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„Kleinvieh macht Mist“ = Aktenversendungspauschale, oder: Ausdruckversand und teilweise geschwärzte Akte

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Heute dann Gebühren-/Kostentag. An dem stelle ich zwei AG-Entscheidungen und eine BGH-Entscheidung vor. Ich lasse den AG den Vortritt.

Beide AG-Entscheidungen befassen sich mit der Aktenversendungspauschale (Nr. 9003 GV GKG). Es geht zwar nur jeweil um 12 EUR, aber „auch Kleinvieh macht Misr“ 🙂 . Hier dann.

Für die Übersendung eines Ausdrucks der Akte fällt eine Aktenversendungspauschale an, wenn die Akte zwer elektronisch geführt, die technischen Voraussetzungen für eine elektronische Übermittlung bei der Verwaltungsbehörde noch nicht gegeben sind.

Die Erhebung einer Aktenversendungspauschale ist nicht zulässig, wenn die Akten dem Betroffenen nur teilweise geschwärzt (hier: Schwärzung der Namen anderer Betroffener der derselben OWi) zur Verfügung gestellt werden.

Mit folgender Begründung:

„Im vorliegenden Fall besteht noch eine weitere Besonderheit, die eine Gewährung der vollständigen Akteneinsicht erforderlich macht. Den Verfolgungsbehörden (Staatsanwaltschaft, Zentrale Bußgeldstelle) liegen die Namen aller Betroffenen in ihrer Gesamtheit vor. Diese können damit weitergehende Informationen aus den Parallelverfahren auch im Verfahren gegen die Betroffene nutzen. Insoweit unterscheidet sich diese Verfahrenskonstellation von den Fällen, in denen Akten von anderen Behörden oder Gerichten noch beigezogen werden müssen und ihr Inhalt sämtlichen Beteiligten erst durch Einsicht in die beigezogenen Verfahrensakten vermittelt wird. Hier sind die Namen der anderen Betroffenen jederzeit zugänglich. Bei einer solchen Fallkonstellation gebietet es der Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 6 I EMRK), der Verteidigung dasselbe Maß an Kenntnis des Akteninhalts einzuräumen wie den übrigen Verfahrensbeteiligten. Ob Informationen für die Verteidigung von Bedeutung sein können, unterliegt allein ihrer Einschätzung. Um dies zu überprüfen, muss sie durch Einsichtnahme von dem vollen Inhalt der Akten nehmen können.

Dies rechtfertigt es, die datenschutzrechtlichen Belange der andern Betroffenen dahinter anzustellen. Das leitende Interesse für die Akteneinsicht ist hier die Vorbereitung der Verteidigung in einem Bußgeldverfahren, nicht ein aus einer anderen Rechtsbeziehung folgendes Interesse.

Auch kann der Antragsteller als Rechtsanwalt nur so die von der Zentralen Bußgeldstelle angeführte Verpflichtung lediglich einen Betroffenen im Bußgeldkomplex zu vertreten, um somit einen Interessenkonflikt zu vermeiden, hinreichend sicher überprüfen.“

OWi I: Nachträgliche Überprüfbarkeit der Messung, oder: Bei Widerspruch in der HV kein Zwischenbescheid

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Ich setze die Berichterstattung dann heute mit einem OWi-Tag fort, und zwar zunächst mit dem OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.02.2022 – 2 RBs 25/22.

Das AG hat den Betroffenen wegen einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Der Einzelrichter hat die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Betroffenen mit zur Fortbildung des Rechts zugelassen und hat die Sache dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen. Der Betroffene hatte die Sachrüge erhoben und verfahrensrechtlich beanstandet, dass das mit dem Laserscanner PoliScan FM1 (Softwareversion 4.4.9) ermittelte Messergebnis mangels Speicherung von Messdaten einem Beweisverwertungsverbot unterliege und das AG den dazu durch den Verteidiger zu Beginn der Hauptverhandlung angebrachten Widerspruch weder in der Sitzung noch in den Urteilsgründen beschieden habe. Das OLG hat die Rechtsbeschwerde verworfen:

„1. Die in zulässiger Weise erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht durch.

a) Der Senat und andere Oberlandesgerichte haben bereits mehrfach entschieden, dass der Messvorgang nicht rekonstruierbar sein muss und die Verwertbarkeit des Messergebnisses nicht von der nachträglichen Überprüfbarkeit anhand gespeicherter Messdaten abhängt (vgl. Senat BeckRS 2020, 4049; OLG Köln BeckRS 2019, 23786; OLG Oldenburg BeckRS 2019, 20646; OLG Schleswig BeckRS 2019, 33009; BayObLG NZV 2020, 322 = BeckRS 2019, 31165; OLG Karlsruhe BeckRS 2020, 29; OLG Hamm BeckRS 2020, 550; OLG Brandenburg BeckRS 2020, 1077; BeckRS 2020, 3291; BeckRS 2020, 4369; BeckRS 2020, 4376; OLG Zweibrücken BeckRS 2020, 5104; OLG Bremen BeckRS 2020, 5935; NStZ 2021, 114 = BeckRS 2020, 5965; OLG Jena BeckRS 2020, 24234; KG Berlin BeckRS 2019, 41508; BeckRS 2020, 6521; BeckRS 2020, 18283; OLG Dresden NJW 2021, 176; a. A. VerfGH Saarland NJW 2019, 2456 = NZV 2019, 414).

An den in diesen Entscheidungen dargelegten Argumenten wird festgehalten. So besteht die Möglichkeit einer nachträglichen Überprüfung anhand gespeicherter Messdaten etwa auch nicht bei der als standardisiertes Messverfahren anerkannten Geschwindigkeitsmessung mit dem nicht dokumentierenden Lasermessgerät Riegl FG 21-P („Laserpistole“). Auch kennen andere Messmethoden wie etwa die Verwendung von digitalen Waagen, Entfernungsmessern, Thermometern und Geräten zur Bestimmung der Atemalkoholkonzentration in der Regel keine Speicherung von Messdaten, ohne dass Gerichte oder der Gesetzgeber (vgl. § 24a Abs. 1 StVG für die Atemalkoholkonzentration) deshalb zur Annahme eines rechtsstaatlichen Defizits gelangt wären.

b) Der Widerspruch, den der Verteidiger zu Beginn der Hauptverhandlung gegen die Verwertung des mit dem Laserscanner PoliScan FM1 (Softwareversion 4.4.9) ermittelten Messergebnisses angebracht hat, bedurfte keiner Bescheidung durch das Amtsgericht, so dass insoweit weder das rechtliche Gehör versagt noch der Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt wurde.

Nach der sog. Widerspruchslösung der Rechtsprechung besteht kein Beweisverwertungsverbot, wenn der verteidigte oder insoweit richterlich belehrte Angeklagte der Beweisverwertung nicht bis zu dem in § 257 Abs. 1 StPO genannten Zeitpunkt widerspricht (vgl. statt vieler: BGH NStZ 2006, 348; NStZ 1997, 502; OLG Hamm NJW 2009, 242). Fehlt es an einem solchen Widerspruch, führt dies für die Revision zur Rügepräklusion (vgl. BGH NJW 2015, 265, 266; NJW 2018, 2279; OLG Celle NStZ 2014, 118, 119). Die Widerspruchsobliegenheit besteht auch im Bußgeldverfahren (vgl. Senat BeckRS 2019, 25099 = DAR 2020, 209; OLG Brandenburg BeckRS 2020, 4261; OLG Zweibrücken BeckRS 2020, 5104).

Wird in der Hauptverhandlung seitens der Verteidigung Widerspruch gegen die Verwertung eines Beweismittels erhoben, ist ein Zwischenbescheid, in dem sich das Tatgericht zur Frage eines Beweisverwertungsverbots äußern müsste, nicht vorgesehen, wenn auch nicht unzulässig (vgl. BGH NStZ 2007, 719; nachfolgend in der derselben Sache: BVerfG BeckRS 2009, 140731). Der Widerspruch dient der Vermeidung der Rügepräklusion und soll dem Tatgericht in der Hauptverhandlung verfahrensfördernd die Möglichkeit und Veranlassung geben, dem gerügten Verfahrensfehler freibeweislich nachzugehen (vgl. BGH NJW 2007, 3587, 3589; NJW 2018, 2279, 2280). Ein solcher Aufklärungsbedarf bestand vorliegend nicht, da die tatsächlichen Gegebenheiten des hier verwendeten Messverfahrens (Laserscanner PoliScan FM1, Softwareversion 4.4.9) bekannt sind. Zudem hatte der Verteidiger selbst ein Privatgutachten vorgelegt, das sich grundsätzlich mit diesem Messgerätetyp nebst neuer Softwareversion wie auch mit der konkreten Messung befasste.

Im Übrigen konnte sich der Verteidiger – der Betroffene war nach Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen selbst nicht anwesend – auch ohne ausdrückliche Erklärung des Amtsgerichts auf das weitere Verfahren einstellen. Denn es hat das Messergebnis (Messprotokoll, Datenfeld des Messfotos, XML-Datei) nach Erhebung des Widerspruchs in die Hauptverhandlung eingeführt, was darauf schließen ließ, dass es diese Beweismittel auch unter Berücksichtigung des Widerspruchs und dessen Begründung verwerten wollte.

Auch in dem schriftlichen Urteil musste das Amtsgericht den Widerspruch nicht bescheiden. Ausführungen zur Verwertbarkeit von Beweismitteln sind in § 267 StPO nicht vorgesehen und von Rechts wegen nicht geboten (vgl. BGH NStZ-RR 2007, 244; NJW 2009, 2612, 2613). Welches Messverfahren verwendet wurde, ist in dem Urteil festgestellt worden. Anders als etwa im Falle der Beanstandung einer polizeilichen Beschuldigtenvernehmung bedurfte es im Hinblick auf das geltend gemachte Beweisverwertungsverbot keiner weiteren Sachaufklärung. Durch die Verwertung des Messergebnisses hat das Amtsgericht inzident klar zum Ausdruck gebracht, dass es den zur Kenntnis genommenen Widerspruch nicht für durchgreifend erachtet hat und der oben zitierten Rechtsprechung des übergeordneten Senats wie auch zahlreicher anderer Oberlandesgerichte gefolgt ist. Ein Erkenntnisgewinn für den Verteidiger, dem diese Rechtsprechung ohnehin bekannt ist, hätte sich nicht ergeben, wenn der Widerspruch in den Urteilsgründen unter Hinweis auf einige Fundstellen der ständigen OLG-Rechtsprechung ausdrücklich beschieden worden wäre.

Bei dem Widerspruch handelt es sich um eine den Betroffenen bzw. Verteidiger treffende Obliegenheit, deren Erfüllung Voraussetzung für die Verfahrensrüge in der Rechtsbeschwerdeinstanz ist. Das Amtsgericht konnte sich zu dem Widerspruch äußern, musste dies aber nicht. Ein Verwertungswiderspruch ist unter den Gesichtspunkten des rechtlichen Gehörs und des fairen Verfahrens nicht einem Antrag gleichzustellen, den das Tatgericht zu bescheiden hat (z. B. Beweisantrag, Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung)…..“

Anmerkung:

1. Zur nachträglichen Überprüfbarkeit entspricht der Beschluss der h.M. in der Rechtsprechung der OLG. Man wird sehen, was das BVerfG – hoffentlich bald – dazu sagt.

2. Zur Widerspruchslösung ist die Entscheidung ebenfalls wohl zutreffend. Allerdings ist insoweit anzumerken, dass der Obersatz des OLG: „Nach der sog. Widerspruchslösung der Rechtsprechung besteht kein Beweisverwertungsverbot, wenn der verteidigte oder insoweit richterlich belehrte Angeklagte der Beweisverwertung nicht bis zu dem in § 257 Abs. 1 StPO genannten Zeitpunkt widerspricht“ zumindest missverständlich ist. Die Frage des Widerspruchs hat nämlich nichts mit dem Bestehen eines Beweisverwertungsverbotes zu tun. Sondern: Das Beweisverwertungsverbot besteht, nur muss der Betroffene es auch in der Hauptverhandlung geltend machen, und zwar eben mit dem Widerspruch. Denn bei dem handelt es sich um eine den Betroffenen bzw. Verteidiger treffende Obliegenheit, deren Erfüllung nicht Voraussetzung für das Bestehen des Beweisverwertungsverbotes ist, sondern für die Verfahrensrüge in der Rechtsbeschwerdeinstanz ist. Nur, wenn widersprochen worden ist und das auch vorgetragen wird, kann die Verfahrensrüge durchgreifen.

StPO II: Telefonerlaubnis für den Beschuldigten?, oder: Pandemielage und Sohn im Ausland, also ja

Und als zweite StPO-Entscheidung dann etwas zur Telefonerlaubnis, und zwar der AG Nürnberg, Beschl. v. 10.02.2022 – 57 Gs 1224/22. Ergangen ist der Beschluss in einem sog. BtM-Verfahren. Der Beschuldigte hatte eine Erlaubnis für ein Telefonat mit seinem im Ausland lebenden Sohn beantragt. Die StA hat das abgelehnt. Der dagegen gerichtete Antrag auf gerichtliche Entscheidung hatte dann Erfolg:

„Die Verfügung war aufzuheben, da sie nicht der Sach- und Rechtslage entspricht.

Weshalb ein Telefonat mit dem im Ausland lebenden Sohn dem Zweck der Untersuchungshaft widersprechen soll, wie in der Verfügung apodiktisch behauptet, jedoch nicht näher begründet wird, ist nicht nachvollziehbar. Die Behauptung, Telefonate seien mit der Anstaltsordnung unvereinbar, ist – unabhängig davon, dass diese ebenfalls apodiktische Behauptung für das Gericht nicht nachvollziehbar ist – irrelevant; Gründe der Anstaltsordnung haben bei der grundsätzlichen Frage von Genehmigungen von Telefonaten außer acht zu bleiben, weil § 119 StPO die Erteilung von Beschränkungen nur gestattet. soweit diese haftgrundbezogen sind. Die Wahrung der Anstaltsordnung im Rahmen der Vorschriften des BayUVollzG ist ausschließlich Sache der Justizvollzugsanstalt, nicht der Staatsanwaltschaft oder des Ermittlungsgerichts.

Soweit die Staatsanwaltschaft sich im Übrigen darauf beruft, dass keine außergewöhnlichen Umstände vorlägen, trifft-dies – unabhängig von der Frage, ob Telefonate nur beim Vorliegen außer-gewöhnlicher Umstände zu genehmigen sind – vorliegend zum einen angesichts der unverändert fortdauernden Pandemielage, zum anderen aber auch angesichts der Tatsache, dass der Sohn im Ausland lebt und sich eine Anreise nach Deutschland nicht leisten kann, schlicht nicht zu.

Das Gericht hat die Telefonerlaubnis vorliegend ohne Anordnung einer polizeilichen Überwachung erteilt, da nicht ersichtlich ist, wie durch das Telefonat mit dem Sohn, der im Ausland lebt und in keinerlei Verbindung zu den verfahrensgegenständlichen Taten steht, das vorliegende Verfahren beeinträchtigt werden könnte.“

StPO I: „Negativer BGH-Räusperer“ zu EncroChat, oder: „im Ergebnis….gewonnene Erkenntnisse…verwertbar“

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Zum Wochenauftakt zunächst einen „kleinen“ Beschluss des BGH; daher „BGH-Räusperer“. Es geht um EncroChat. Geschickt haben mir den Beschluss der Kollege Rakow aus Rostock und der Kollege Stehr aus Göppingen, die beide in Sachen Encro bundesweit unterwegs sind.

Ich erinnere zunächst noch einmal an die zahlreichen OLG-Entscheidungen, die es inzwischen zu EncroChat gibt, von denen ich hier ja auch einige vorgestellt hatte, und zwar u.a. den KG, Beschl. v. 30.08.2021 – 2 Ws 79/21 – zum LG Berlin, Beschl. v. 01.07.2021 – (525 KLs) 254 Js 592/20 (10/21)  – (dazu StPO I: EncroChat beim KG, oder: “das allgemeine Gerechtigkeitsempfinden der rechtstreuen Bevölkerung”) mit weiteren Hinweisen auf andere OLG-Beschlüsse. Die OLG haben alle die Ergebnisse als verwertbar angesehen.

Und: Alle hoffen auf den BGH, das BVerfG und dann ggf. den EGMR. Von den Dreien hat sich nun der BGH geäußert. Nun „geäußert“ ist vielleicht ein wenig viel. Sagen wir: Der BGH hat sich „geräuspert“. Aber an dem Räusperer kann man schon mal sehen, wohin die Reise betreffend EncroChat auch beim BGH gehen dürfte, wenn sich der BGH „richtig äußerrt“. Nämlich in Richtung „Verwertbarkeit der Beweisergebnisse“. Ich sage jetzt nicht: Ich habe es schon immer gesagt, ist aber leider so. Damit bleiben dann wohl nur noch BVerfG und ggf. EGMR.

Denn der BGH hat sich im BGH, Beschl. v. 08.02.2022 – 6 StR 639/21 -wie folgt geäußert:

„Die aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen unzulässige Verfahrensrüge wäre auch unbegründet. Der Senat sieht im Ergebnis die aus der Überwachung der Kommunikation über den Krypto-Messengerdienst EncroChat durch französische Behörden gewonnenen Erkenntnisse im Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung als im Strafverfahren verwertbar an (vgl. etwa KG, NStZ-RR 2021, 353 mwN).“

Also: „im Ergebnis…… verwertbar.“ = wir begründen das ggf. etwas anders, aber das Ergebnis wird sich nicht ändern.

Und wer jetzt ggf. meint, dass ja noch der Weg zum Großen Senat für Strafsachen offen sei, wenn nun ein anderer Senat das anders sehen sollte (was ich nicht glaube). Nein, den Weg muss man m.E. nicht gehen. Denn die Ausführungen des BGH zu EncroChat sind/waren nicht tragend.

Ein Hoffnungsschimmer bleibt  vielleicht aber doch noch. Der BGH-Beschluss datiert vom 08.02.2022. Zu dem Ganzen sollen ja neue Erkenntnisse vorliegen, wie sich die „Einbindung“ der deutschen Behörden abgespielt haben soll  (vgl. u.a. hier). Die hat der BGH bei seinem „Räusperer“ noch nicht berücksichtigen können. Mal sehen, ob die an der Rechtsprechung der OLG und dann ggf. auch des BGH etwas ändern. Man darf gespannt sein. Vor Überraschungen ist man ja nie sicher.

StPO III: Vollstreckung nach Doppelbestrafung? oder: Was ist der richtige Weg zum Ziel?

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Und zum Tagesschluss dann noch der AG Reutlingen, Beschl. v. 25.01.2022 – 5 Cs 24 Js 7842/21. M.E. bedenklich, zwar nicht das Ergebnis, aber der Weg dorthin. Es geht um die Zulässigkeit der Vollstreckung einer Geldstrafe.

Der Verurteilte wurde mit rechtskräftigem Strafbefehl vom 07.05.2021 wegen Besitzes von Betäubungsmitteln am 02.04.2021 gegen 11:10 Uhr in seiner Wohnung zu einer Geldstrafe verurteilt. Einer weiteren rechtskräftigen Verurteilung zu einer weiteren Geldstrafe am 29.07.2021 in einem anderen Verfahren lag eine Widerstandshand­lung gegen Polizeibeamte ebenfalls am 02.04.2021 gegen 11:10 Uhr in seiner Wohnung zugrunde. Die polizeilichen Maßnahmen in der Woh­nung des Verurteilten erfolgten, weil durch die Poli­zeibeamten im Haus ein starker Cannabisgeruch festgestellt wurde, was nach richterlicher An­ordnung zur Kontrolle der Wohnung und dem abgeurteilten Widerstand führte. Auf Antrag der StA hat das AG festgestellt, dass die Vollstreckung der Geldstrafe aus dem Urteil vom 26.06.2021 unzulässig ist:

„Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Tübingen wird festgestellt, dass die Vollstreckung der Geldstrafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Reutlingen vom 26.06.2021 i. V. m. dem Urteil des Amtsgerichts Reutlingen vom 29.07.2021, rechtskräftig seit 18.10.2021, unzulässig ist.

Der Strafausspruch im Verfahren 5 Cs 24 Js 7842/21 verstößt gegen das verfassungsrechtliche Verbot der Doppelbestrafung, Art. 103 III Grundgesetz.

Ob dieselbe „Tat“ nach Art. 103 III GG vorliegt, ist dabei unabhängig vom Begriff der Tateinheit nach § 52 StGB zu beurteilen, weil die Rechtsfiguren der Tateinheit (§ 52 StGB) und der Tatidentität (Art. 103 III GG) verschiedene Zwecke verfolgen (vgl. BVerfGK 5, 7 = BeckRS 2005, 22553). Tat nach Art. 103 III GG ist vielmehr der geschichtliche — und damit zeitlich und sachverhaltlich begrenzte — Vorgang, auf welchen Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen oder mehrere Straftatbestände verwirk-licht hat (BVerfGK 5, 7 BeckRS 2005, 22553). Die prozessuale Tat nach § 264 StPO entspricht damit im Wesentlichen dem verfassungsrechtlichen Begriff der sogenannten Tatidentität gern. Art. 103 III GG.

Über die prozessuale Tat ist hier bereits rechtskräftig seit 27.05.2021 abschließend entschieden mit einem Strafbefehl es Amtsgerichts Reutlingen vom 07.05.2021. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens ist nicht geboten oder vom Verurteilten beantragt. Es ist ausreichend, aber auch geboten, die Unzulässigkeit dler Vollstreckung festzustellen (hierzu: Meyer/Goßner, StPO, § 359, Rn. 39 m.w.N.).

Der Verurteilte wurde mit Strafbefehl des Amtsgerichts Reutlingen vom 07.05.2021 (Az: 5 Cs 41 Js 9699/21), rechtskräftig seit 27.05.2021, wegen unerlaubtem Besitzes von Betäubungsmitteln (rund 40 Gramm) am 2.04.201 gegen 11:10 Uhr in seiner Wohnung in pp. zu einer Geldstrafe verurteilt.

Der späteren Verurteilung im Verfahren 5 Cs 24 Js 7842/21 hingegen lag eine „Widerstandshandlung gegen Polizeibeamte“ ebenfalls am 02.04.2021 „gegen 11:10 Uhr in der Wohnung des Verurteilten in pp.» zugrunde. Da die polizeilichen Maßnahmen in der Wohnung des Verurteilten nach den gerichtlichen Feststellungen auch erfolgten, weil seitens der Polizeibeamten im Haus ein starker Cannabisgeruch festgestellt wurde, was nach richterlicher An-ordnung zur Kontrolle der Wohnung und dem abgeurteilten Widerstand führte, stehen die den vorgenannten Verurteilungen zugrundeliegenden Taten nicht nur in einem engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang, sondern darüber hinaus in einem besonders starken inneren Beziehungs- und Bedingungszusammenhang.

Der Sachverhalt ist weder rechtlich noch bei verständiger Betrachtung des wirklichen Geschehens in verschiedene Lebenssachverhalte irgendwie „aufspaltbar“. Eine Tat im prozessualen Sinne ist der von der zugelassenen Anklage umgrenzte geschichtliche Lebensvorgang einschließlich aller damit zusammenhängenden oder darauf bezogenen Vorkommnisse und tatsächlichen Umstände, die geeignet sind, das in diesen Bereich fallende Tun der in der Anklage konkret bezeichneten Person unter irgendeinem rechtlichen Gesichtspunkt als strafbar erscheinen zu lassen (KK-StPO/Ott, 8. Aufl. 2019, § 264 Rn. 5, stRspr, vgl. BGH Beschl. v. 23.9.2020 — 2 StR 606/19, BeckRS 2020, 28081).

Zur Tat in diesem Sinne gehört das gesamte Verhalten eines Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Lebensauffassung einen einheitlichen Vorgang darstellt (BGH Beschl. v. 23.9.2020 — 2 StR 606/19, BeckRS 2020, 28081). Dies gilt auch, wenn einzelne damit zusammenhängende oder darauf bezogene Umstände in der Anklageschrift nicht ausdrücklich erwähnt, in einem anderen Verfahren angeklagt oder vergessen worden sind (hierzu: 01.3 Stuttgart, NJW 2021, 2596 Rn. 14, beck-online)

Dass die gesamt Tat bereits rechtskräftig abgeurteilt ist, war wohl bedauerlicherweise zu übersehen, da in dem Bundeszentralregisterauszug (Stand: 28.04.2021, mit Beantragung des Strafbefehls im Juni) in der Verfahrensakte in Sachen 5 Cs 24 Js 7842/21 die frühere Aburteilung durch den Strafbefehl noch nicht enthalten war und vom zum damaligen Zeitpunkt unverteidigten Angeklagten in der Hauptverhandlung am 29.07.2021 nicht mitgeteilt wurde. Lediglich anzumerken bleibt, dass die eingesetzte Software ForumStar nicht auf die Anhängigkeit von mehr als einem Verfahren zur gleichen Zeit gegen ein und dieselbe Person beim Gericht oder Spruchkörper automatisiert hinweist. Dar er Strafbefehl. welcher zur zweiten Verurteilung führte, beim Gericht erst im Juni 2021 beantrag: wurde, hat sich das Fehlen einer entsprechenden Softwarefunktion nicht ausgewirkt.

Die doppelte Verurteilung ist misslich, rechtswidrig und wurde erst mit einer vorzunehmenden Gesamtstrafenbildung bei der Staatsanwaltschaft augenfällig.

Von Amts und Verfassungs wegen ist die „zweite Geldstrafe“ nicht zu vollstrecken, wenn auch der „doppelt“ Verurteilte den Fehler weder bis zur Rücknahme einer Berufung noch zu einem späteren Zeitpunkt gerügt hat.“

Wie gesagt: M.E. bedenklich. Denn abgesehen davon, dass der Weg zur Unzulässigkeit der Strafvollstreckung wohl über die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten möglich und geboten wäre, war der hier vom AG gewählte Weg über § 458 Abs. 1 StPO, die Unzulässigkeit der Strafvollstreckung festzustellen, schon deshalb nicht gangbar, weil die Korrektur nach § 458 Abs. 1 StPO nur auf entsprechende Einwendung des Verurteilten oder seines Verteidigers zulässig gewesen wäre. Einwendungen der StA als Vollstreckungsbehörde zugunsten des Verurteilten und damit auch der Antrag hier sind mangels Einwendungsberechtigung hingegen nicht statthaft.

Im Übrigen: Augen auf – und zwar bei der StA. Denn die „Doppelbestrafungskonstellationen“ im BtM-Bereich sind ja nicht selten.