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Verkehrsrecht III: Nachtrunk als Schutzbehauptung?, oder: Wie widerlegt man eine Nachtrunkeinlassung?

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Die zweite Entscheidung des Tages, der LG Oldenburg, Beschl. v. 24.05.2022 – 4 Qs 155/22 – ist recht frisch. Der Kollege Lorenzen aus Bremen hat mit die Entscheiudung erst gestern geschickt. Passt dann ganz gut zu der heutigen Thematik.

Das LG hat über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach einer behaupteten Trunkenheitsfahrt entschieden. Der Beschuldigten wird vorgeworfen, am 02.04.2022 gegen 23:00 bei McDonalds, Hasporter Damm 187 in Delmenhorst mit einem PKW unter Alkoholeinfluss gegen einen in der dortigen Zufahrt des Drive-Ins im Boden eingegrabenen Findling gefahren zu sein. Der Findling sei daraufhin gegen einen dahinter befindlichen Pfeiler der dortigen Höhenbegrenzung der Zufahrt gedrückt worden, wodurch die metallische Außenverkleidung des Pfeilers deformiert worden und insgesamt ein Schaden von mindestens 3.000  EUR entstanden sei. In der Folge habe sie sich in Kenntnis des Geschehens von der Unfallstelle entfernt, ohne dass nähere Feststellungen zu ihrer Person getroffen werden konnten.

Gegen 01:30 wurde die Beschuldigte durch die ermittelnden Polizeibeamten an ihrer Wohnanschrift angetroffen. Ihr aufgefundene Fahrzeugwies an der rechten Vorderseite erkennbare Beschädigungen auf, die augenscheinlich mit dem Unfallgeschehen in Zusammenhang stehen konnten.

Bei der Beschuldigten wurden zwischen 01:33 Uhr und 02:32 Uhr zwei freiwillige Tests zur Ermittlung der Atemalkoholkonzentration (AAK) und zwei Tests zur Ermittlung der Blutalkoholkonzentration (BAK) durchgeführt. Die Tests ergaben zu den betreffenden Uhrzeiten die folgenden Werte: um 01:33 Uhr eine AAK von 1,55 %o; um 01:39 Uhr eine AAK von 1,62 %o; um 02:02 Uhr eine BAK von 1,65 %o; um 02:32 Uhr eine BAK von 1,52 %o.

Das AG hat dann die Fahrerlaubnis gemäß § 111a StPO vorläufig entzogen. Dagegen die Beschwerde, die Erfolg hatte. Das LG äußert sich insbesondere zu eine „Nachtrunkeinlassung“ der Beschuldigten

„2. Es besteht zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Ermittlungen gegen die Beschuldigte weder der dringende Tatverdacht einer Straftat nach § 315c Abs. 1 Nr. 1a StGB noch einer Straftat nach § 316 StGB und zwar sowohl für den Zeitraum vor dem Zusammenstoß mit dem Findling als auch für die sich anschließende Rückfahrt zu ihrer Meldeadresse. Denn der Beschuldigten kann nach derzeitigem Stand der Ermittlungen eine Fahruntüchtigkeit aufgrund eines Alkoholkonsums nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden; weder eine absolute noch eine relative Fahrunsicherheit.

a) Gegen die Beschuldigte kann der Nachweis einer absoluten Fahruntüchtigkeit derzeit nicht geführt werden.

aa) Der Grenzwert der absoluten Fahrunsicherheit im Straßenverkehr liegt für Fahrzeug-führer eines PKW bei einer BAK von 1,1 %o (BGHSt 37, 89; Geppert, in: Jura 2001, 559 (561); Fischer, § 316 StGB, Rn. 25). Kann eine entsprechende BAK zur Tatzeit nachgewiesen werden, wird die absolute Fahrunsicherheit unwiderleglich vermutet (siehe im Überblick Pegel, in: MüKo, § 316 StGB, Rn. 33 m. w. N.).

bb) Der Beschuldigten kann derzeit nicht nachgewiesen werden, dass sie zum Zeitpunkt des Unfallgeschehens eine BAK von über 1,1 %o hatte.

Sie hat gegenüber der Polizei angegeben, zunächst bis etwa 22:30 Uhr auf einer Feier in Bookholzberg gewesen zu sein. Dort habe sie „zwei Glas Sekt“ zu sich genommen. Es treffe zu, dass sie zu der behaupteten Zeit mit dem besagten Fahrzeug bei dem in Rede stehenden McDonalds-Restaurant gewesen sei. Allerdings könne sie sich an kein Unfall-geschehen erinnern. Sie habe vielmehr noch auf dem Parkplatz ihr Essen verspeist und sei erst anschließend nach Hause gefahren, wo sie etwa gegen etwa 23:15 Uhr angekommen sei. In der Folge habe Sie dann im heimischen Wohnzimmer circa 0,8 l Weißwein getrunken und sei anschließend gegen Mitternacht ins Bett gegangen. Bis zum Eintreffen der Polizeibeamten um 01:30 Uhr habe sie geschlafen.

Dieser behauptete Nachtrunk zwischen 23:15 Uhr und 00:00 Uhr kann derzeit nicht als mutmaßliche Schutzbehauptung widerlegt werden. Die Einlassung „zwei Glas Sekt“ getrunken zu haben, genügt nicht im Ansatz, um eine BAK von 1,1 ‰ nachzuweisen. Dazu im Einzelnen:

aa) Der Rückschluss von einer gemessenen BAK zum Zeitpunkt der Blutentnahme auf die relevante BAK zum Zeitpunkt des Vorfalls ist nur dann problemlos möglich, wenn in der dazwischenliegenden Zeit ein regelhafter Verlauf der Blutalkoholkurve unterstellt werden kann. Nachtrunkeinlassungen erschweren diesen Rückschluss zugunsten des Beschuldigten. Sie stellen insofern ein günstiges Feld für Schutzbehauptungen in allen Fällen dar, in denen die Sistierung des mutmaßlich alkoholbedingt absolut fahruntüchtigen Verkehrsteilnehmers nicht unmittelbar, sondern – wie hier – erst im weiteren zeitlichen Umfeld des in Rede stehenden Deliktes erfolgte (siehe dazu insgesamt Hoppe/Haffner, in: NZV 1998, 265).

Die Widerlegung eines Nachtrunk ist aus gutachterlicher Sicht immer dann einfach, wenn Nachtrunkmenge und objektiv gemessene Blutalkoholkonzentration auch unter Berücksichtigung der individuellen Schwankungen der einzelnen pharmakokinetischen Berechnungsparameter nicht miteinander in Einklang zu bringen sind (Hoppe/Haffner, a. a. O.). Um eine Nachtrunkbehauptung allein durch eine Doppelblutentnahme sicher widerlegen zu können, müssen die folgenden Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein (dazu mit ausführlicher Begründung erneut Hoppe/Haffner a. a. O.):

(1) Die Nachtrunkmenge muss groß und in kurzer Trinkzeit konsumiert worden sein, da nur in entsprechenden Fällen ein längerer über das Trinkende hinaus anhaltender und somit durch Doppelblutentnahmen auch erfassbarer Anstieg der Blutalkoholkurve hervorgerufen werden kann.

(2) Die Entnahme der ersten Blutentnahme muss spätestens 45 Minuten nach dem Nachtrunkende erfolgt sein.

(3) Der Unterschied zwischen erstem und zweitem Blutprobenmittelwert muss mindestens 5 % betragen.

(4) Das Konzentrationsniveau der Blutalkoholmittelwerte zum Zeitpunkt der Blutentnahmen darf bei Entnahmezeitintervallen von 30 Minuten nicht wesentlich über 1,5 Promille liegen.

bb) Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Insbesondere wurde das Blut für die erste Blutprobe zur Bestimmung des BAK erst um 02:02 Uhr entnommen, während das behauptete Trinkende bereits um 00:00 Uhr erfolgt sei.

Die Zeitspanne ab dem letzten Alkoholkonsum, während welcher die BAK bis zur Erreichung ihres Maximums steigt, die sogenannte Anflutungsphase, ist von Proband zu Proband unterschiedlich, beträgt im Regelfall etwa 30 Minuten, kann aber – je nach individueller Konstitution – auch bis zu zwei Stunden dauern (Hoppe/Haffner a. a. O.). Ergeben die Analysen einer ersten in zeitlich engem Zusammenhang mit dem in Rede stehenden Tatgeschehen entnommenen und einer zweiten, im Abstand von 30 Minuten entnommenen Blutprobe, dass die BAK sinkt, kann die Nachtrunkbehauptung allein anhand dieser Analyse widerlegt werden. Denn dann wäre nachgewiesen, dass kein Nachtrunk stattgefunden haben kann, weil sich der Proband in diesem Fall noch in einer Anflutungsphase befinden müsste.

Hier liegt der Fall – entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft – allerdings anders. Der behauptete Nachtrunk ist bereits um 00:00 Uhr abgeschlossen gewesen, zum Zeitpunkt der ersten AAK-Messung um 01:33 Uhr also vor etwa 90 Minuten, zum Zeitpunkt der ersten BAK-Messung um 02:02 Uhr folglich bereits seit zwei Stunden. Auch nach der Einlassung der Beschuldigten hätte sie sich zu den jeweiligen Zeitpunkten der entnommenen Blutproben bereits in der Abbauphase befinden müssen, was letztlich durch die beiden BAK-Werte auch belegt wurde. Die Doppelblutentnahme bzw. die Analysen hätten – bereits von vorne herein – die Nachtrunkbehauptung nicht mehr widerlegen können.

Vielmehr stützen sämtliche genommenen Werte – unabhängig von der beweisrechtlichen Verwertbarkeit der AAK-Werte – eher die Einlassung der Beschuldigten. Denn zwischen 01:33 Uhr und 02:02 Uhr ist die Alkoholkonzentration offenbar noch von 1,55 %o um 01:33 Uhr über 1,62 %o um 01:39 Uhr auf bis zu 1,65 %o um 02:02 Uhr angestiegen, bevor sie bis um 02:32 Uhr auf 1,52 %o gesunken ist. Das legt jedenfalls nahe, dass die Beschuldigte sich während der Zeit zwischen 01:33 Uhr und 02:02 Uhr noch in einer Anflutungsphase befunden hat. Das wiederum würde nahelegen, dass sie – wie behauptet – innerhalb der letzten zwei Stunden davor – also zwischen 23:33 Uhr und 00:02 Uhr – noch Alkohol zu sich genommen haben könnte. Widerlegt wird die Nachtrunkbehauptung durch diese Werte allerdings in keinem Fall.

Bei dieser Bewertung hat die Kammer auch nicht verkannt, dass die Umstände des behaupteten Nachtrunk durchaus Zweifel wecken. So erscheint es prima facie zumindest fragwürdig, ob eine Person von etwa 172 cm Größe und einem Gewicht von 100 kg mit einer Menge von 0,8 l Weißwein innerhalb von 45 Minuten einen derart hohen Alkoholpegel erreichen kann.

cc) Die Nachtrunkbehauptung der Beschuldigten könnte ggf. aber noch über eine Begleitstoffanalyse widerlegt werden (allgemein zur Relevanz von Begleitstoffanalysen in Strafverfahren siehe Aderjan/Schmitt/Schulz, in: NZV 2007, 167). Hierüber könnte aus den entnommenen Blutproben dann ggf. noch bestimmt werden, ob die behauptete Art der konsumierten Getränke (Sekt und Weißwein) mit den Ergebnissen der Begleitstoffanalyse plausibel in Einklang zu bringen ist.

b) Gegen die Beschuldigte kann auch der Nachweis einer relativen Fahruntüchtigkeit zum gegenwärtigen Stand der Ermittlungen nicht geführt werden……“

Den Rest der (schönen) Entscheidung dann bitte selbst lesen…..

Pflichti III: Beiordnung wegen schwieriger Rechtslage?, oder: Ungleichartige Wahlfeststellung/Rahmenanklage

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Und zum Tagesschluss dann noch der LG Leipzig, Beschl. v. 29.04.2022 – 2 Qs 3/22 jug. – zur Beiordnung wegen Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage (§ 140 Abs. 2 StPO).

Der Jugendrichter hatte den Kollegen Costabel aus Leipzig nicht bestellt. Das LG ändert das dann ab:

„Die gem. §§ 142 Abs. 7 Satz 1, 311 StPO zulässige sofortige Beschwerde des Angeschuldigten gegen die ablehnende Entscheidung der Jugendrichterin ist begründet, weil wegen der Schwierigkeit der Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint und somit ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt, § 140 Abs. 2 StPO.

Mit Anklageschrift vom 1.11.2021 wurden dem Angeschuldigten wahlweise drei Diebstähle (Tatzeiten: 18.7. und 24.7.2020) oder drei Fälle der Hehlerei (zu nicht näher bestimmte Tatzeiten zwischen 18..7.2020 und 4.2.2021) oder drei Fälle der „Fundunterschlagung“ (ebenfalls im Tatzeitraum zwischen 18.7.2020 und 4.2.2021) zur Last gelegt. Ausgangspunkt der Anklagevorwürfe ist, dass der Angeschuldigte bei einer Polizeikontrolle am 4.2.2021 in Leipzig u.a. drei zur Fahndung ausgeschriebene Führerscheine in seiner Jackentasche mitführte, die den betreffenden Inhabern jeweils bei Diebstahlshandlungen am 18.7. und 24.7.2021 -zugleich mit weiteren Wertsachen- entwendet worden waren. Auf Nachfrage der Polizeibeamten soll der Beschuldigte zur Herkunft der Dokumente spontan angegeben haben, dass er die Führerscheine gerade gefunden habe und im Begriff gewesen sei, sie bei einer Polizeidienststelle in der Permoser Straße abzugeben. Nach Eröffnung der Tatvorwürfe und Belehrung über seine Rechte als Beschuldigter machte er nach Aktenlage keine weiteren Angaben zur Sache. Über die Zulassung der Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens ist noch nicht entschieden.

Durch die hier mittels ungleichartiger Wahlfeststellung weit gefasste „Rahmenanklage“ können sich im Lauf des Verfahrens derart vielfältige Fallvarianten und Beweiskonstellationen ergeben, dass die Rechtslage ohne juristisches Fachwissen unübersichtlich werden dürfte. Nach § 244 Abs. 2 StPO ist das erkennende Gericht gehalten, sämtliche in Betracht kommende Tatvorwürfe erschöpfend aufzuklären, ehe für erwiesen erachteten Taten abgeurteilt werden oder ein Freispruch erfolgt. Aus Sicht versierter Strafrechtler mögen die grundlegenden Rechtsfragen zur ungleichartigen Wahlfeststellung und jeweiligen Anwendung des Zweifelssatzes durch die Entscheidungen des großen Senats des Bundegerichtshofes vom 8.5.2017 (BGHSt 62, 164 ff.) und des Bundesverfassungsgerichts vom 5.7.2019 (NJW 2019, 2837 ff.) hinreichend geklärt und der vorliegende Fall auch „leicht überschaubar“ sein. Die in materieller und prozessualer Hinsicht entscheidungsrelevanten Aspekte (vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl., Rdnr. 32 bis 47 zu § 1 StGB) dürften aber selbst Volljuristen, die hauptsächlich auf anderen Rechtsgebieten tätig sind, nicht immer geläufig sein. Bei juristischen Laien darf man entsprechende Kenntnisse nur bei einfachsten Fallkonstellationen voraussetzen, etwa beim wahlweisen Vorwurf einer Diebstahls- oder Hehlereihandlung, wenn noch dazu ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang zwischen beiden Tatalternativen vorliegt.

Hier werden dem Angeschuldigten bis zu neun Tathandlungen innerhalb eines siebenmonatigen Zeitraumes zur Last gelegt, die ggf. umfassend zu prüfen sind. Die wahlweise Kombination mit den „Fundunterschlagungen“ wirft dabei noch zusätzliche Rechtsprobleme auf. So stellt das kurzfristige Behalten eines Fundgegenstandes noch keine Manifestation des Zueignungswillens gem. § 246 Abs. 1 StGB dar (vgl. § 965 BGB). Zudem erscheinen die im Anklagesatz angenommenen Konkurrenzen fragwürdig, zumal die Hehlerei(en) und die Unterschlagung(en) auch jeweils durch eine einzige Handlung des Angeschuldigten realisiert worden sein können.

Je größer die Zahl der sich wahlweise anbietenden Möglichkeiten und je vielfältiger ihre Art, desto komplexer die Rechtslage und die Gefahr, dass andere mögliche Geschehensabläufe übersehen werden. Das gilt erst recht für Laien, die sich in einer Hauptverhandlung ggf. mit Strafjuristen darüber auseinanderzusetzen haben. Selbst unter Berücksichtigung der prozessualen Fürsorgepflicht der Jugendrichterin dürfte der 21-jährige Angeschuldigte dieser Aufgabe alleine nicht gewachsen sein.“

Pflichti II: „Die Hauptverhandlung ist eine Farce…., oder: Reicht das für die Entpflichtung?

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Im zweiten Posting dann eine Entscheidung zur Abberufung bzw. Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung. Es handel sicu um den OLG Schleswig, Beschl. v. 21.02.22002 – 1 Ws 26/22.

Folgender (Kurz)Sachverhalt: Das LG hat den Verteidiger entpflichtet. Dagegen die sofortige Beschwerde. Die hat keinen Erfolg. Das OLG sieht zwar die vom LG für die Entpflichtung angeführten Gründe als nicht ausreichend an, legt dann aber der Entpflichtung eine andere Begründung zugunde:

„Im Ergebnis zu Recht ist der Rechtsanwalt entpflichtet worden.

Die für diese Entscheidung angeführte Begründung, der Rechtsanwalt habe sich geweigert, die Verteidigung des Angeklagten zu führen (§ 145 Abs. 1 Satz 1 StPO), erscheint aus Sicht des Senats indes nicht tragfähig.

Die Verfügung lässt erkennen, dass der Verteidiger an diesem ersten Hauptverhandlungstag für den Angeklagten tätig war und verschiedene prozessual zulässige Handlungen für ihn vorgenommen hat. Auch ist das nachfolgende Verhalten des Rechtsanwalts, in dem die Kammer eine „Weigerung“, den Angeklagten zu verteidigen, erblickt hat, tatsächlich nicht von einer Qualität, die die Entpflichtung des Rechtsanwalts unter diesem Gesichtspunkt rechtfertigen könnte.

Dem Rechtsanwalt wird vorgehalten, erklärt zu haben, aus seiner Sicht sei die heutige Hauptverhandlung „eine Farce“ und weder er noch der Angeklagte würden sich daher an ihr aktiv beteiligen; insbesondere werde er bei der beabsichtigten Vernehmung von Zeugen diesen keinerlei Fragen stellen.

In dieser Äußerung und dem entsprechenden Verhalten vermag der Senat eine ernsthafte und endgültige Weigerung im Sinne des § 145 StPO nicht zu sehen.

Zum einen handelte es sich um Geschehnisse am ersten Verhandlungstag einer auf etliche weitere Verhandlungstage angelegten Hauptverhandlung, aus denen keine sicheren Schlüsse hinsichtlich des Verteidigungsverhaltens in seiner Gesamtheit gezogen werden konnten.

Zum anderen kann das Verhalten auch nicht – wie in der Verfügung geschehen – als „in erheblichem Maße prozessordnungswidrig“ zu bezeichnet werden, welches „den Boden des geltenden Prozessrechts deutlich“ verließe. Die Strafprozessordnung (§ 240 Abs. 2 StPO) gibt dem Verteidiger und dem Angeklagten zwar das Recht, Zeugen und Sachverständige zu befragen. Sie verpflichtet aber weder den Verteidiger noch den Angeklagten, dieses Recht überhaupt oder in einem bestimmten Umfang auszuüben. Wenn sich Verteidiger und Angeklagter darüber einig sind, an einem bestimmten Verhandlungstag bestimmten Zeugen keine Fragen zu stellen, kann dies auch – anders als es in der Verfügung gesehen wird – „von einem Verteidigungskonzept oder einer Prozessstrategie gedeckt“ sein. Dafür, bestimmten Personen keine Fragen zu stellen, kann es eine ganze Reihe denkbarer prozessual legitimer Überlegungen geben und sei auch es nur, dass hierdurch oder durch provozierte Gegenreaktionen des Gerichts versucht wird, den Boden für spätere erfolgreiche Revisionsrügen zu bereiten.

Ist – wie hier – ein Angeklagter durch mehrere Rechtsanwälte verteidigt, ist überdies denkbar, dass es interne Absprachen gibt, wonach einer der Rechtsanwälte gerade für prozessuale Anträge und der andere für die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Sache verantwortlich ist.

Dennoch verbleibt es im Ergebnis bei der Entpflichtung. Sie hätte nämlich bereits seit geraumer Zeit auf Grundlage des § 143 a Abs. 1 Satz 1 StPO erfolgen müssen……“

 

Pflichti I: Zeitpunkt der Bestellung des Verteidigers, oder: Absehen von und/oder rückwirkende Bestellung

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Und vor dem morgigen „Vatertag“ heute hier dann noch ein paar Entscheidungen zu Pflichtverteidigunsgfragen (§§ 140 ff. StPO).

Zunächst stelle ich zwei LG-Beschlüsse zum Zeitpunkt der Bestellung vor, also u.a. zur Rückwirkunsgproblematik.

Da ist dann hier der LG Düsseldorf, Beschl. v. 18.05.2022 – 4 Qs 15/22. Das AG hat den wahl, der seine Bestellung beantragt hatte, nicht beigeordnet. Die StA hat dann nach § 154 Abs. 2 StPo das Verfahren eingestellt. Das AG verweist wegen der Bestellung auf § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO. Das sieht das LG anders und bestellt (rückwirkend). Hier der Leitsatz der Entscheidung:

    1. Die Einschränkungen des 141 Abs. 2 Satz 3 StPO 2 betreffen die Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen und gelten bei Vorliegen eines Antrages gem. § 141 Abs. 1 StPO gerade nicht.
    2. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist zulässig.

Bei der zweiten Entscheidung handelt es sich um den LG Leipzig, Beschl. v. 04.05.2022 – 8 Qs 18/22. Er beinhaltet eine „klassische Rückwirkungsproblematik“. Dazu hier nur der Leitsatz.

Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist im Einzelfall ausnahmsweise zulässig, wenn die für die ordnungsgemäße Rechtspflege erforderliche effektive Gewährleistung des Rechts auf notwendige Verteidigung nicht erfüllt wurde. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Entscheidung über die beantragte Pflichtverteidigung nicht in angemessener Zeit nach Antragsstellung ergeht und es dadurch zu einer wesentlichen Verzögerung des – vom Gesetzgeber vorgesehenen – Entscheidungsablaufs kommt.

 

 

Nebenklage II: AE beim Vergewaltigungsvorwurf, oder: Gefährdung des Untersuchungszwecks?

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Und als zweite Entscheidung stelle ich dann den LG Berlin, Beschl. v. 21.04.2022 – 511 Qs 36/22 – vor. Thematik/Problematik: Dauerbrenner Akteneinsicht der Nebenklägerin versus Gefährdung des Untersuchungszwecks.

Das AG hatte Akteneinsicht in einem Verfahren mit dem Vorwurf der Vergewaltigung verweigert, das LG gewährt:

„Zwar kann die Akteneinsicht der Nebenklägerin gemäß § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO versagt werden, soweit der Untersuchungszweck hierdurch gefährdet erscheint. Dies ist namentlich anzunehmen, wenn zu befürchten ist, dass bei Gewährung der Akteneinsicht die Sachaufklärung beeinträchtigt wird.

Die Rolle des Nebenklägers als Zeuge im Strafverfahren und die deshalb durch das Akteneinsichtsrecht grundsätzlich eröffnete Möglichkeit einer „Präparierung“ der Aussage anhand des Akteninhalts reichen jedoch für eine Versagung der Akteneinsicht nicht aus (vgl. KG, Beschluss vom 5. Oktober 2015, 4 Ws 83/15). Denn zum einen geht mit der Wahrnehmung des gesetzlich eingeräumten Akteneinsichtsrechts nicht typischerweise eine Entwertung des Realitätskriteriums der Aussagekonstanz einher. Zum anderen würde durch die generalisierende Annahme, dass mit Akteneinsicht durch den Nebenklägervertreter die Glaubhaftigkeit der Angaben des Nebenklägers stets in besonderer Weise in Zweifel zu ziehen sei, seine freie Entscheidung, Akteneinsicht zu beantragen, beeinträchtigt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 5. April 2016, 5 StR 40116); gerade denjenigen, die Opfer einer Straftat geworden sind, würden damit die Schutzfunktionen der §§ 406d ff. StPO entzogen (vgl. KG, Beschluss vom 2. Oktober 2015, 2 Ws 83/16).

Hinsichtlich der Beurteilung der Gefährdung besteht seitens des entscheidenden Gerichts auch ein weiter Entscheidungsspielraum (vgl. KG, Beschluss vorn 21. November 2018, 3 Ws 278/18, m.w.N.). Maßgeblich für die Prüfung der Gefährdung des Untersuchungszwecks ist deshalb stets eine Würdigung der Verfahrens- und Rechtslage im Einzelfall (vgl. KG aaO).

Vorliegend ist zwar eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation gegeben, denn abgesehen von den belastenden Angaben der Nebenklägerin H. in ihrer Strafanzeige und ihren Vernehmungen finden sich in der Verfahrensakte keine weiteren Beweismittel, die das unmittelbare Tatgeschehen betreffen.

Die Ausübung des auf der Rechtsfolgenseite eröffneten Ermessens führt jedoch im vorliegenden Fall dazu, dass die Akteneinsicht dennoch im vollen Umfang zu gewähren war.

Die Akteneinsicht durch die Nebenklagevertreterin gefährdet die gerichtliche Wahrheitsfindung vorliegend nicht in dem Maße, dass die Akteneinsicht deshalb ganz oder teilweise zu versagen wäre. Dabei waren im Rahmen der Ermessensausübung der Grad der Gefährdung der gerichtlichen Wahrheitsermittlung und der Gefährdung der Freiheitsrechte des Angeklagten gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 20 Abs. 3 und Art. 104 Abs. 1 GG als Ausfluss dieser gegen die Informationsrechte der Nebenklägerin sowie ihre Rechte auf Fürsorge, Gleichbehandlung und Schutz ihrer Menschenwürde abzuwägen (vgl. OLG Braunschweig, NStZ 2016, 629).

Nach diesen Maßstäben sind die. Voraussetzungen des § 406e Abs. 2 Satz 1 StPO nicht erfüllt. Dem Interesse der nach Aktenlage einer Vergewaltigung ausgesetzten Nebenklägerin an der Akteneinsicht kommt ein hohes Gewicht zu, zumal unter Umständen zivilrechtliche Ansprüche —etwa Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche — durchgesetzt werden müssen. Schließlich sind bei der Abwägung der Interessen auch die besonderen Verfahrensrechte eines Nebenklägers im Strafprozess zu berücksichtigen, die über diejenigen eines bloßen „Verletzten“, für den § 40ee Abs. 2 Satz 1 StPO auch und unmittelbar Anwendung findet, weit hinausgehen. Ein Überwiegen des Geheimhaltungsinteresses des Angeklagten kann danach nicht festgestellt werden.

Aufgrund der Gefährdung des Ermittlungserfolges kann nach der Gesetzesbegründung die Akteneinsicht in nur „sehr seltenen“ Ausnahmefällen beschränkt werden, als Beispiel wird der selbst einer Tatbeteiligung verdächtige Angehörige eines Getöteten genannt (Vgl. BT-Drs. 16/13671; Seite 1). Ein derart seltener Ausnahmefall, in dem die Gefährdung des Ermittlungserfolges Vorrang vor dem Informationsinteresse des Nebenklägers hat, liegt vorliegend ersichtlich nicht vor.

Desweiteren wird die Gefahr, die die Gewährung der Akteneinsicht für die gerichtliche Wahrheitsfindung darstellt, vorliegend dadurch gemindert, dass die Nebenklagevertreterin anwaltlich versichert hat, dass sie die Verfahrensakte ihrer Mandantin nicht zu Kenntnisnahme überlassen werde. Zwar ist die Einhaltung dieser Zusicherung nicht durchsetzbar. Das Gericht darf jedoch grundsätzlich auf die Integrität und Zuverlässigkeit eines Rechtsanwaltes als vertrauenswürdiges Organ der Rechtspflege vertrauen (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 21. März, 2002, 1 BvR 2119/01; OLG Braunschweig aaO), zumal das Gericht die zur Wahrheit verpflichtete Nebenklägerin im Rahmen der Hauptverhandlung auch danach befragen kann, ob sie im Vorfeld Zugang zu dem. Inhalt ihrer vorherigen Vernehmungen hatte.

Zudem kann der Sachaufklärung und Wahrheitsfindung im Übrigen weiterhin dadurch ausreichend Rechnung getragen werden, dass der Umstand der umfassenden Akteneinsicht der Nebenklägerin und eine hierdurch mögliche Anpassung der Aussage erforderlichenfalls im Rahmen der Beweiswürdigung ihrer Zeugenaussage berücksichtigt wird (vgl. KG aaO).“

Na ja, ich habe da immer Bedenken…..