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Verkehrsrecht I: Dauerbrenner „Beinahe-Unfall“, oder: Die Gebetsmühle des BGH

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Urheber Bin im Garten

Heute dann mal wieder drei Entscheidungen aus dem verkehrsrechtlichen Bereich.

Ich starte mit dem BGH, Beschl. v. 06.07.2021 – 4 StR 155/21. Es geht um einen Dauerbrenner, nämlich den „Beinaheunfall“ i.S. der §§ 315b, 315c StGB.

Das LG hatte den Angeklagten u.a. wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs verurteilt. Dagegen die Revision, die Erfolg hatte:

„1. Die Schuldsprüche in den Fällen II.2. und II.3. der Urteilsgründe halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

a) Nach den Feststellungen führte der Angeklagte das von ihm am Vortag (Tat II.1. der Urteilsgründe) entwendete Kraftfahrzeug im Straßenverkehr, wobei er wusste, dass er nicht im Besitz der hierfür erforderlichen Fahrerlaubnis war. Er bemerkte, dass Polizeibeamte in einem Streifenfahrzeug auf ihn aufmerksam geworden waren, und fuhr davon. Auf der anschließenden Fluchtfahrt geriet der Angeklagte bei einem Abbiegevorgang ins Schleudern und kollidierte mit einem abgestellten Kraftfahrzeug, an dem bei einem Wiederbeschaffungswert von 7.900 € ein Totalschaden entstand (Tat II.2. der Urteilsgründe). Durch den Zusammenprall verlangsamte der Angeklagte seine Fahrt zunächst, setzte sie sodann aber fort, um sich der Kontrolle durch die ihn weiterhin verfolgenden Polizeibeamten zu entziehen. Im Verlauf der weiteren Fluchtfahrt überquerte er eine Kreuzung, ohne auf den bevorrechtigten Querverkehr zu achten; dabei nahm er einem von links kommenden schwarzen PKW die Vorfahrt. Eine Kollision konnte nur „durch das starke Abbremsen bis zum Stillstand des schwarzen PKW“ verhindert werden (Tat II.3. der Urteilsgründe).

b) Die Verurteilung wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs im Fall II.3. der Urteilsgründe kann nicht bestehen bleiben. Die Feststellungen belegen nicht die gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2a StGB in objektiver Hinsicht erforderliche Herbeiführung einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen oder einer fremden Sache von bedeutendem Wert.

aa) § 315c Abs. 1 StGB setzt in allen Tatvarianten eine konkrete Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert voraus. Dies ist nach gefestigter Rechtsprechung der Fall, wenn die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der ? was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist ? die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt wurde, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 17. Februar 2021 ? 4 StR 528/20 , NStZ-RR 2021, 187, 188 mwN; vom 2. Juli 2013 ? 4 StR 187/13 , NStZ-RR 2013, 320, 321 und Urteil vom 22. März 2012 ? 4 StR 558/11 Rn. 11, insoweit in BGHSt 57, 183 nicht abgedruckt; zu § 315b StGB vgl. BGH, Beschluss vom 20. März 2019 ? 4 StR 517/18 , NStZ 2020, 225 Rn. 5; vom 5. Dezember 2018 ? 4 StR 505/18 , NStZ 2019, 346 Rn. 7 und vom 5. November 2013 ? 4 StR 454/13 , NZV 2014, 184, 185). Erforderlich ist die Feststellung eines „Beinahe-Unfalls“, also eines Geschehens, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, „das sei noch einmal gut gegangen“ (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. April 2017 ? 4 StR 61/17 und vom 16. April 2012 ? 4 StR 45/12 , NStZ-RR 2012, 252). Für die Annahme einer konkreten Gefahr genügt es daher nicht, dass sich Menschen oder Sachen in enger räumlicher Nähe zum Täterfahrzeug befunden haben. Umgekehrt wird die Annahme einer Gefahr aber auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein Schaden ausgeblieben ist, weil sich der Gefährdete ? etwa aufgrund überdurchschnittlich guter Reaktion ? noch zu retten vermochte ( BGH, Beschluss vom 17. Februar 2021 ? 4 StR 528/20 , NStZ-RR 2021, 187, 188).

bb) Gemessen hieran fehlt es an Feststellungen, die einen „Beinahe-Unfall“ in diesem Sinne belegen. Die Urteilsgründe sind auf die Wiedergabe der tatgerichtlichen Wertung beschränkt, dass eine Kollision mit dem vorfahrtsberechtigten schwarzen Kraftfahrzeug nur durch „das starke Abbremsen bis zum Stillstand“ habe vermieden werden können. Es fehlt an Feststellungen zu den gefahrenen Geschwindigkeiten beider Kraftfahrzeuge, zu ihren Abständen und zur Intensität der zur Vermeidung einer Kollision vorgenommenen Bremsung durch den Fahrer des schwarzen Kraftfahrzeugs.

cc) Bei dieser Sachlage kommt es nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, dass die tatgerichtliche Wertung beweiswürdigend auch nicht tragfähig belegt ist. Die Beweiserwägungen sind auf den inhaltsleeren Hinweis beschränkt, dass die in der Hauptverhandlung vernommenen Polizeibeamten die Verfolgungsfahrt und die „von ihnen gefahrene Geschwindigkeit“ wie festgestellt geschildert hätten. Damit bleibt offen, auf welcher Beweisgrundlage das Landgericht seine Überzeugung vom Eintritt einer kritischen Verkehrssituation in dem genannten Sinne gewonnen hat.“

Das sollte eine Strafkammer inzwischen wissen. Der BGh betet das doch rauf und runter. Und „inhaltsleerer Hinweis“ ist auch nicht so schön.

 

Beweiswürdigung III: „Aussage-gegen-Aussage“ oder: Besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung

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Die dritte Entscheidung zur Beweiswürdigung kommt dann vom BayObLG. Das hat im BayObLG, Beschl. v. 12.07.2021 – 202 StRR 76/21 (noch einmal) zu den besonderen Anforderungen an die Beweiswürdigung bei einer „Aussage-gegen-Aussage-Konstellation“ Stellung genommen.

Das LG hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung verurteilt. Dagegen die Revision des Angeklagten, der bestritten hat. Das BayObLG hebt auf. Es beanstandet die Beweiswürdigung.

Hier dann – war schon so viel zu lesen heute 🙂 – die Leitsätze zu der Entscheidung:

1. Bei einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation sind besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung zu stellen. Der Tatrichter muss in derartigen Fällen den entscheidenden Teil der verschiedenen Aussagen des Belastungszeugen, auch solchen, die im Ermittlungsverfahren erfolgt sind, im Urteil wiedergeben, weil dem Revisionsgericht sonst die rechtliche Überprüfung der für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit relevanten Aussagekonstanz nicht möglich ist. Dies gilt vor allem, soweit es um die Schilderung von Details zum Kerngeschehen geht und auch die Plausibilität der Zeugenaussage hiervon abhängt.

2. Die Wertung des Tatrichters, der Belastungszeuge habe „ohne Übertreibungen ausgesagt“, stellt einen Zirkelschluss dar, wenn der Tathergang mangels anderer Beweismittel allein aufgrund des Inhalts der Aussage dieses Zeugen festgestellt wurde.

3. Zwar ist es nicht von vornherein unzulässig, aus einer Lüge des Angeklagten im Rahmen der Beweiswürdigung Schlüsse zu ziehen. Allerdings muss sich der Tatrichter bewusst sein, dass der Widerlegung einer Einlassung nur ein begrenzter Beweiswert zukommt, weil auch ein Unschuldiger, wenn er befürchtet, er könnte zu Unrecht verurteilt werden, gegebenenfalls die Zuflucht zur Lüge nehmen kann.

Beweiswürdigung II: Wiedererkennensproblematik, oder: Sprachliche Auffälligkeit nicht erörtert

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In der zweiten Entscheidung, dem BGH, Beschl. v. 03.03.2021 – 2 StR 11/21 – geht es um eine sog. Wiedererkennungsproblematik. Das LG hat den Angeklagten wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung verurteilt. Der Angeklagte hat Revision eingelegt, mit der er Erfolg hatte. Dem BGH gefallen die Ausführungen des LG zum Wiedererkennen des Angeklagten durch eine Zeugin nicht:

„b) Das Landgericht hat die Verurteilung des Angeklagten im Wesentlichen auf die Schilderung des Tathergangs und die Identifikation des Angeklagten durch die Zeugin D. gestützt. Diese hatte am Tattag das äußere Erscheinungsbild eines zwischen 35 und 40 Jahre alten, vermutlich deutschen, sehr ungepflegten Täters („Junkietyp“) mit schmaler Statur bei einer Größe von ca. 1,70 m, hellblauen Augen, keinen Bart, braunen kurzen Haaren und dreckigen Händen beschrieben. In der Hauptverhandlung hat sie zum Erscheinungsbild des Täters dargestellt, dieser sei ca. 1,70 m groß gewesen, habe dreckige Hände gehabt, so dass sie gedacht habe, dass es sich um einen Drogenabhängigen aus dem Bahnhofsviertel gehandelt habe. Auch sei ihr ein „leichter deutschsprachiger Akzent“ bei dem Täter aufgefallen. Sie glaube, ihn mehrere Wochen nach der Tat im Dunkeln erneut im Bahnhofsviertel gesehen zu haben, da sie „auch kurz seine Stimme und seinen Gang“ erkannt habe. Einige Wochen später habe sie ihn direkt vor dem Kiosk gesehen. Bei diesem Treffen − das zur Verhaftung des Angeklagten durch die von der Zeugin herbeigerufenen Polizeibeamten führte − habe sie ihn sofort an „seinem Gesicht und seinen Augen“ erkannt. Um sich zu vergewissern, sei sie auf ihn zugelaufen und habe ihn „insbesondere an seiner Stimme“ wiedererkannt. Die Person habe mit „leichtem deutschsprachigen Akzent“ gesprochen, was ihr bei dem Täter im Kiosk ebenfalls aufgefallen sei. Auch in der Hauptverhandlung war die Zeugin „absolut sicher“, dass es sich bei dem Angeklagten um den Täter aus dem Kiosk handele.

c) Die Strafkammer hat ihre Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten darauf gestützt, dass dessen Erscheinungsbild in der Hauptverhandlung wie auch auf einem in Augenschein genommenen Lichtbild seiner letzten erkennungsdienstlichen Behandlung zu der Beschreibung der Zeugin mit einer „schmale[n] Statur, braune[n] kurzen Haare[n], vermutlich Deutscher, Junkietyp und sehr ungepflegt“, passe. Zudem hat die Strafkammer die subjektive Überzeugung der Zeugin von der Täterschaft des Angeklagten in einer Gesamtschau für verlässlich erachtet. Sie hat dabei berücksichtigt, dass die Zeugin gegenüber der die Festnahme durchführenden Beamtin erklärt habe, dass sie den Angeklagten „zu 100% an seinem Gesicht erkannt habe und sich sehr sicher sei“. Die hohe Zuverlässigkeit der Identifizierung werde dadurch belegt, dass die Zeugin anlässlich einer Lichtbildrecherche aus ca. 300 Bildern, unter denen sich kein Foto des Angeklagten befunden habe, keinen Täter erkannt habe, was dafür spreche, dass die Zeugin nur dann eine Zuordnung vornehme, wenn sie in hohem Maße sicher sei. Ferner werde die Täterschaft des Angeklagten dadurch gestützt, dass bei dem Angeklagten eine Visitenkarte ‒ weiße Karte mit schwarzer Schrift − gefunden worden sei, die die Zeugin am Tag der Verhaftung als diejenige erkannt habe, die der Täter bei dem ersten Aufenthalt im Kiosk vorgelegt habe. Der Angeklagte habe sich zur Tatzeit auch im Bahnhofsgebiet aufgehalten, sei drogensüchtig, habe an Geldnot gelitten und bereits bei früheren Taten ein Messer als Tatmittel eingesetzt.

Seine Körpergröße von 1,80 m spreche nicht gegen seine Täterschaft, weil der Zeuge F. , der beim ersten Betreten des Kiosks durch den Täter hinter diesem in der Reihe gestanden habe, den Täter als etwas größer als sich selbst (1,78 m) beschrieben habe. Soweit der Angeklagte braune und keine hellblauen Augen habe, liege hierin nur eine unwesentliche Abweichung bei der ansonsten zutreffenden Täterbeschreibung durch die Zeugin.

2. Diese Beweiswürdigung trägt die Verurteilung nicht.

a) Es ist allein die Aufgabe des Tatrichters, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsrechtliche Überprüfung ist auf die Frage beschränkt, ob dem Tatrichter dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht etwa dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft ist, namentlich dann, wenn sie nicht sämtliche Umstände, die dazu geeignet waren, die Entscheidung zu beeinflussen, in ihre Überlegungen einbezogen und wesentliche Feststellungen in der vorzunehmenden umfassenden Gesamtwürdigung nicht berücksichtigt hat (st. Rspr.; vgl. etwa Senat, Beschluss vom 19. Dezember 2018 ‒ 2 StR 451/18, StV 2019, 317, 318; BGH, Urteil vom 26. Januar 2017 ‒ 1 StR 385/16, juris Rn. 15; Urteil vom 3. Dezember 2015 ‒ 4 StR 387/15, StV 2017, 538, 539; jeweils mwN).

Besondere Darlegungsanforderungen bestehen in schwierigen Beweislagen, zu denen auch Konstellationen zählen, in denen der Tatnachweis im Wesentlichen auf einem Wiedererkennen des Angeklagten durch einen Tatzeugen beruht (BVerfG, NJW 2003, 2444, 2445 mwN). Konnte ein Zeuge eine ihm vorher unbekannte Person nur kurze Zeit beobachten, darf sich der Tatrichter nicht ohne Weiteres auf die subjektive Gewissheit des Zeugen beim Wiedererkennen verlassen, sondern muss aufgrund objektiver Kriterien nachprüfen, welche Beweisqualität dieses Wiedererkennen hat, und dies in den Urteilsgründen für das Revisionsgericht nachvollziehbar darlegen (Senat, Beschluss vom 8. Dezember 2016 ‒ 2 StR 480/16, StraFo 2017, 111, 112). Der Tatrichter ist daher aus sachlich-rechtlichen Gründen regelmäßig verpflichtet, die Angaben des Zeugen zur Täterbeschreibung zumindest in gedrängter Form wiederzugeben und diese Täterbeschreibung zum Erscheinungsbild des Angeklagten in der Hauptverhandlung in Beziehung zu setzen (Senat, Beschluss vom 29. November 2016 ‒ 2 StR 472/16, NStZ-RR 2017, 90; BGH, Beschluss vom 17. Februar 2016 ‒ 4 StR 412/15, StraFo 2016, 154, 155). Darüber hinaus sind in den Urteilsgründen auch diejenigen Gesichtspunkte darzulegen, auf denen die Folgerung des Tatrichters beruht, dass insoweit eine tatsächliche Übereinstimmung besteht (BGH, Beschluss vom 17. Februar 2016 ‒ 4 StR 412/15, aaO).

b) Hieran gemessen erweist sich die Beweiswürdigung der Strafkammer als lückenhaft und damit als durchgreifend rechtsfehlerhaft. Denn die Urteilsgründe verhalten sich nicht zu den von der Zeugin D. geschilderten Auffälligkeiten im sprachlichen Ausdruck des Angeklagten. Dies war hier aber deshalb unerlässlich, weil dessen „deutschsprachige[m] Akzent“ aus Sicht der Zeugin ein maßgeblicher Wiedererkennungswert zukam. Diese „glaubte“, den Täter erstmalig mehrere Wochen nach der Tat gesehen zu haben, wobei sie „kurz seine Stimme und seinen Gang“ erkannt habe. Am Tag seiner Verhaftung identifizierte sie den Angeklagten auf offener Straße als Täter des Überfalls anhand dessen „Gesicht und seinen Augen“ sowie „insbesondere an seiner Stimme“. Letzteres begründete sie damit, der Angeklagte habe mit „leichtem deutschsprachigen Akzent“ gesprochen, was ihr bei dem Täter im Kiosk ebenfalls aufgefallen sei“.

Bei dieser Beweissituation oblag der Strafkammer zum einen die Erörterung, wie sich der aus Sicht der Zeugin „leichte deutschsprachige Akzent“ des Täters in dessen Sprachgewohnheit, möglicherweise in dessen Phonetik, Intonation, Betonungsmuster oder Satzrhythmus ausdrückte. Zudem bedurfte es der Feststellung, ob sich die so ‒ anhand der Angaben der Zeugin ‒ objektivierte Auffälligkeit im Ausdrucksverhalten des Täters bei dem Angeklagten, der sich in der Hauptverhandlung zu seiner Person und zur Sache eingelassen hat, wiederfindet. Hierzu schweigen die Urteilsgründe in Gänze. Ein ‒ wie auch immer gearteter ‒ „Akzent“ in der Sprachgewohnheit des Angeklagten versteht sich auch nicht von selbst. Dieser ist in Deutschland geboren und aufgewachsen.

Dem Vorliegen bzw. dem Fehlen einer solchen sprachlichen Auffälligkeit im Sprachausdruck des Angeklagten kommt angesichts der Darstellung der Zeugin ein erheblicher Beweiswert zu. Denn dieser war sowohl beim ersten Wiedererkennen wenige Wochen nach der Tat wie auch am Tag der Verhaftung des Angeklagten insbesondere auch dessen „Stimme“ aufgefallen. Der Senat kann daher nicht ausschließen, dass der Strafkammer bei der von ihr vorgenommenen Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung dieses zusätzlichen Indizes ‒ das Fehlen einer sprachlichen Auffälligkeit beim Angeklagten unterstellt ‒ trotz der weitgehenden Übereinstimmung im äußeren Erscheinungsbild sowie der weiteren belastenden Indizien, insbesondere der bei dem Angeklagten aufgefundenen Visitenkarte, Zweifel an dessen Täterschaft verblieben wären.

c) Der Senat kann offenlassen, ob das angefochtene Urteil im Übrigen den aufgezeigten Darstellungsanforderungen gerecht wird. Bedenken ergeben sich insoweit, als sich die Urteilsgründe nicht zu der Frage verhalten, anhand welcher objektiven Kriterien die Zeugin den Angeklagten wenige Wochen nach der Tat auf offener Straße erkannte. Die Angabe der Zeugin, sie habe den Angeklagten „sofort an seinem Gesicht und seinen Augen erkannt“, wird nicht weiter unterlegt. Hierzu hätte jedoch möglicherweise deshalb Anlass bestanden, weil die Zeugin ausweislich ihrer ersten Vernehmung die Augenfarbe des Täters mit hellblau bezeichnet hatte und der Angeklagte nach den Urteilsfeststellungen über braune Augen verfügt. Weitere objektive Merkmale, die belegen könnten, aufgrund welcher Signifikanz die Zeugin den Angeklagten an „seinem Gesicht und seinen Augen“ erkannte, werden im Urteil jedoch nicht mitgeteilt.“

Beweiswürdigung I: 50 Seiten Zeugenaussagen, oder: Hilferuf des BGH: Schreibt nicht so viel

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Und dann mal wieder drei Entscheidungen zur Beweiswürdigung.

Ich starte mit dem BGH, Beschl. v. 18.03.2021 – 4 StR 480/20. Das ist mal wieder einer der Beschlüsse, mit denen der BGH einer Strafkammer die Leviten liest = die Beweiswürdigung als zu lang beanstandet. Für mich sind das immer „Hilferufbeschlüsse“ des BGH, der ja das, was die Strafkammern schreiben – hier war es eine des LG Dortmund – alles lesen muss.

So auch hier. Verurteilt worden ist der Angeklagte bei Freisprechung im Übrigen wegen besonders schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, sexuellem Missbrauch eines Kindes und mit der Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen. Die Revision des Angeklagten hatte Erfolg. Die Beweiswürdigung des LG begegnet nach Auffassung des BGH rechtlichen Bedenken.

Zunächst mahnt der BGH/ruft um Hilfe:

„1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlichrechtlicher Hinsicht unter anderem der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 14. Januar 2021 – 3 StR 124/20, NStZ-RR 2021, 113, 114 und vom 30. Juli 2020 – 4 StR 603/19, NStZ 2021, 116, 117; Beschluss vom 6. August 2020 – 1 StR 178/20, NStZ 2021, 184, 185).

Das Tatgericht ist gemäß §§ 261, 267 StPO verpflichtet, in den Urteilsgründen darzulegen, dass seine Überzeugung auf einer umfassenden, von rational nachvollziehbaren Erwägungen bestimmten Beweiswürdigung beruht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. November 2020 – 2 StR 152/20 und vom 11. März 2020 – 2 StR 380/19, NStZ-RR 2020, 258; MüKo-StPO/Miebach, 1. Aufl., § 261 Rn. 114). Die wesentlichen Beweiserwägungen sind in den schriftlichen Urteilsgründen so darzulegen, dass die tatgerichtliche Überzeugungsbildung für das Revisionsgericht nachzuvollziehen und auf Rechtsfehler hin zu überprüfen ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. November 2020 – 2 StR 152/20, Rn. 6 und vom 25. Februar 2015 – 4 StR 39/15; Urteil vom 7. August 2014 – 3 StR 224/14). Im Falle der Verurteilung des Angeklagten ist das Tatgericht grundsätzlich verpflichtet, die für den Schuldspruch wesentlichen Beweismittel im Rahmen seiner Beweiswürdigung heranzuziehen und einer erschöpfenden Würdigung zu unterziehen (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Februar 2015 – 4 StR 39/15, Rn. 3).

Die schriftlichen Urteilsgründe dienen jedoch nicht dazu, den Ablauf der Ermittlungen oder den Gang der Hauptverhandlung in allen Einzelheiten zu dokumentieren. Es ist deshalb in der Regel weder erforderlich noch empfehlenswert, in den Urteilsgründen im Einzelnen wiederzugeben, welche Ergebnisse die im Hauptverhandlungsprotokoll verzeichneten Beweiserhebungen erbracht haben.

Es ist deshalb regelmäßig überflüssig, nach den tatsächlichen Feststellungen sämtliche in der Hauptverhandlung erhobenen Beweismittel, auf denen das Urteil beruhen soll, aufzuzählen; erforderlich ist regelmäßig auch nicht, den wesentlichen Inhalt von Zeugenaussagen ‒ wie im angefochtenen Urteil auf über 50 Seiten geschehen ‒ losgelöst von ihrer Beweisbedeutung in chronologischer Reihenfolge in allen Einzelheiten wiederzugeben. Eine bloße Wiedergabe der Zeugenaussagen ersetzt nicht ihre eigenverantwortliche Würdigung und kann den Bestand des Urteils gefährden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 13. Mai 2020 – 2 StR 367/19 und vom 17. Oktober 1996 – 1 StR 614/96). Eine breite Darstellung der Zeugenaussagen kann schließlich die Anforderungen an eine erschöpfende Würdigung aller für und gegen die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage sprechenden Umstände erhöhen, wenn die mitgeteilten Einzelheiten Anlass bieten, die tatgerichtlichen Wertungen in Frage zu stellen.“

Und dann – trotz der Überlänge:

„2. Gemessen hieran halten die tatgerichtlichen Beweiserwägungen einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Sie sind lückenhaft.

Das Landgericht hat seine Überzeugung, dass es der Angeklagte war, der dem Tatopfer unter anderem eine leere Bierflasche aus Glas sowie einen Besenstiel jeweils „zumindest einige Zentimeter in die Vagina schob“, maßgeblich auf die Angaben des zur Tatzeit 13 Jahre alten Zeugen N. gestützt.

a) Das Landgericht hat die Aussage des Zeugen N. in der Hauptverhandlung im Einzelnen und unter Hervorhebung seiner im Zusammenhang sowie auf Fragen des Gerichts erfolgten Angaben (UA S. 56 bis 64), seine Erstangaben gegenüber einem Erzieher und seine Angaben im Verlaufe der Ermittlungen in den Urteilsgründen wiedergegeben (vgl. UA S. 64 bis 75). Im Rahmen der an späterer Stelle aufgenommenen – knappen – Beweiserwägungen hat das Landgericht seine Überzeugung von der Glaubhaftigkeit seiner Angaben unter anderem auf ein fehlendes Falschbelastungsmotiv sowie auf die Aussagekonstanz gestützt. Die diese Wertung tragenden Beweiserwägungen sind lückenhaft und nicht nachvollziehbar.

aa) Das Landgericht hat ein Falschbelastungsmotiv des Zeugen mit der Begründung verneint, es lägen keine Anhaltpunkte dafür vor, dass der Zeuge eigene Handlungen habe vertuschen wollen; soweit das Tatopfer den Zeugen bezichtigt habe, dass er selbst es mit dem Besenstiel penetriert habe, „dürfte“ der Zeuge von dieser Aussage keine Kenntnis erlangt haben, so dass diese Aussage als Anlass für ein Falschbelastungsmotiv ausscheide.

Es bedarf keiner Entscheidung, ob diese tatgerichtlichen Beweiserwägungen bereits deshalb durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnen, weil es diesem Umstand jede Beweisbedeutung mit der nicht tatsachengestützten Vermutung fehlender Kenntnis des Zeugen hiervon abgesprochen hat.

Die tatgerichtlichen Beweiserwägungen zu einem fehlenden Falschbelastungsmotiv lassen jedenfalls nicht erkennen, dass das Landgericht berücksichtigt hat, dass ein Falschbelastungsmotiv nicht oder nicht allein in der belastenden Aussage des Tatopfers, sondern in einer möglichen eigenen Tatbeteiligung des Zeugen wurzeln kann. Hätte der Zeuge N. das Geschehen zum Nachteil der Nebenklägerin nicht – wie festgestellt – als unbeteiligter Dritter beobachtet, sondern wäre er als Beteiligter selbst in das Tatgeschehen verstrickt gewesen (vgl. Miebach, NStZ-RR 2021, 33, 34; Wenske in MüKo-StPO, 1. Aufl., § 267 Rn. 212), läge hierin ein mögliches Motiv für eine Falschbelastung und seine Aussage bedürfte einer besonders kritischen Würdigung, an der es hier fehlt.

Darüber hinaus hätte Anlass zur Prüfung eines möglichen Falschbelastungsmotivs auch unter dem Gesichtspunkt bestanden, dass der Zeuge N. ausweislich seiner in den Urteilsgründen dokumentierten Angaben gegenüber einem Erzieher, dem Zeugen R. , bekundete, dass „alle anwesenden Personen […], auch er selbst“ an dem Tatgeschehen zum Nachteil der Nebenklägerin beteiligt gewesen seien und auch er selbst das Tatopfer „geschlagen und getreten“ habe. Hieran fehlt es……“

Strafzumessung III: Kurzfristige Freiheitsstrafe, oder: Die kurze Freiheitsstrafe muss „unverzichtbar“ sein

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Als dritte und letzte Entscheidung des Tages dann noch der OLG Hamm, Beschl. v. 27.04.2021 – 5 RVs 28/21. Er nimmt mal wieder zu § 47 StGB Stellung. Das LG hatte u.a. wegen Beleidigung eine Einzel(freiheits)strafe von drei Monaten verhängt. Das hat dem OLG so nicht gefallen:

„Nach der gesetzgeberischen Grundentscheidung des § 47 StGB soll die Verhängung kurzfristiger Freiheitsstrafen weitestgehend zurückgedrängt werden und nur noch ausnahmsweise unter ganz besonderen Umständen in Betracht kommen (Senatsbeschluss vom 08.01.2009 – 5 Ss 528/08 -, Rn. 19 – 20, juris; Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 47 StGB Rn. 1). Die Verhängung einer Freiheitsstrafe unter sechs Monaten hat danach regelmäßig nur dann Bestand, wenn sie sich aufgrund einer Gesamtwürdigung aller die Tat und den Täter kennzeichnenden Umstände als unverzichtbar erweist (vgl. hierzu Fischer, a.a.O., § 47 StGB Rn. 7; Heger, in: Lackner/Kühl, StGB, 29 Aufl. 2018, § 47 StGB Rn. 6, jeweils m.w.N.). Zwar können nähere Ausführungen zur Begründung einer kurzen Freiheitsstrafe – worauf die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend hingewiesen hat – ausnahmsweise dann entbehrlich sein, wenn sich aus den Urteilsgründen ergibt, dass die Voraussetzungen des § 47 StGB auf der Hand liegen, insbesondere der abgeurteilten Tat zahlreiche oder einschlägige Vorstrafen, wiederholte Bewährungsbrüchigkeit oder mehrfache Strafhaftverbüßungen vorangingen oder eine auffällig hohe Rückfallgeschwindigkeit vorliegt (Maier, in: MünchKomm, StGB, 4. Aufl. 2020, § 47 StGB Rn. 60). Stellt das Gericht hingegen dem Angeklagten eine günstige Legalprognose und setzt – wie vorliegend – die verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, versteht sich die Unerlässlichkeit der Verhängung nicht von selbst (Maier, in: MünchKomm, a.a.O., § 47 StGB Rn. 59).“