Archiv der Kategorie: Ermittlungsverfahren

StPO I: Erkenntnisse aus längerfristiger Observation, oder: FoF ist nicht von „erheblicher Bedeutung“

Bild von Oliver Kepka auf Pixabay

Heute dann ein Tag mit „StPO-Entscheidungen“.

An der Spitze steht das OLG Düsseldorf, Urt. v. 24.05.2022 – III-2 RVs 15/22, das sich mit der Frage der Verwendung von einer bei einer längerfristigen Observation festgestellten Umstände in anderen Verfahren befasst. In dem Verfahren ist dem Angeklagten zur Last gelegt worden, am 27. Januar 2021 gegen 10:57 Uhr in Duisburg auf der pp. Straße den Pkw Opel Tigra, amtliches Kennzeichen pp., geführt zu haben, ohne im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis zu sein. Dies sei dem Angeklagten auch bewusst gewesen. Er sei zu einer Hauptverhandlung bei dem Amtsgericht Duisburg-Hamborn gefahren, bei der er wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden sei.

Das AG hat den Angeklagten aus rechtlichen Gründen freigesprochen, weil die Erkenntnisse zu dem Tatvorwurf bei einer längerfristigen Observation in anderer Sache erlangt worden seien und deshalb in dem diesem Verfahren ein Beweisverwertungsverbot bestehe.

Dagegen die Revision der StA, die das OLG Düsseldorf zurückweist:

„…

b) Die Ermittlungsmaßnahme der längerfristigen Observation unterfällt der Verwendungsbeschränkung des § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO.

Die Anordnung der längerfristigen Observation erfordert zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass eine „Straftat von erheblicher Bedeutung“ begangen worden ist (§ 163f Abs. 1 Satz 1 StPO). Es handelt sich damit im Sinne des § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO um eine Maßnahme, die „nur bei Verdacht bestimmter Straftaten“ zulässig ist.

Das Kammergericht (Beschluss vom 20. Dezember 2018, 3 Ws 309/18, bei juris = NStZ 2019, 429) hat zu dem inhaltsgleichen § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO a. F. mit ausführlicher Begründung dargelegt, dass der Terminus „bestimmte Straftaten“ nicht nur konkret und enumerativ aufgeführte Katalogtaten, sondern auch generalklauselartig umschriebene Delikte wie etwa eine „Straftat von erheblicher Bedeutung“ erfasst. Dieser Bewertung tritt der Senat bei.

So gelten die Verfahrensregeln für verdeckte Maßnahmen gemäß § 101 Abs. 1 StPO auch für die längerfristige Observation. Durch die Pflicht, dass personenbezogene Daten, die durch solche verdeckten Maßnahmen erhoben wurden, nach § 101 Abs. 3 StPO entsprechend zu kennzeichnen sind, soll nach dem Willen des Gesetzgebers gerade sichergestellt werden, dass die für eingriffsintensive verdeckte Ermittlungsmaßnahmen geltenden Verwendungsbeschränkungen beachtet werden (vgl. BT-Drucksache 16/5846 S. 3 zu § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO a.F.). Daraus geht klar hervor, dass der Gesetzgeber die Verwendung von personenbezogenen Daten, die durch längerfristige Observation bei dem Verdacht einer „Straftat von erheblicher Bedeutung“ erlangt wurden, den Beschränkungen des § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO unterwerfen wollte (vgl. auch: Henseler NZV 2020, 423).

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesverfassungsgericht wiederholt festgestellt hat, dass das Merkmal einer „Straftat von erheblicher Bedeutung“ Grundrechtseingriffe im Strafverfahren einer hinreichend bestimmten Begrenzung unterwirft. Eine solche Straftat muss mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen sein, den Rechtsfrieden empfindlich stören und dazu geeignet sein, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen (vgl. BVerfG NJW 2001, 879, 880; NJW 2003, 1787, 1791; NJW 2005, 1338, 1339).

Genügt das in § 163f Abs. 1 Satz 1 StPO bezeichnete Merkmal einer „Straftat von erheblicher Bedeutung“ mithin auf der Eingriffsebene den Anforderungen an die Normenklarheit und Tatbestandsbestimmtheit, ist es nur folgerichtig, die Regelung des § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO, die für die Verwendungsbeschränkung auf eine „nur bei Verdacht bestimmter Straftaten“ zulässige Maßnahme abstellt, auch auf eine derart umschriebene Straftat anzuwenden.

c) Die gesetzlichen Verwendungsbeschränkungen können bei Zufallserkenntnissen nicht mit der Erwägung umgangen werden, dass dieselben personenbezogenen Daten auch durch weniger eingriffsintensive Maßnahmen hätten erlangt werden können. Maßgeblich ist stets, aufgrund welcher Ermittlungsmaßnahme die Zufallserkenntnisse tatsächlich gewonnen wurden. Anderenfalls würden die gesetzlichen Verwendungsbeschränkungen häufig leerlaufen. So kann etwa dann, wenn an einer nach § 111 StPO eingerichteten Kontrollstelle ein Kraftfahrzeugführer ohne die erforderliche Fahrerlaubnis angetroffen wurde, nicht darauf abgestellt werden, dass derselbe Sachverhalt auch bei einer allgemeinen Verkehrskontrolle (§ 36 Abs. 5 StVO) hätte festgestellt werden können.

Soweit von Teilen der Literatur zufällige Erkenntnisse zu anderen Straftaten, die durch eine längerfristige Observation (§ 163f StPO) erlangt wurden, ohne nähere Begründung als uneingeschränkt verwertbar angesehen werden (vgl. von Häfen in: BeckOK, StPO, 42. Edition 2022, § 163f Rdn. 15; Moldenhauer in: Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl. 2019; § 163f Rdn. 31), steht dies in Widerspruch zu § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO.

So ist die Erwägung, dass sich bei einer längerfristigen Observation strafrechtlich relevante Beobachtungen zu anderen, nicht von der Anordnung erfassten Tathandlungen zuweilen gar nicht vermeiden ließen und deshalb wie Ergebnisse kurzfristiger Observationen gemäß § 163 Abs. 1 StPO zu behandeln seien (vgl. von Häfen a.a.O), nicht überzeugend. Zufallserkenntnisse können sich bei sämtlichen verdeckten Ermittlungsmaßnahmen ergeben. Es kommt auch nicht in Betracht, die längerfristige Observation, die tatsächlich durchgeführt wurde, fiktiv auf die weniger eingriffsintensive Stufe einer einfachen Observation zu reduzieren (vgl. Günther in: Münchener Kommentar, StPO, 1. Aufl. 2016, § 163f Rdn. 33). Maßgeblich ist nach § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO i.V.m. § 161 Abs. 3 Satz 1 StPO, ob die längerfristige Observation auch zur Aufklärung der zufällig entdeckten Straftat hätte angeordnet werden dürfen (vgl. LG Braunschweig StV 2019, 320, 321 = BeckRS 2018, 41459; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 163f Rdn. 11; Erb in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2018; § 163f Rdn. 18; Zöller in: Gercke/Julius/Temming/Zöller, StPO, 6. Aufl. 2019, § 163f Rdn. 12; Ambos in: Dölling/Duttge/König/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 5. Aufl. 2022, § 163f StPO Rdn. 2).

d) Die Anordnung der längerfristigen Observation wäre zur Aufklärung eines Vergehens nach § 21 Abs. 1 StVG nicht zulässig gewesen. Denn bei vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis handelt es sich nicht – wie gemäß § 163f Abs. 1 StPO erforderlich ist – um eine „Straftat von erheblicher Bedeutung“.

Eine Straftat hat – wie oben bereits dargelegt (II.1.b) – „erhebliche Bedeutung“, wenn sie mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Dies setzt voraus, dass der Gesetzgeber der Straftat allgemein ein besonderes Gewicht beimisst und sie im konkreten Fall erhebliche Bedeutung hat (vgl. BVerfG NJW 2003, 1787, 1791; BGH NStZ 2014, 281).

Der Strafrahmen des § 21 Abs. 1 StVG reicht von Geldstrafe bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe. Bei dieser geringen Strafrahmenobergrenze, die sich etwa auch bei Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) und Erschleichen von Leistungen (§ 265a StGB) findet, hat der Gesetzgeber dem Delikt schon allgemein kein besonderes Gewicht beigemessen (vgl. KG NStZ 2019, 429, 431). Zwar liegen im konkreten Fall erschwerende Umstände vor, die in der Revisionsbegründung der Staatsanwaltschaft aufgezeigt worden sind. So ist der Angeklagte wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis mehrfach vorbestraft, wobei er zur Tatzeit am 27. Januar 2021 wegen der einschlägigen Verurteilung vom 13. Mai 2019 unter laufender Bewährung stand. Auch stellt es eine besondere Dreistigkeit dar, dass der Angeklagte mit einem Pkw ohne die erforderliche Fahrerlaubnis zu dem Hauptverhandlungstermin vom 27. Januar 2021 gefahren ist, bei dem er wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer weiteren Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Da allein die Hinfahrt zum Amtsgericht Duisburg-Hamborn Gegenstand der Anklage ist, sei der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen, dass er zur Tatzeit entgegen dem Revisionsvorbringen nicht zweifach unter laufender Bewährung stand. Ungeachtet dessen ändern die erschwerenden Tatumstände nichts daran, dass vorliegend eine geringe Strafrahmenobergrenze von einem Jahr Freiheitstrafe gilt. Für die Annahme einer „Straftat von erheblicher Bedeutung“ fehlt es bereits an der Voraussetzung, dass der Gesetzgeber der Straftat allgemein ein besonderes Gewicht beimisst. Dass die Straftat auch im konkreten Fall erhebliche Bedeutung hat, muss ggf. hinzutreten.

Nach alledem war das Amtsgericht gemäß § 479 Abs. 2 Satz 1 StPO i.V.m. § 161 Abs. 3 Satz 1 StPO gehindert, die Zufallserkenntnisse aus der längerfristigen Observation zur Aufklärung des Tatvorwurfs zu verwenden. Ein „hypothetischer Ersatzeingriff“ wäre nicht zulässig gewesen.“

StPO III: Verhältnismäßigkeit der Beschlagnahme, oder: Beschlagnahme eines Mobiltelefons nach 4 Monaten

© Stefan Rajewski Fotolia .com

Am Anfang der Woche hatte ich ja schon über den AG Bad Kreuznach, Beschl. v. 17.5.2022 -43 Gs 734/22 – berichtet, und zwar in Zusammenhang mit der materiellen Frage der so. Impfpassfälschung. Ich komme jetzt auf die Entscheidung noch einmal wegen der Frage der Verhältnismäßigkeit der Beschlagnahme, um die es in dem Beschluss geht, zurück.

Ich erinnere: Das Handy ist am 29.12.2021 sicher gestellt worden. Der Verteidiger beantragt dann mit Schriftsatz vom 02.02.2022 u.a. die Freigabe des sichergestellten IPhones und wiederholt diesen Antrag mit Schriftsatz vom 25.04.2022. Daraufhin beantragt die Staatsanwaltschaft gemäß § 98 StPO die Beschlagnahme des Iphones, da es als Beweismittel benötigt werde. Die erfolgte Sicherstellung sei noch verhältnismäßig, da die Auswertung aufgrund des unbekannten Entsperrcodes (Entsperrung durch das LKA ist noch nicht erfolgt) noch nicht erfolgen konnte. Das AG entscheidet am 17.05.2022 und meint: Auch zeitlich noch verhältnismäßig:

„Staatsanwaltschaft Bad Kreuznach bzw. die Kriminalinspektion Bad Kreuznach hat das IPhone bereits Anfang Januar 2022 dem LKA zur Entsperrung übersandt. Aufgrund der bekannten Auslastung des LKA nimmt dieser Vorgang entsprechend viel Zeit in Anspruch.

Die Entsperrung erfolgt in jedem Fall und nachfolgend auch die Auswertung. Woher der Verteidiger die Erkenntnis hat, die Auswertung werde nur erfolgen, wenn der Beschuldigte die PIN mitteilt, erschließt sich dem Gericht nicht.

Die Staatsanwaltschaft übt keinen unzulässigen Druck auf den Beschuldigten aus. um sein Schweigerecht zu unterlaufen.

Die Staatsanwaltschaft hat lediglich darauf hingewiesen, dass es der Beschuldigte in der Hand hat. den Zeitraum bis zur Auswertung zu verkürzen, indem die Entsperrung durch das LKA nicht mehr erforderlich ist, weil er die PIN zur Verfügung stellt.

Bei der Prüfung. ob die Beschlagnahme noch verhältnismäßig ist, ist dieser Aspekt auch zu berücksichtigen. Der Beschuldigte hat es in der Hand den Fortgang der Ermittlungen zu beschleunigen. Wenn er dies nicht tun will, dauern die Ermittlungen eben entsprechend länger.“

M.E. – gelinde ausgedrückt – sehr dünn an der Stelle. Denn die „bekannte Auslastung des LKA“ ist m.E. kein Umstand, den man dem Beschuldigten anlasten kann. Und die Erwägung: „Der Beschuldigte hat es in der Hand den Fortgang der Ermittlungen zu beschleunigen. Wenn er dies nicht tun will, dauern die Ermittlungen eben entsprechend länger.“ halte ich schlicht für unzulässig. Jedenfalls würde sie in der Strafzumessung auffliegen.

U-Haft III: Zulässigkeit von Beschränkungen der U-Haft, oder. Haftgrundbezogene Beschränkungen?

© Joachim B. Albers – Fotolia.com

Und als dritte Entscheidung stelle ich dann den OLG Bremen, Beschl. v. 10.05.2022 – 1 Ws 30/22 – zur Zulässigkeit von Beschränkungen in der U-Haft.

Folgender Sachverhalt: Mit Urteil vom 27.07.2021 hat das LG Bremen den Angeklagten wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 26 Fällen verurteilt und die Einziehung eines Betrages von 4.252.086,50 EUR als Wert des Erlangten angeordnet. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, der Angeklagte hat Revision eingelegt.

Das AG Bremen hatte in dieser Sache am 11.09.2020 einen Haftbefehl gegen den Angeklagten erlassen, den es auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt hat, und zugleich auf Antrag der Staatsanwaltschaft Bremen gemäß § 119 Abs. 1 StPO folgende Beschränkungen angeordnet:

  1. Der Empfang von Besuchen bedarf der Erlaubnis.
  2. Besuche sind akustisch zu überwachen.
  3. Die Telekommunikation bedarf der Erlaubnis.
  4. Die Telekommunikation ist zu überwachen.
  5. Der Schrift- und Paketverkehr ist zu überwachen.
  6. Die Übergabe von Gegenständen mit Ausnahme geringwertiger Nahrungs- und Genussmittel bedarf der Erlaubnis.
  7. Der Beschuldigte ist zu trennen von folgenden Personen: B- K.
  8. Die Ausantwortung bedarf der Genehmigung.“

Nach dem ein Antrag des Angeklagten vom 12.01.2021 auf Aufhebung der Trennungsanordnung zunächst ohne Erfolg geblieben ist, hat auf einen weiteren Antrag des Angeklagten vom 03.06.2021 die Vorsitzende der Strafkammer die Trennungsanordnung hinsichtlich aller Personen aufgehoben, bis auf die Trennung des Angeklagten vom Mitangeklagten B. Im Übrigen wurden die Anordnungen aus dem Beschluss des aufrechterhalten. Mit Schriftsatz vom 02.02.2022 beantragte der Angeklagte erneut die Aufhebung der Beschränkungen nach § 119 StPO. Dieser Antrag wurde durch die Vorsitzende d zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde, die keinen Erfolg hatte:

„…..

b) Gemessen an diesen Voraussetzungen ist der Antrag des Angeklagten vom 02.02.2022 auf Aufhebung der Beschränkungen nach § 119 StPO mit dem Beschluss vom 01.03.2022 in der Sache zu Recht zurückgewiesen worden.

Die Fortdauer der Beschränkungen nach § 119 StPO durfte zulässigerweise auf die Verdunkelungsgefahr gestützt werden, auch wenn der gegen den Angeklagten fortbestehende Haftbefehl lediglich den Haftgrund der Fluchtgefahr nennt, da – wie vorstehend unter 2.a.aa. ausgeführt – die Anordnung von Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO nicht auf die im Haftbefehl angenommenen Haftgründe eingeschränkt ist.

Eine solche Verdunkelungsgefahr, der durch die Anordnung der Beschränkungen zu begegnen ist, ist vorliegend zu bejahen, dies auch unter Berücksichtigung der erhöhten Anforderungen an die Annahme einer solchen Gefahr bei Vorliegen einer, wenn auch mit der Revision angegriffenen, Entscheidung der letzten Tatsacheninstanz. Die Annahme der Verdunkelungsgefahr ergibt sich vorliegend nicht nur aus dem allgemeinen Erfahrungssatz, dass bei mehreren mutmaßlichen Beteiligten als Mitangeklagten der unkontrollierte Informationsaustausch die Gefahr der Erschwerung oder sogar Vereitelung der Wahrheitsfindung durch eine Absprache des Einlassungsverhaltens mit sich bringt. Vorliegend sprechen auch weitere Umstände des Einzelfalls dafür, hier abweichend vom Regelfall eine fortbestehende Verdunkelungsgefahr anzunehmen: Bei dem Angeklagten ist während der Zeit der Untersuchungshaft ein Smartphone in seinem Haftraum aufgefunden worden, welches er unerlaubt in Besitz hatte und womit seine Neigung zur unerlaubten und nicht offengelegten Kommunikation belegt wurde, die auch der Annahme des Bestehens einer Verdunkelungsgefahr zugrunde liegt. Das Landgericht hat in seinem Urteil auf eine bandenmäßige Begehung des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln erkannt und damit die Angeklagten dem Kreis der organisierten Kriminalität zugeordnet, bei der in besonderem Maße das Bestehen einer Verdunkelungsgefahr zu besorgen ist. Die Angeklagten haben sich zudem vor dem Landgericht nicht eingelassen und die Verurteilung ist maßgeblich auf die Ergebnisse der Verwertung der Encrochat-Daten gestützt. Daher ergibt sich in besonderem Maße die Gefahr, dass für den Fall einer Aufhebung des Urteils in der Revision die Angeklagten in einer erneuten Tatsacheninstanz durch dann abgestimmte Einlassungen die Wahrheitsermittlung erschweren. Dass die Beschränkungsanordnung auch die Kommunikation mit der Familie des Angeklagten betrifft, ist der bestehenden Verdunkelungsgefahr geschuldet, da auch die Möglichkeit einer Abstimmung des Einlassungsverhalten durch Kommunikation über Dritte zu besorgen ist.

Die Beschränkungsanordnung ist schließlich auch im Hinblick auf die betroffenen Interessen und Rechtsgüter angemessen. Hier ist namentlich zu berücksichtigen die Schwere und die Vielzahl der dem Angeklagten zur Last gelegten Taten aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität, wegen derer das Landgericht gegen ihn eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren und sechs Monaten verhängt hat. Es ist daher auch bei einer Dauer der Untersuchungshaft unter den Bedingungen der Beschränkungen von nunmehr mehr als 20 Monaten nicht festzustellen, dass die Belastungen hierdurch außer Verhältnis zur Tatschwere stünden sowie zu der Gefahr, dass wegen Verdunkelungshandlungen die Wahrheitsfindung hinsichtlich dieser Taten erschwert oder vereitelt werden könnte. Der Angeklagte kann – wenn auch überwacht – Besuche empfangen und telefonieren und somit insbesondere den Kontakt zu seiner Familie halten. Dass die Anstalt derzeit offenbar Skype-Gespräche nicht ermöglichen kann, beruht auf mangelnden Kapazitäten der JVA, nicht dagegen auf den angeordneten Beschränkungen.“

U-Haft I: Mehr als 2 Jahren U-Haft noch verhältnismäßig, oder: Straferwartung nur noch mehrere Monaten

© cunaplus – Fotolia.com

Am heutigen Donnerstag mache ich dann mal einen Hafttag. Den hatten wir schon länger nicht mehr.

Ich starte mit dem BGH, Beschl. v. 20.04.2022 – StB 16/22. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren, in dem dem Angeklagten in einem Haftbefehl des OLG Stuttgart Unterstützung einer Vereinigung i.S. des § 129 Abs. 2 StGB), deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord oder Totschlag zu begehen (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 StGB), sowie tatmehrheitlich (§ 53 StGB) hierzu unerlaubt Munition und eine verbotene Hieb- und Stoßwaffe besessen (§ 52 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 2 Buchst. b WaffG, § 52 StGB) zur Last gelegt wird.

Der Angeklagte wurde am 14.02.2020 vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem 15.02.2020 ununterbrochen in U-Haft. Der BGH hat im September und Dezember 2020 und dann noch einmal im März 2021 im besonderen Haftprüfungsverfahren jeweils die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Anklage ich am 04.11.2020 erhoben worden. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens dauert die Hauptverhandlung seit dem 13.04.2021 an.

Der Angeklagte hat jetzt durch seine Verteidiger beantragt, den Haftbefehl des OLG aufzuheben, hilfsweise außer Vollzug zu setzen. Diesen Antrag hat das OLG abgelehnt. Gegen diesen Beschluss hat der Angeklagte Beschwerde eingelegt. Er wendet sich u.a. auch gegen die Annahme der Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft. Das OLG hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Der BGH hat die Beschwerde verworfen. Er führt zur Verhältnismäßigkeit aus:

„4. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht schließlich noch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

a) Der Entzug der Freiheit eines einer Straftat lediglich Verdächtigen aufgrund der Unschuldsvermutung ist nur ausnahmsweise zulässig. Den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen muss – unter maßgeblicher Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt in diesem Zusammenhang auch, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe steht, und setzt ihr unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich regelmäßig das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung. Daraus folgt unter anderem, dass die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zunehmen. Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung (st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12, juris Rn. 39 ff. mwN; vom 23. Januar 2019 – 2 BvR 2429/18, NJW 2019, 915 Rn. 57 f.; BGH, Beschluss vom 21. April 2016 – StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217).

b) An diesen Maßstäben gemessen, ist die weitere Inhaftierung des Angeklagten derzeit noch gerechtfertigt.

aa) Das Verfahren und insbesondere die Hauptverhandlung sind, wie vom Oberlandesgericht im Haftbefehl und im Nichtabhilfebeschluss im Einzelnen dargelegt und vom Beschwerdeführer nicht in Abrede gestellt, bislang mit der in Haftsachen gebotenen besonderen Beschleunigung geführt worden. Es ergibt sich eine durchschnittliche Verhandlungsdichte von mehr als einem Tag pro Woche (zu diesem Erfordernis s. etwa BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12, juris Rn. 39 ff.; BGH, Beschluss vom 21. April 2016 – StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217 f., jeweils mwN). Dass es bisher nicht möglich gewesen ist, zu einem Urteil zu gelangen, ist dem Umfang und der Komplexität der Sache sowie der Vielzahl der beteiligten Personen geschuldet.

bb) Die verbleibende Straferwartung beträgt immerhin noch mehrere Monate. Unverhältnismäßigkeit einer weiteren Inhaftierung liegt zwar häufig nahe, wenn die Dauer der Untersuchungshaft die zu erwartende Freiheitsstrafe annähernd erreicht oder sogar übersteigt. Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, dass die Untersuchungshaft nicht bis zur Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe vollzogen werden darf, wenn das notwendig ist, um die Ahndung der Tat und die drohende Vollstreckung der Strafe zu sichern, existiert aber nicht (vgl. KG, Beschluss vom 31. August 2007 – 1 AR 1207/071 Ws 146/07, NStZ-RR 2008, 157; KK-StPO/Schultheis, 8. Aufl., § 120 Rn. 6 mwN; MüKoStPO/Böhm, § 120 Rn. 13; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 120 Rn. 4).

Zudem hat der Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im konkreten Zusammenhang mit der Planung von todbringenden Anschlägen aus rassistischen und fremdenfeindlichen Motiven eine hohe Bedeutung. Vor diesem Hintergrund kommt bei der Abwägung neben dem Freiheitsgrundrecht des Angeklagten dem ebenfalls im Grundgesetz verankerten Legalitätsprinzip ein besonderes Gewicht zu; dieses gebietet die Aufklärung und Ahndung von Straftaten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06, BVerfGK 7, 421, 426).

Nach allem ist die Untersuchungshaft des Angeklagten trotz ihrer erheblichen Dauer von inzwischen über zwei Jahren derzeit noch nicht unverhältnismäßig. Das Oberlandesgericht wird als das mit der Sache befasste Tatgericht jedoch im Blick behalten müssen, ab wann die Inhaftierung des Angeklagten die voraussichtlich von ihm zu verbüßende Haftzeit überschreitet. Ab diesem Zeitpunkt stünde die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft aller Voraussicht nach außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe. Das gilt besonders dann, wenn bis dahin der Abschluss des Verfahrens nicht absehbar sein sollte.“

OWi III: Nochmals Bindung an den Entbindungsantrag, oder: Nachträgliche Ergänzung des (Protokoll)Urteils

© lhphotos – Fotolia.com

Und im letzten Posting dann noch zwei Entscheidungen zu Verfahrensfragen. Nichts wesentliche Neues, aber man kann mal wieder daran erinnern.

Ich stelle zunächst den OLG Naumburg, Beschl. v. 02.05.2022 – 1 Ws 97/22 – noch einmal zum Entbindungsantrag und zur Verwerfung des Einspruchs (§§ 73, 74 OWiG) vor, und zwar mit folgendem Leitsatz:

Nach § 73 Abs. 2 OWiG hat das Gericht den Betroffenen auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, wenn er sich zur Sache geäußert oder wenn er erklärt hat, er werde sich in der Hauptverhandlung nicht „weiter“ zur Sache äußern, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhaltes nicht erforderlich ist. Die Entscheidung über den Entbindungsantrag steht hierbei nicht im Ermessen des Gerichtes, vielmehr ist es verpflichtet, dem Antrag nachzukommen, sofern die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen.

Und dann noch der BayObLG, Beschl. v. 30.05.2022 – 202 ObOWi 718/22 – mit folgendem Leitsatz:

Die nachträgliche Ergänzung eines Urteils ist grundsätzlich nicht zulässig – und zwar auch nicht innerhalb der Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO -, wenn es bereits aus dem inneren Dienstbereich des Gerichts herausgegeben worden ist. Für das Bußgeldverfahren folgt daraus, dass ein vollständig in das Sitzungsprotokoll aufgenommenes, nicht mit Gründen versehenes Urteil, das den inneren Dienstbereich des Gerichts bereits verlassen hat, nicht mehr verändert werden darf, es sei denn, die nachträgliche Urteilsbegründung ist gemäß § 77b Abs. 2 OWiG zulässig.

Auch nichts Neues, Und auch die Formulierung: „Die nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet und zwingt den Senat auf die (unausgeführte) Sachrüge hin zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.“ ist nicht neu, m.E. aber unschön. Wieso: „zwingt“?