem Pkw weg. Sie ruft bei der Polizei an und meldet eine Trunkenheitsfahrt. Er wird dann angetroffen und ist absolut fahruntüchtig. Die Fahrerlaubnis wird vom AG vorläufig entzogen. Im Verfahren teilt die Ehefrau dann mit, man habe sich versöhnt und dass sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht. Und das war es dann – wenn keine anderen Beweismittel vorliegen. So auch hier, das LG hat den AG-Beschluss aufgehoben:

„Die Voraussetzungen, dem Beschuldigten vorläufig die Fahrerlaubnis zu entziehen, sind nicht mehr erfüllt. …..

…. Auf Grundlage der bisherigen Ermittlungen kann ein dringender Tatverdacht der Trunkenheit im Verkehr nach § 316 StGB durch den Beschuldigten nicht mehr angenommen werden. § 316 Abs. 1 StGB setzt voraus, dass jemand ein Fahrzeug führt, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen.

Aufgrund der Ermittlungen steht zwar fest, dass sich der Beschuldigte zur Tatzeit im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit befand. Kraftfahrer sind bei einem Blutalkoholgehalt von 1,1 Promille als absolut fahruntüchtig anzusehen (BGH, Beschl. v. 28.06.1990, Az. 4 StR 297/90, NJW 1990, 2393). Das Blutalkoholgutachten vom 02.12.2021 ergab einen Mittelwert von 1,77 Promille.

Ein dringender Tatverdacht, dass der Beschuldigte in diesem Zustand mit dem PKW mit dem amtlichen Kennzeichen pp. gegen 20:02 Uhr von der Wohnung unter der Anschrift pp. weggefahren sei und den PKW so geführt habe, ist mit den nach derzeitigem Ermittlungsstand verwertbaren Beweismitteln nicht zu führen.

Der Beschuldigte streitet ab, das Fahrzeug geführt zu haben. Gegenüber den Polizei, die ihn am Tattag um 20:47 Uhr in der Wohnung der Eltern unter der Anschrift pp. antrafen und als Beschuldigten vernahmen, hat er angegeben, dass sein Vater ihn abgeholt und zu sich nach Hause gefahren habe.

Dem widersprechen zwar die Aussagen der Zeugin pp. der Ehefrau des Beschuldigten, die im Notrufgespräch mit der Kooperativen Großleitstelle Oldenburg um 20:04 Uhr sowie in der polizeilichen Vernehmung am Tattag gegenüber der Polizeikommissarin pp. angab, dass der Beschuldigte sie zuvor im alkoholisierten Zustand zunächst geschlagen habe und dann mit seinem Fahrzeug mit dem amtlichen Kennzeichen pp. von der Wohnung weggefahren sei.

Die Zeugin hat im weiteren Verlauf des Ermittlungsverfahrens am 10.12.2021 den schriftlich Zeugenfragebogen an die Polizei mit der Angabe zurückgesandt, dass sie keine Aussage machen möchte. Im Rahmen einer persönlichen Ansprache durch die Polizei am 13.12.2021 hat die Zeugin bestätigt, dass sie sich mit dem Beschuldigten versöhnt habe und sie keine weiteren Angaben zur Sache machen wolle. Das Verhalten der Zeugin kann nicht anders verstanden werden, als dass sie — auch in einer möglicherweise noch anzuberaumenden Hauptverhandlung — von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 52 Abs. 1 Nr. 2 StPO Gebrauch machen will.

Für diesen Fall sieht § 252 StPO ein umfassendes Verwertungsverbot für in Vernehmungen gemachte Angaben der zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugin vor. Somit können weder die eingesetzten Polizeibeamten zum Inhalt der Vernehmung als Zeugen vom Hörensagen vernommen, noch die entsprechenden polizeilichen Berichte über die Aussagen der Zeugin verlesen werden.

Das Verwertungsverbot des § 252 StPO gilt aber nur für frühere Äußerungen eines Zeugen oder einer Zeugin im Rahmen einer Vernehmung. Als Vernehmung in diesem Sinne ist dabei nicht nur eine förmlich durchgeführte Vernehmung anzusehen. Der Begriff der Vernehmung ist vielmehr weit auszulegen und umfasst alle früheren Bekundungen auf Grund einer amtlichen Befragung, also auch Angaben bei einer informatorischen Befragung durch die Polizei. Entscheidend ist, dass die Auskunftsperson von einem Staatsorgan in amtlicher Eigenschaft zu dem den Gegenstand des Strafverfahrens bildenden Sachverhalt gehört worden ist (so OLG Saarbrücken, Beschluss vom 06.02.2008 — Ss 70/2007 (78/07) = NJW 2008, 1396 m.w.N.).

Von den Beschränkungen des § 252 StPO ausgenommen sind Äußerungen, die ein zur Zeugnisverweigerung berechtigter Zeuge unabhängig von einer Vernehmung gemacht hat. Verwertbar und einer Beweiserhebung zugänglich sind daher Bekundungen gegenüber Privatpersonen, aber auch Erklärungen gegenüber Amtspersonen, die ein Zeuge von sich aus außerhalb einer Vernehmung, etwa bei der Bitte um polizeiliche Hilfe, bei einer nicht mit einer Vernehmung verbundenen Strafanzeige oder sonst ungefragt, „spontan“ und „aus freien Stücken“ abgegeben hat (vgl. BGH, Urteil vom 25.03.1998 — 3 StR 686/97 = NJW 1998, 2229 m.w.N.). Als spontane Bekundungen aus freien Stücken kommen demnach auch Mitteilungen im Rahmen von polizeilichen Notrufen in Betracht (BGH, Urteil vom 14.01.1986 — 5 StR 762/85 = NStZ 1986, 232; OLG Hamm, Beschluss vom 24.05.2011 —111-2 RVs 20/11 = NStZ 2012, 53; Ellbogen in: Münchener Kommentar zur StPO, 1. Aufl. 2016, § 252 StPO Rn. 27).

Im Zusammenhang mit Äußerungen anlässlich eines polizeilichen Notrufes ist problematisch, dass Fallkonstellationen gegeben sein können, in denen spontan und aus freien Stücken geäußerte Erklärungen eines Zeugen oder einer Zeugin durch Nachfragen der Amtsperson in eine förmliche Vernehmung übergehen oder mit einer Vernehmung in engem sachlichem und zeitlichen Zusammenhang stehen können. Maßgeblich ist in diesen Konstellationen, ab welchem Zeitpunkt eine informatorische Befragung oder die (bloße) Entgegennahme von spontanen Äußerungen einer Person zu einer förmlichen Vernehmung wird. Die Tatsache, dass der Zeuge oder die Zeugin von sich aus Kontakt zu einer Behörde aufnimmt, reicht jedenfalls in den Fällen, in denen die staatliche Stelle von Amts wegen tätig werden muss, für sich allein nicht ohne Weiteres aus, die Verwertbarkeit der entsprechenden Angaben zu begründen. Denn die Eigeninitiative kann lediglich Anlass und Grund für die Verfahrenseinleitung mit anschließender Vernehmung sein, die dann dem Schutz des § 252 StPO unterliegt (BGH, Urteil vom 25.03,1998 — 3 StR 686/97 = NJW 1998, 2229). Bezüglich der Bestimmung des Zeitpunkts sind vielmehr objektive und subjektive Kriterien heranzuziehen. Demnach muss neben dem Moment, in welchem der Beamte subjektiv von einem Anfangsverdacht ausgeht, auch berücksichtigt werden, wie sich das Verhalten des Beamten nach Außen in der Wahrnehmung des Befragten darstellt bzw. ob aus dem Verhalten des Beamten für den Befragten auf das Vorliegen eines Anfangsverdachts geschlossen werden kann (LG Stuttgart, Beschluss vom 20.10.2014 — 7 Qs 52/14 —, zitiert nach juris Rn. 7 m.w.N.).

Eine solche Einzelfallprüfung in Bezug auf den Anruf der Zeugin pp. bei der Kooperativen Großleitstelle Oldenburg am 28.11.2021 gegen 20:02 Uhr ist jedoch nicht mehr möglich, da eine Speicherung des Gesprächs über den grundsätzIichen Aufbewahrungszeitraum von 30 Tagen nicht erfolgt ist und deshalb der genaue Gesprächsverlauf nicht mehr nachvollzogen werden kann.

Ob damit Aussagen aus dem polizeilichen Notruf zumindest teilweise verwertbar wären, obwohl sich die Zeugin pp. in einer möglichen Hauptverhandlung auf § 52 Abs. 1 Nr. 2 StPO berufen würde, kann nicht mehr geprüft.

Weitere Erkenntnisse dazu, dass der Beschuldigte zum Tatzeit ein Kraftfahrzeug geführt hat, sind nicht gewonnen worden bzw. dürften zukünftig nicht zu erlangen sein. Insbesondere sind durch die Polizeibeamten keine konkreten Feststellungen zum aufgefundenen Fahrzeug des Beschuldigten auf der Hofeinfahrt des elterlichen Grundstücks gemacht worden. Zudem hat der Vater des Beschuldigten, der Zeuge pp. schriftlich gegenüber der Polizei erklärt, keine Angaben machen zu wollen und sich somit ebenfalls auf sein Zeugnisverweigerungsrecht aus § 52 Abs. 1 Nr. 3 ZPO berufen.“

 

StPO I: Rechtswidrig erlangtes Beweismittel und BVV, oder: Filmen des Eingangsbereichs eines Bürogebäudes

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Heute dann hier noch einmal Entscheidungen zur StPO, und zwar zwei landgerichtliche zu Beweisvervwertungsverboten und eine amtsgerichtliche zu einer Vollstreckungsfrage.

Und, nein. Es wird um 11.11 Uhr nichts zum Karneval geben. Mir ist angesichts der Lage – Ukraine und Corona – nun wirklich nicht nach (Straßen)Karneval. Wer meint, er müsse das „feiern“: Bitte schön, aber in diesem Jahr nicht mit mir.

Und dann hier zunächst der LG Kiel, Beschl. v. 10.01.2022 – I Qs 29/21. Es geht um die Frage der Verwertbarkeit eines Beweismittels, das (ggf.) rechtswidrig erlangt ist, und zwar um Videoaufnahmen aus dem Eingangsbereich eines Bürogebäudes, in dem die Staatsanwaltschaft ihre Büroräume hat. So verstehe ich jedenfalls den etwas knappen Sachcverhalt. Das LG hat keine Bedenken gegen die Verwertung:

„Dabei kann dahinstehen, ob Anfertigung und Speicherung der Aufnahmen durch die Staatsanwaltschaft Kiel vorliegend zulässig waren — denn selbst wenn dies nicht der Fall gewesen sein sollte, stünde dies einer Beschlagnahme im Sinne des § 94 Abs. 2 StPO und damit auch einer Verpflichtung zur Herausgabe im Sinne des § 95 StPO nicht entgegen.

Dies ergibt sich bereits daraus, dass diese Aufnahmen selbst dann im Strafverfahren verwertbar wären, wenn die Staatsanwaltschaft Kiel sie rechtswidrig erstellt hätte (BGH, Beschluss vom 18.08.2021, 5 StR 217/21, zitiert nach juris), da aus der rechtswidrigen Erlangung eines Beweis-mittels durch einen Dritten nicht ohne weiteres die Unverwertbarkeit dieses Beweismittels im Strafverfahren folgt (BGH, Urteil vom 12.04.1989, 3 StR 453/88, zitiert nach juris).

Ob ein auf rechtswidrige Weise erlangtes Beweismittel zulasten eines Beschuldigten verwertet werden darf, ist vielmehr jeweils im Einzelfall insbesondere nach der Art des Verbots, dem Gewicht des Verfahrensverstoßes, der Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter und dem Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen Strafverfolgung unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden. Denn auch wenn die Strafprozessordnung nicht auf die Wahrheitserforschung um „jeden Preis“ gerichtet ist, schränkt die Annahme eines Verwertungsverbots ein wesentliches Prinzip des Strafrechts ein, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Ein Beweisverwertungsverbot ist ohne ausdrückliche gesetzliche Anordnung deshalb nur ausnahmsweise aus übergeordneten wichtigen Gesichtspunkten im Einzelfall anzunehmen, wenn einzelne Rechtsgüter durch Eingriffe fern jeder Rechtsgrundlage so massiv beeinträchtigt werden, dass dadurch das Ermittlungsverfahren als ein nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geordnetes Verfahren nachhaltig geschädigt wird (vgl. m.w.N.: OLG Stuttgart, Beschluss vom 04.05.2016, 4 Ss 543/15, zitiert nach juris). Dabei kommt es auch darauf an, ob die verletzte Vorschrift die verfahrensrechtliche Stellung eines Angeklagten sichern soll oder ob sich der Verstoß für ihn als unerheblich darstellt (OLG Hamburg, Beschluss vom 27.06.2017, 1 Rev 12/17, zitiert nach juris).

Gemessen an diesen Maßstäben würden die gegenständlichen Aufnahmen vorliegend keinem Verwertungsverbot unterliegen.

Bei dem Eingangsbereich zu einem Bürogebäude handelt es sich grundsätzlich um öffentlich zugängliche Räume (OVG Lüneburg, Urteil vom 29.09.2014, 11 LC 114/13, zitiert nach juris). Vorliegend ist aus der Akte nicht ersichtlich, ob die Kamera, deren Aufnahmen hier gegenständlich sind, ausschließlich den Personaleingang erfasst, oder ob sie darüber hinaus auch den Parkplatz und die dahinter verlaufende Straße erfasst.

Würde die Videoüberwachung ausschließlich den Personaleingang erfassen, würde es sich dabei um keinen Bereich handeln, der von einem unbestimmten und nur nach allgemeinen Merkmalen abgrenzbaren Personenkreis betreten und genutzt werden kann, und der seinem Zweck nach auch dazu bestimmt ist (Erfurter Kommentar/Franzen, 22. Auflage, BDSG, § 4, Rn. 3, zitiert nach beck-online), so dass es sich nicht um einen öffentlich zugänglichen Raum handeln würde und, jedenfalls § 4 BDSG keine Anwendung finden dürfte — stattdessen würde sich die Zulässigkeit der Videoüberwachung danach beurteilen, ob die Voraussetzungen des Art. 6 DSGVO vorliegen, in Betracht käme hier Art. 6 Abs. 1 f) DSGVO.

Würde sich die Videoüberwachung nicht auf den Personaleingang beschränken oder würde dieser Personaleingang auch von Dritten genutzt werden, würde sich die Zulässigkeit der Videoüberwachung hingegen nach § 4 BDSG beurteilen.

Letztlich spielt dies für die Entscheidung keine Rolle. Denn selbst wenn durch die Anfertigung und die anschließende Speicherung der Aufnahmen — wie von der Verteidigung vertreten — gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen verstoßen worden sein sollte, würden diese datenschutz-rechtlichen Bestimmungen nicht der Sicherung der Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren dienen, so dass sie nur mit einem begrenzten Gewicht in die Abwägung einzustellen wären (OLG Hamburg a.a.O.).

Soweit die Mitarbeiter der Außenstelle der Staatsanwaltschaft Kiel durch die Überwachung in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht betroffen sind, sind diese nur in ihrer lndividualsphäre berührt. Die Privatsphäre ist hier nicht betroffen. Bei der Privatsphäre handelt es sich um den Teil der Persönlichkeit, der das private Leben im häuslichen Bereich oder im Familienkreis und das sonstige Privatleben umfasst — diese Bereiche sind hier nicht tangiert. Betroffen ist lediglich die lndividualsphäre, für die regelmäßig das schwächste Schutzbedürfnis angenommen wird (vgl. LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 04.12.2001, 1 Sa 392 b/01, zitiert nach juris).

Gemessen daran überwiegt vorliegend das Interesse an der Strafverfolgung.

Einen möglichen Verstoß gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen müssten sich die Strafverfolgungsbehörden im Übrigen auch nicht zurechnen lassen. Zwar sind die Aufnahmen von der Staatsanwaltschaft Kiel angefertigt worden, diese tritt in dem gegen den Beschuldigten geführten Verfahren jedoch nicht in ihrer Funktion als Ermittlungsbehörde auf. Vielmehr ist die Staatsanwaltschaft Flensburg mit den Ermittlungen beauftragt worden (BI. 6).

Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen scheidet ein Beweisverwertungsverbot vorliegend aus, so dass die gegenständlichen Aufnahmen als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein können.“

StPO III: Zur Fortdauer eines Arrestbeschlusses, oder: Nicht mehr nach 3 Jahren und 3 Monaten

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Und zu dem Tagesschluss dann noch der AG Bremen, Beschl. v. 18.01.2022 – 91b Gs 1694/21 (710 Js 62699/17) -, den mir der Kollege Burgsmüller aus Bremerhaven geschickt hat. Das AG äußert sich zur Aufhebung einer Arrestanordnung wegen eingetretener Unverhältnismäßigkeit:

„Die Vermögensarreste sind wegen Zeitablaufs und nicht ordnungsgemäßer Verfahren aus Verhältnismäßigkeitserwägungen aufzuheben.

Zwar gelten die starren Überprüfungsfristen des § 111b Abs. 3 StPO a.F. (6 bzw. 12 Monate) durch deren, ersatzlose Streichung nun nicht mehr. Dennoch ist auch weiterhin eine allgemeine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen, bei der das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit gegen das Grundrecht des Betroffenen aus Art. 14 Abs. 1 GG abzuwägen ist (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 20.05.2008 – 2 Ws 155/08). Dabei wachsen mit der den Eigentumseingriff intensivierenden Fortdauer der Maßnahme von Verfassungs wegen die Anforderungen an die Rechtfertigung der Anspruchssicherung (BVerfG, Beschluss vom 07.oi.2006 – 2 BvR 583/06 – juris Rn. 5; OLG Stuttgart, Beschluss vom 25.10.2017 – Ws 163/17 -juris Rn. {b; ÖLG Rostock, Beschluss vom 12.04.2018, 20 42/18 -juris Rn. 0).

Seit Erlass der beiden vorgenannten Arrestbeschlüsse und deren teilweise Vollstreckung in Höhe von lediglich 6.119,69 € bzw. 283,51 € sind nunmehr mehr als 3 Jahre und 3 Monate verstrichen. Die Ermittlungen stellen sich sicherlich als umfangreich sowohl bezüglich der   Beweislage insbesondere bezüglich der faktischen Geschäftsführertätigkeit des Beschuldigten als auch bezüglich der Berechnung der konkreten Schadenssumme dar. Allerdings vermögen die seitens der Staatsanwaltschaft Bremen in ihrer Verfügung vom 23.12.2021 umfangreich dargestellten Ermittlungsschritte eine weitere Aufrechterhaltung nicht zu rechtfertigen.

Allein seit der letzten staatsanwaltlichen Ermittlungsverfügung vom 20.05.2021 (BI. 105 Bl. V. d. HA.) sind seitens des beauftragten Hauptzollamtes innerhalb der nunmehr wieder um vergangenen acht Monaten keine weiteren Ermittlungen mehr vorgenommen worden. Dies führt in Anbetracht des durch die Vermögensarreste verursachten starken Eingriffs in die Rechte der Beschuldigten dazu, dass nunmehr von einer Unverhältnismäßigkeit auszugehen ist. Hinzukommt, dass auch nicht abzusehen ist, wann dieses Verfahren seitens der Staatsanwaltschaft abgeschlossen werden kann, geschweige denn eine Gerichtsentscheidung im Hauptverfahren erwartet werden kann. Zumal der bereits 16.09.2021 als zeitnah angekündigte Schlussbericht des Hauptzollamts Bremen bis tum heutigen Tage nicht vorliegt.“

StPO II: Zweimal etwas zu Beschlagnahmefragen, oder: Bezeichnung in der Anordnung und Herausgabe

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Im zweiten Posting dann einige Entscheidungen zur Beschlagnahme. Hier stelle ich aber nur die jeweiligen Leitsätze vor, und zwar.

Sind sowohl die Voraussetzungen der Herausgabe an den Verletzten (§ 111n Abs. 2 StPO) als auch die Voraussetzungen der Herausgabe an den letzten Gewahrsamsinhaber (§ 111n Abs. 1 StPO) offenkundig erfüllt, hat die Herausgabe grundsätzlich vorrangig an den Verletzten zu erfolgen.

1. Ordnet ein Richter – etwa gleichzeitig mit dem Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses – die Beschlagnahme von Gegenständen an, bevor diese von den Strafverfolgungsbehörden in amtlichen Gewahrsam genommen worden sind, und bezeichnet er die Gegenstände nicht so genau, dass keine Zweifel darüber entstehen, ob sie von der Beschlagnahmeanordnung erfasst sind, etwa bei einer gattungsmäßigen Umschreibung, dann liegt noch keine wirksame Beschlagnahmeanordnung vor, sondern nur eine Richtlinie für die Durchsuchung.

2. In einem solchen Fall hat ein Betroffener zunächst eine Entscheidung gemäß § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO über die Bestätigung der Beschlagnahme konkreter Beweismittel herbeizuführen. Eine gegen die unwirksame Beschlagnahmeanordnung gerichtete Beschwerde ist entsprechend auszulegen. Die Nichtabhilfeentscheidung ersetzt nicht die richterliche Bestätigung der Beschlagnahme.

StPO I: Durchsuchung/Sicherstellung von Datenträgern, oder: BVerfG moniert „zu späten Tatverdacht“

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Heute dann ein StPO-Tag, und zwar mit Entscheidungen in Zusammenhang mit Zwangsmaßnahmen, also Durchsuchung und/Beschlagnahme.

Ich beginne „ganz oben“ und stelle zunächst den BVerfG, Beschl. v. 30.11.2021 – 2 BvR 2038/18 – vor. Gegenstand des Verfassungsbeschwerdeverfahrens sind Beschlüsse aus einem Verfahren beim AG/LG Münster. Das AG hatte die Durchsuchung der Wohn- und Geschäftsräume des Beschuldigten gemäß § 102 StPO sowie die Durchsuchung der Geschäftsräume der Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft, in welcher der Beschuldigte als Partner tätig ist, als Dritte gemäß § 103 StPO tätig war, angeordnet. Gegen den Beschuldigten bestehe der Verdacht der Beihilfe zur Einkommen-, Umsatz- und Gewerbesteuerverkürzung in den Jahren 2013 bis 2015 zum Vorteil des A., des B. sowie der pp. Immobiliengesellschaft mbH & Co. KG. Der Beschuldigte sei Wirtschaftsprüfer, Steuerberater und Partner in einer Partnerschaftsgesellschaft und mit der Erstellung der Steuererklärungen sowie mit der Bewertung von Grundstücken im Zusammenhang mit deren Einbringung in das Gesellschaftsvermögen beauftragt gewesen. Unter Bezugnahme auf die Ermittlungsergebnisse des Finanzamtes legte das AG dar, aus welchen Gründen gegen A. und B. der Verdacht der Einkommen-, Umsatz- und Gewerbesteuerverkürzung bestehe. So seien Rechnungen über noch nicht ausgeführte Bauleistungen (Scheinrechnungen) eingereicht sowie Grundstücke mit deutlich überhöhten Verkehrswerten in das Betriebsvermögen der Gesellschaft eingebracht worden, wodurch die Abschreibungen (AfA) zu hoch in Ansatz gebracht worden seien.

Die Durchsuchungsbeschlüsse wurden am 16.01.2018 vollzogen. In der Privatwohnung des Beschuldigten wurden ein Computer sowie eine Festplatte und in den Geschäftsräumen der Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft im Büro des Beschuldigten sowie im Büro eines anderen Mitarbeiters diverse Unterlagen sowie weitere Daten sichergestellt. Von den in der Privatwohnung des Beschuldigten sichergestellten Datenträgern wurden Kopien für die Ermittlungsbehörden erstellt und die Datenträger anschließend zurückgegeben.

Gegen den gegen ihn persönlich gerichteten Durchsuchungsbeschluss legte der Beschuldigte Beschwerde ein. Das AG hat nicht abgeholfen. Das LG hat dann aber festgestellt, dass der gegen den Beschuldigte gerichtete Durchsuchungsbeschluss rechtswidrig gewesen sei. Der Beschuldigte beantragte daraufhin die Aufhebung der Sicherstellung und die Herausgabe beziehungsweise Löschung aller sichergestellten Unterlagen und Daten. Das AG ordnete dann aber in dem Ermittlungsverfahren gegen B. und A. die „Beschlagnahme“ beziehungsweise zum Zwecke der Durchsicht die Sicherstellung derjenigen Gegenstände an, die bei den Durchsuchungen beim „gesondert verfolgten“ Beschuldigten und bei der Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft aufgefunden worden waren. Dagegen die Beschwerde, die das LG verworfen. Nach Durchführung des Anhörungsverfahrens hat der Beschuldigte dann die Verfassungsbeschwerde erhoben. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen, soweit sie sich gegen den AG-Beschluss gewandt hat, im Übrigen hat es sie als unzulässig verworfen:

„c) Da das Verfahren im Stadium der Durchsicht noch einen Teil der Durchsuchung bildet, kommt es für die Rechtmäßigkeit der richterlichen Bestätigung einer vorläufigen Sicherstellung darauf an, ob die Voraussetzungen einer Durchsuchung zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Durchsicht vorliegen (vgl. BVerfGK 1, 126 <133 m.w.N.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. November 2019 – 2 BvR 31/19a. -, juris, Rn. 39; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. September 2018 – 2 BvR 708/18 -, Rn. 25). Dabei müssen die Gründe der Durchsicht mit den Gründen für die Anordnung der Durchsuchung nicht notwendigerweise identisch sein und können im Detail andere Voraussetzungen bestehen als für die Durchsuchungsanordnung (vgl. BVerfGK 1, 126 <133 f.>). Sind jedoch die Voraussetzungen einer Durchsuchung zum Entscheidungszeitpunkt über die Durchsicht nicht mehr gegeben, dann ist auch die Durchsicht als Teil der Durchsuchung nicht mehr zulässig (vgl. BVerfGK 15, 225 <237 f.> m.w.N.; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Juni 2008 – 2 BvR 1111/08 -, juris, Rn. 5). Es muss also zum Entscheidungszeitpunkt ein Anfangsverdacht bestehen und die Durchsicht zur Auffindung von Beweismitteln geeignet und verhältnismäßig sein. Ungeeignet ist die Durchsicht insbesondere, wenn Beweismittel aufgespürt werden sollen, die einem Beschlagnahmeverbot oder einem sonstigen Verwertungsverbot unterliegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. September 2018 – 2 BvR 708/18 -, Rn. 25).

d) Im vorliegenden Verfahren fehlt es an verfassungsrechtlich vertretbaren Ausführungen zur Zulässigkeit der vorläufigen Sicherstellung im Hinblick auf etwaige Beschlagnahmeverbote im Sinne des § 971 StPO (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. September 2018 – 2 BvR 708/18 -, Rn. 25; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juni 2018 – 2 BvR 1405/17, 2 BvR 1780/17 -, Rn. 80; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. August 2014 – 2 BvR 969/14 -, Rn. 45; Beschluss des Zweiten Senats vom 12. April 2005 – 2 BvR 1027/02 -, Rn. 137; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 1. Juli 2003 – 2 BvR 306/03 -, Rn. 6 f.; Hauschild, in: Münchener Kommentar zur StPO, 1. Aufl. 2014, § 97 StPO Rn. 37).

aa) Dabei kommt es im Ergebnis nicht darauf an, dass das Landgericht ohne nähere Erörterung allein auf § 160a1 und Abs. 4 Satz 1 StPO abstellt, der nicht auf § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO verweist, obwohl der Beschwerdeführer Steuerberater und Wirtschaftsprüfer (nicht aber Rechtsanwalt) ist und zudem ein gemäß § 160a Abs. 5 StPO nach herrschender Ansicht vorrangiges Beschlagnahmeverbot nach § 97 Abs. 1 StPO im Raum steht (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juni 2018 – 2 BvR 1405/17, 2 BvR 1780/17 -, Rn. 73-76), das auch Gegenstände im Gewahrsam eines nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO zeugnisverweigerungsberechtigten Wirtschaftsprüfers und Steuerberaters umfasst.

bb) Ein Beschlagnahmeverbot kommt zwar gemäß § 972 Satz 2 StPO – ähnlich wie beim vom Landgericht geprüften § 160a Abs. 4 Satz 1 StPO – bei einem selbst beschuldigten Zeugnisverweigerungsberechtigten nicht in Betracht (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. September 2018 – 2 BvR 708/18 -, Rn. 42). Diese Rückausnahme vom Beschlagnahmeverbot setzt jedoch schon ihrem Wortlaut nach voraus, dass bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass der Zeugnisverweigerungsberechtigte an der Tat oder an einer Datenhehlerei, Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei beteiligt ist. Erforderlich ist daher ein konkretisierter Tatverdacht gegen den Zeugnisverweigerungsberechtigten selbst (vgl. BVerfGE 117, 244 <262>; 129, 208 <268>). Durchsuchung, Durchsicht oder Beschlagnahme dürfen nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Verdachts erforderlich sind, denn sie setzen einen Verdacht bereits voraus (vgl. BVerfGK 8, 332 <336>; 11, 88 <92>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 1. August 2014 – 2 BvR 200/14 -, Rn. 15).

Zwar kann sich ein Tatverdacht auch erst nachträglich nach Durchführung (gegebenenfalls rechtswidriger) vorheriger Ermittlungsmaßnahmen ergeben. Auch im Falle eines sich erst nachträglich ergebenden Tatverdachts ist es jedoch zwingende Voraussetzung der Rechtmäßigkeit einer weiteren richterlich angeordneten Ermittlungsmaßnahme, dass der gegen einen Verdächtigen gerichtete Tatverdacht jedenfalls zum Zeitpunkt der richterlichen Entscheidung vorliegt. Gerade auch der Tatverdacht gegen einen Zeugnisverweigerungsberechtigten muss zum Entscheidungszeitpunkt vorliegen (vgl. Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 97 Rn. 20). Nicht ausreichend ist, dass der Tatverdacht erst durch das (unzulässig) sichergestellte beziehungsweise beschlagnahmte Beweismittel entsteht (vgl. BGH, Urteil vom 28. Juni 2001 – 1 StR 198/01 -, juris, Rn. 33; Greven, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl. 2019, § 97 Rn. 41). Eine Ermittlungsmaßnahme vorzunehmen, um erst durch die Auswertung der dabei gewonnenen Erkenntnisse möglicherweise einen Tatverdacht gegen den Berufsgeheimnisträger begründen und sich auf die Rückausnahme des § 97 Abs. 2 Satz 2 StPO berufen zu können, ist mit dem Schutzzweck des § 97 Abs. 1 StPO unvereinbar und ließe diesen leerlaufen.

cc) Die Ausführungen des Landgerichts, wonach ein Anfangsverdacht (nur) gegen die Beschuldigten A. und B. zur Sicherstellung von möglicherweise beschlagnahmefreien Gegenständen genüge, soweit sich (erst) durch den Vollzug oder im Nachgang an die anzuordnende Ermittlungsmaßnahme möglicherweise ein Tatverdacht gegen den Berufsgeheimnisträger ergebe, sind danach unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar. Soweit der Anfangsverdacht als Voraussetzung einer Durchsicht geprüft wird, stellen das Amtsgericht und das Landgericht einzig auf den Tatverdacht gegen die beiden Beschuldigten A. und B. ab. Soweit dann in einem weiteren Prüfungsschritt die Frage möglicher Beschlagnahmeverbote im Hinblick auf etwaige vertrauliche Kommunikation mit einem Berufsgeheimnisträger im Raum steht, stellen die Fachgerichte dagegen auf die potentielle (durch die Durchsicht erst noch zu ermittelnde) Tatbeteiligung des Beschwerdeführers ab, weswegen etwaige Beschlagnahmeverbote derzeit nicht in Betracht kämen. Der Verzicht auf einen Anfangsverdacht gegen den Beschwerdeführer zum Entscheidungszeitpunkt einerseits bei gleichzeitiger Verneinung eines etwaigen Beschlagnahmeverbots wegen der potentiellen Tatbeteiligung des Beschwerdeführers andererseits ist widersprüchlich und kombiniert in nicht mehr vertretbarer Weise die Voraussetzungen einer Durchsicht beim Verdächtigen und beim Nichtverdächtigen mit dem Ergebnis, dass zum fachgerichtlichen Entscheidungszeitpunkt weder ein Anfangsverdacht gegen den Beschwerdeführer erforderlich ist, noch die mögliche Einschlägigkeit von Beschlagnahmeverboten gemäß § 971 StPO und damit die Eignung und Angemessenheit der Durchsicht überhaupt näher zu prüfen und zu begründen wären (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. September 2018 – 2 BvR 708/18 -, Rn. 25; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juni 2018 – 2 BvR 1405/17, 2 BvR 1780/17 -, Rn. 80; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. August 2014 – 2 BvR 969/14 -, Rn. 45; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 1. Juli 2003 – 2 BvR 306/03 -, Rn. 6). Die Voraussetzungen einer Durchsicht von bei einem Berufsgeheimnisträger sichergestellten Gegenständen werden auf diese Weise derart weit unter das von der Strafprozessordnung vorgegebene Maß abgesenkt, dass die Beschlüsse einer Prüfung am Willkürmaßstab des Art. 3 Abs. 1 GG nicht standhalten.“