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Vollstreckung II: Vollstreckungsaufschub für Chef, oder: Wenn der Firmenchef „aufs Amt“ muss

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Der zweiten Entscheidung, dem LG Rostock, Beschl. v. 26.09.2022 – 11 StVK 937/17(1) – liegt ein Streit um einen Vollstreckungsaufschub zugrunde. Der Verurteilte hatte den beantragt, die Vollstreckungsbehörde hat nicht bewilligt. Die Einwendungen des Verurteilten waren dann bei der kleinen Strafvollstreckungskammer erfolgreich:

„Die Voraussetzungen für einen vorübergehenden Vollstreckungsaufschub gemäß § 456 Abs. 1 und 2 StPO sind erfüllt. Nach dem teilweise glaubhaften Vortrag des Verurteilten ist davon auszugehen, dass ihm durch die sofortige Vollstreckung der Strafe erhebliche, außerhalb des Straf-zwecks liegende Nachteile erwachsen würden bzw. erwachsen worden wären.

Soweit der Verurteilte, der alleiniger Geschäftsführer der pp.  ist, vorgetragen hat, zur Abwicklung seines Gewerbes bzw. dessen Ruhendstellung diverse Termine bei Ämtern, Notaren und anderen Behörden wahrnehmen zu müssen, begründet dies hinreichende Gründe für einen Vollstreckungsaufschub. Die Kammer konnte insoweit die Notwendigkeit der Klärung dieser Angelegenheiten außerhalb der Haft nachvollziehen, für die der Zeitraum der Ladungsfrist von einer Woche zu kurz bemessen war. Zwar erscheint die Wahrnehmung einiger dieser Termine auch aus der Haft heraus grundsätzlich möglich, jedoch dürften diese wesentlich erschwert und möglicherweise auch mit Nachteilen des Verurteilten, beispielsweise Zugriff auf Unterlagen, verspäteter Schriftwechsel oder auch erhöhte Kosten, verbunden sein. Der Verurteilte hat sich nach Kenntnis der Rechtskraft des Widerrufsbeschlusses offenkundig bemüht, die erforderlichen Termine zeitnah abzustimmen und alles Notwendige in die Wege zu leiten. Nachdem der Verurteilte am 20.07.2022 von der Ladung Kenntnis erlangt und Termine sein Gewerbe betreffend bis Ende August 2022 vorgetragen hatte, erschien der Kammer ein Vollstreckungsaufschub bis zum 30.09.2022 erforderlich aber auch ausreichend.

Für einen darüber hinausgehenden Strafaufschub bis zum 14.10.2022 oder gar 01.11.2022 bestand hingegen keine Veranlassung. Sämtliche vom Verteidiger vorgebrachten Termine waren Ende August erledigt. Seit Erhalt der Ladung zum Strafantritt am 20.07.2022 werden bis zum 30.09.2022 mehr als zwei Monate vergangen sein, die ausreichend sind, um seine persönlichen und betrieblichen Verhältnisse zu ordnen und Vorkehrungen für seine Abwesenheit zu treffen.

Dem Ergebnis kann auch nicht entgegengehalten werden, dass der Verurteilte sich um einen Stellvertreter oder gar die Abwicklung seines Unternehmens in Ansehung der Rechtskraft des Widerrufsbeschlusses der Kammer vom 19.04.2022 bereits ab diesem Zeitpunkt hätte bemühen müssen. Zwar musste er sich darauf einstellen, die widerrufene Restgesamtfreiheitsstrafe alsbald verbüßen zu müssen. Aufgrund der ausstehenden Entscheidung über sein Rechtsmittel und die Ungewissheit über den Termin zum Strafantritt war ihm gleichwohl nicht zuzumuten, bereits ab dem 19.04.2022 so weiträumig betreffend seines Gewerbes zu disponieren. Sinnvolle betriebliche Dispositionen konnten vielmehr erst nach Bekanntwerden der Rechtskraft des Widerrufsbeschlusses erfolgen (OLG Frankfurt Beschluss v. 17.11.1988 – 3 Ws 1106/88 – beckonline).

Ergänzend wird angemerkt: Soweit der Verurteilte außerdem vorgetragen hat, auch wegen des Betonplattengießens Ende August 2022 an der Geschäftsadresse vor Ort sein zu müssen, begründet(e) dies keinen hinreichenden Grund eines Vollstreckungsaufschubs. Die Überwachung einer solchen Baumaßnahme, die in aller Regel fachmännisch und auftragsgemäß ausgeführt wird, kann aus Sicht der Kammer auch kurzfristig einem Dritten über-tragen werden bzw. obliegt es dem Verurteilten, selbst zuvor konkrete Anweisungen – auch fern-mündlich – zu erteilen, zumal es sich bei dem Gießen einer Betonplatte nicht um einen komplexen Bauabschnitt handeln dürfte. Im Übrigen ist auch nicht vorgetragen worden, weshalb die persönliche Anwesenheit des Verurteilten zwingend „von Nöten“ gewesen wäre.“

U-Haft III: Geringe Terminsdichte verzögert 7 Monate, oder: Warum meldet sich der Verteidiger nicht mal?

In der dritten Entscheidung des Tages, dem OLG Zweibrücken, Beschl. v. 06.10.2022 – 1 Ws 184/22 – geht es u.a. auch um die Terminsdichte.

Der Angeklagte befindet sich in dieser Sache seit dem 13.03.2020 in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft erhob unter dem 27.07.2020 Anklage zur Jugendkammer des LG. Die Anklageschrift, beim LG am 10.08.2020 eingegangen, wurde dem Angeklagten, seiner ihn gesetzlich vertretenden Mutter und dem Pflichtverteidiger Rechtsanwalt pp. aufgrund Verfügung des Vorsitzenden vom gleichen Tag zugestellt. Am 11.08.2020 wurden mit der Kanzlei des Verteidigers telefonisch Termine zur Durchführung der Hauptverhandlung abgestimmt. Mit Beschluss vom 21.08.2020 ordnete der Vorsitzende der Jugendkammer Rechtsanwalt pp. als weiteren Pflichtverteidiger bei. Mit Beschluss vom 07.09.2020 ließ die Jugendkammer die Anklage zur Hauptverhandlung zu und eröffnete das Hauptverfahren. Zugleich wurde der Haftbefehl nach Maßgabe der Anklageschrift und des Eröffnungsbeschlusses neu gefasst und Haftfortdauer angeordnet. Mit Verfügung vom 08.09.2020 bestimmte der Vorsitzende der Jugendkammer Termin zur Hauptverhandlung auf den 21.09.2020 sowie abgestimmte 13 Fortsetzungstermine bis 28.01.2021.

Die Hauptverhandlung fand schließlich zwischen dem 21.09.2020 und dem 02.08.2022 an insgesamt 57 Verhandlungstagen statt. Mit Urteil vom 02.08.2022 wurde der Angeklagte wegen Mordes in Tateinheit mit Vergewaltigung mit Todesfolge und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe von 10 Jahren verurteilt und im Übrigen freigesprochen. Sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Frankenthal legten Revision gegen das Urteil ein.

Der Angeklagte wendet sich mit seiner am 04.08.2022 erhobenen Beschwerde gegen die Haftfortdauerentscheidung unter Verweis auf eine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes. Die Jugendkammer hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Die Beschwerde hatte dann aber beim OLG Erfolg.

Das OLG nimmt zum Beschleunigungsgrundsazu auf der Grundlage der obergerichtlichen Rechtsprechung Stellung und legt da, dass er hier irreparabel verletzt ist, was zur Aufhebung des Haftbefehls führe:

„2. Das Verfahren ist gemessen an diesen Grundsätzen nicht mit der für Haftsachen erforderlichen Beschleunigung betrieben worden.

Bis zum Beginn der Hauptverhandlung ist zwar keine Verzögerung eingetreten. Auch hat die Hauptverhandlung bereits sechs Wochen nach Eingang der Anklageschrift begonnen. Die Planung und Durchführung der Hauptverhandlung ist aber dem Gebot einer vorausschauenden, auch größere Zeiträume umfassenden Hauptverhandlungsplanung mit mehr als einem Hauptverhandlungstag pro Woche (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23.01.2008 – 2 BvR 2652/07 –, Rn. 52, juris; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.01.2013 – 2 BvR 2098/12 –, Rn. 52, juris), nicht gerecht geworden.

Bereits terminiert wurde mit einer Frequenz von durchschnittlich weniger als einem Verhandlungstag pro Woche. In der mehr als 22 Monate dauernden Hauptverhandlung wurde dann gerade einmal an 57 Tagen tatsächlich verhandelt, darunter waren zehn Kurztermine von unter einer halben Stunde. Selbst bei Berücksichtigung dieser Kurztermine (vgl. hierzu BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.01.2013 – 2 BvR 2098/12, Rn. 52; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 05.12.2005 – 2 BvR 1964/05, Rn. 102) ergibt dies eine durchschnittliche wöchentliche Sitzungsdichte von 0,59 Tagen, die damit deutlich unter den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts liegt. Auch bei der Terminierung ab Februar 2021, mithin mehr als vier Monate nach Beginn der Hauptverhandlung, ist weiterhin mit durchschnittlich weniger als einem Verhandlungstermin pro Woche geplant worden. Insbesondere mit fortschreitender Dauer der Untersuchungshaft wäre jedoch eine Verdichtung der Termine – gegebenenfalls auch nur unter Teilnahme des Sicherungsverteidigers – zwingend erforderlich gewesen. Hier hätte das Landgericht berücksichtigen müssen, dass sich der Angeklagte im März 2021 bereits ein Jahr in Untersuchungshaft befand und dies nur in ganz besonderen Ausnahmefällen seine Rechtfertigung finden kann. Bis zum Ende der annähernd zwei Jahre dauernden Hauptverhandlung fand keine erkennbare Verdichtung der Termine statt.

Erkrankungen von Verfahrensbeteiligten können als schicksalhafte Ereignisse die Fortdauer der Untersuchungshaft trotz objektiv feststehender Verzögerung rechtfertigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.12.1973 – 2 BvR 558/73, juris Rn. 27; Beschluss vom 20.12.2017 – 2 BvR 2552/17, juris Rn. 18; Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18, juris Rn. 30; Beschluss vom 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18, juris Rn. 70). Der Senat hat deshalb berücksichtigt, dass es zu Terminsaufhebungen wegen Krankheit, auch COVID-19-Erkrankungen sowie in diesem Zusammenhang erforderlichen Quarantänezeiten auf Seiten des Gerichts sowie weiterer Verfahrensbeteiligter gekommen ist.

Die für die 28.01.2021, 19.07.2021, 05.01.2022, 10.01.2022, 14.01.2022, 26.01.2022, 17.03.2022, 21.03.2022, 12.05.2022 und 19.07.2022 bestimmten Termine konnten aufgrund Erkrankung auf Seiten des Gerichts, des Sachverständigen, des Angeklagten oder der Verteidigung nicht stattfinden. Der Termin vom 06.12.2021 wurde wegen Verdachts einer COVID-19 Erkrankung aufgehoben. Zudem waren Termine am 08.10.2020, 21.01.2021, 24.01.2022 und 11.02.2022 aufgrund Erkrankung eines Sachverständigen nur als Kurztermine wahrnehmbar, da die eigentlich vorgesehene Beweisaufnahme nicht stattfinden konnte.

Es kann auch offen bleiben, ob sich die Zeiträume, in denen wegen Urlaubs der Kammermitglieder keine Termine stattfanden, in angemessenem Rahmen gehalten haben. Denn selbst bei Berücksichtigung aller Zeiten, in denen sowohl durch Urlaub von Kammermitgliedern als auch der Verteidigung eine Terminierung nicht möglich war, sowie der Termine, die infolge Krankheit auf Seiten des Gerichts und der weiteren notwendigen Verfahrensbeteiligten aufgehoben werden mussten, ergibt sich lediglich eine durchschnittliche wöchentliche Verhandlungsdichte von 0,86 Tagen.

Die Terminsdichte ist auch unabhängig von der Frage des Umfangs der durchzuführenden Beweisaufnahme sowie deren Komplexität, der Anzahl von – hier nicht relevanten – gestellten Verfahrens- und Befangenheitsanträge und der hierdurch bewirkten Verfahrensverzögerung zu beurteilen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23.01.2008 – 2 BvR 2652/07 –, Rn. 55 m.w.N., juris). Solche Gesichtspunkte können lediglich die Dauer der Hauptverhandlung, nicht aber die geringe Terminsdichte erklären. Besonderheiten, die zu der geringen Terminsdichte geführt haben, etwa die Durchführung weiterer Ermittlungen, die Suche nach erst während der Hauptverhandlung bekannt gewordenen Zeugen oder die Ladung von Auslandszeugen, sind nicht erkennbar und von dem Vorsitzenden in seiner dienstlichen Erklärung auch nicht angeführt worden.

Soweit die geringe Terminsdichte auf von der Verteidigung geltend gemachte Terminkollisionen zurückzuführen ist, führt dies nicht grundsätzlich dazu, dass der Justiz die Verfahrensverzögerung nicht anzulasten ist. Dies gilt auch dann, wenn derartige Terminkollisionen durch eine vorausschauende, weit in die Zukunft reichende Terminplanung wegen der Terminsbelastung des Verteidigers und des Sicherungsverteidigers nicht vermieden werden können. Die Strafkammer darf nicht ausnahmslos auf Terminkollisionen der Verteidiger Rücksicht nehmen. Vielmehr stellt sich dann die Frage, ob nicht bereits vor Beginn der Hauptverhandlung andere Pflichtverteidiger hätten bestellt werden müssen oder inwieweit die Verteidiger in der laufenden Hauptverhandlung mit Blick auf das Beschleunigungsgebot hätten verpflichtet werden können, andere – weniger dringliche – Termine zu verschieben, um eine Beschleunigung einer bereits lang dauernden Hauptverhandlung zu erreichen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17.07.2006 – 2 BvR 1190/06 –, juris).

Das Recht eines Angeklagten, sich von einem Anwalt seiner Wahl und seines Vertrauens vertreten zu lassen, gilt nicht uneingeschränkt, sondern kann entsprechend den einfachgesetzlichen Vorschriften der § 142 Abs. 5 Satz 3, § 145 Abs. 1 Satz 1 StPO durch wichtige Gründe begrenzt sein (vgl. BVerfGE 9, 36, 38; 39, 238, 243 m.w.N.; siehe auch Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25.09.2001 – 2 BvR 1152/01 –, NStZ 2002, S. 99 f.). Ein solcher Grund kann in bestimmten Konstellationen auch das Beschleunigungsgebot in Haftsachen sein. Es ist deshalb von vornherein verfehlt, bei der Terminierung jede Verhinderung eines Verteidigers zu berücksichtigen. Vielmehr muss zwischen dem Recht des Angeklagten, in der Hauptverhandlung von einem Verteidiger seines Vertrauens vertreten zu werden, und seinem Recht, dass der Vollzug von Untersuchungshaft nicht länger als unbedingt nötig andauert, sorgsam abgewogen werden. Die Terminslage des Verteidigers kann angesichts der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) nur insoweit berücksichtigt werden, wie dies nicht zu einer erheblichen Verzögerung des Verfahrens führt (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 15.02.2007 – 2 BvR 2563/06 –, BVerfGK 10, 294-308, Rn. 37 f.).

Soweit sich aus der Akte ergibt, dass der Pflichtverteidiger bereits bei der ersten Absprache der Termine dargestellt hatte, dass er nicht an einer an den dargelegten Voraussetzungen zu messenden Terminsfrequenz zur Verfügung stehen könne, hätte folglich der Austausch des Pflichtverteidigers nahe gelegen.

Ob eine Terminsverdichtung auch mit Blick auf weitere Haftsachen der Kammer nicht erfolgt ist, kann offen bleiben. Die außerordentliche Belastung der Jugendkammer des Landgerichts kann eine Verfahrensverzögerung nicht rechtfertigen. Eine Überlastung der Kammer ist allein der Sphäre des Gerichts und nicht der des Angeklagten zuzurechnen.

3. Damit ist die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr verhältnismäßig.

Zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung befand sich der Angeklagte seit über 28 Monaten in Untersuchungshaft. Bereits die ursprüngliche Terminsbestimmung blieb mit 14 Verhandlungstagen in 19 Wochen hinter den Anforderungen der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zurück. Auch die weitere Planung der Hauptverhandlung wurde diesen Vorgaben mit 68 Verhandlungstagen in (mehr als) 97 Wochen nicht gerecht, zumal verschiedene Termine lediglich als Ersatztermine für ausgefallene Verhandlungstage bestimmt wurden. Tatsächlich wurde in dem genannten Zeitraum dann lediglich an 57 Tagen verhandelt. An 20 dieser Verhandlungstage wurde weniger als zwei Stunden verhandelt. Im Durchschnitt ist in dem Verhandlungszeitraum nur etwas mehr als 1 1/2 Stunden pro Woche verhandelt worden. Da es sich bei dem in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten zunächst noch um einen Jugendlichen, später Heranwachsenden handelte, war dem Beschleunigungsgebot auch gem. § 72 Abs. 5 JGG besonders Rechnung zu tragen (Pfälzisches OLG Zweibrücken, Beschluss vom 09.04.2002 – 1 HPL 12/02 –, juris).

Der Angeklagte ist wegen Mordes in Tateinheit mit Vergewaltigung mit Todesfolge und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe von 10 Jahren verurteilt worden. Zu Recht führt die Generalstaatsanwaltschaft dazu aus, der Angeklagte sei wegen schwerster Straftaten schuldig gesprochen und zur Höchststrafe verurteilt worden, die gegen einen Jugendlichen nach dem Jugendgerichtsgesetz verhängt werden kann.Das Verfahren war schon aufgrund der Tatvorwürfe auch durchaus komplex. Die Hauptverhandlungstermine bedurften nicht nur der Abstimmung mit den Verteidigern, sondern auch mit weiteren Rechtsanwälten, mehreren Sachverständigen und vier Schöffen; allerdings ist insoweit zu beachten, dass von den Sachverständigen allenfalls der psychiatrische Sachverständige während der gesamten Beweisaufnahme anwesend sein musste und eine Verhinderung der anwaltlichen Vertreter der Nebenkläger gem. § 398 StPO der Terminierung nicht entgegenstand. Schließlich gestaltete sich die Vernehmung der Nebenklägerinnen schon im Hinblick auf die Tatvorwürfe sicherlich ausgesprochen schwierig, bedurfte deshalb einer entsprechenden organisatorischen Vorbereitung und konnte auch nicht unter Zeitdruck durchgeführt werden.

Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsrecht des Einzelnen und dem Strafverfolgungsinteresse des Staates ist zu berücksichtigen, dass sich das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs durch die Verurteilung des Angeklagten ganz erheblich vergrößert hat.

Die durch die geringe Terminsdichte eingetretene Verzögerung beträgt mehr als sieben Monate (32 Wochen). Der Senat ist bei dieser Schätzung davon ausgegangen, dass die tatsächlich für die Hauptverhandlung benötigten 57 Verhandlungstage regelmäßig in weniger als 57 Wochen stattfinden müssen. Die 20 Sitzungstage mit einer Dauer von unter zwei Stunden hat der Senat lediglich als halbe Verhandlungstage berücksichtigt mit der Folge, dass sich die an sich notwendige Verhandlungsdauer auf 47 Wochen reduziert. Danach hat der Senat die von dem Vorsitzenden genannten Urlaubszeiten der Richter und Verfahrensbeteiligten (in den Kalenderwochen 42, 43, 44, 52 sowie 53 im Jahr 2020 und in den Kalenderwochen 13, 14, 21, 22, 31, 32, 33, 34, 41 und 42 im Jahr 2021) sowie die Krankheitszeiten (in den Kalenderwochen 3, 4 und 29 im Jahr 2021) hinzugerechnet. Mithin hätte die Hauptverhandlung nach 65 Wochen beendet sein müssen, hat sich aber tatsächlich 97 Wochen hingezogen. Allerdings wurde mit dem besonders zügigen Beginn der Hauptverhandlung ein Zeitraum von sechs Wochen kompensiert, was die Verzögerung auf knapp sechs Monate (26 Wochen) zurückführt. Eine weitere Kompensation der Verzögerung im Revisionsverfahren ist nicht mehr zu erwarten. Dies ist zwar – etwa durch eine besonders beschleunigte Absetzung der Urteilsgründe – theoretisch möglich; auf die entsprechende Anfrage hat der Vorsitzende der Strafkammer allerdings am 22.09.2022 mitgeteilt, dass die Urteilsgründe noch nicht abgesetzt sind.

Die schon von ihrer Dauer her erhebliche Verzögerung wiegt im vorliegenden Fall besonders schwer, weil sie nicht durch schicksalhafte Ereignisse eingetreten ist, sondern bereits durch die unzureichende Terminierung angelegt war. Hinzukommt, dass nicht nur an zu wenigen Tagen in dem langen Zeitraum der Hauptverhandlung verhandelt worden ist, sondern auch noch die tatsächlich stattgefundenen Verhandlungstage mit einer durchschnittlichen Verhandlungsdauer von knapp drei Stunden nur unzureichend genutzt worden sind. Ein Bemühen, die Verhandlungsdichte im Laufe der Hauptverhandlung zu irgendeinem Zeitpunkt zu erhöhen, ist nicht erkennbar. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Senat bei der Schätzung des Ausmaßes der Verfahrensverzögerung lediglich eine Terminsdichte zugrunde gelegt hat, bei der das Landgericht die verfassungsrechtlichen Vorgaben gerade noch eingehalten gehabt hätte.

Dieser krasse Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz ist auch vor dem Hintergrund des hohen Gewichts des Strafanspruchs im vorliegenden Fall und unter Berücksichtigung der Überlegung, dass nach einer Verurteilung Verfahrensverzögerungen geringeres Gewicht beizumessen ist, nicht hinnehmbar.

Dass die Verteidigung während der annähernd zwei Jahre laufenden Hauptverhandlung zu keinem Zeitpunkt eine Verzögerung des Verfahrens gerügt hat, ist befremdlich, aber unerheblich und macht lediglich deutlich, dass eine Rücksichtnahme auf stark ausgelastete Verteidiger und die Bestellung eines Sicherungsverteidigers, der regelmäßig mit demselben (Haupt-)Verteidiger die Verteidigung übernimmt, mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigungsmaxime nur schwer vereinbar ist….“

Warum sich der Verteidiger beim dem Ablauf nicht mal „gemeldet“ hat, erschließt sich mir (auch) nicht.

U-Haft II: Zahl/Dichte von gerichtlichen Terminen, oder: „Wäre sowieso nicht möglich gewesen“ Argumentation“

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Die zweite Entscheidung zu Haftfragen, der OLG Hamm, Beschl. v. 15.09.2022 – 5 Ws 243/22 – befasst sich mit dem Vorliegen eines wichtigen Grundes i.S. von § 121 Abs. 1 StPo – also „Sechs-Monats-Prüfung“.

Der Sachverhalt der Entscheidung lässt sich etwa wie folgt zusammenfassen: Der Angeklagte befindet sich seit dem 02.03.2022 ununterbrochen in U-Haft. Die StA hat am 23.05.2022 Anklage gegen ihn wegen schwerer Körperverletzung und zwei weitere Angeklagte wegen Beihilfe beim LG erhoben. Das LG hat eine Frist zur Stellungnahem von drei Wochen festgesetzt. Am 18.07.2022 hat der Berichterstatter vermerkt, dass ihm die Akte nunmehr das erste Mal vorgelegen habe. Eine Entscheidung zu einem früheren Zeitpunkt sei der Kammer aufgrund Überlastung durch zahlreiche laufende Verfahren sowie der Erkrankungen des Vorsitzenden und dessen Stellvertreters nicht möglich gewesen. Die Kammer hat am selben Tag die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem AG beschlossen.

Nach Eingang der Akten am 19.07.2022 hat das AG am 25.07.2022 Terminsvorschläge für den 25.08.2022, 15.09.2022 und 06.10.2022 unterbreitet. Während der Verteidiger des Angeklagten alle drei Termine hätte wahrnehmen könnte, war der Verteidiger eines Mitanklagen verhindert; der Verteidiger des anderen Mitangeklagten hat nicht reagiert. Unter dem 16.08.2022 schlug die Vorsitzende des Schöffengerichts sodann als weitere Termine den 17.10.2022, 31.10.2022, 10.11.2022, 17.11.2022, 21.11.2022, 24.11.2022 und dem 01.12.2022 vor.

Mit Beschluss vom 16.8.2022 hat das AG die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich gehalten und die Akten gem. §§ 121, 122 StPO dem OLG zur Entscheidung vorgelegt. Das OLG hat die Voraussetzungen des Haftbefehls bejaht und die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus angeordnet.

Das OLG meint, dass das Verfahren zwar nicht hinreichend gefördert worden sei, meint aber dann:

„(4) Die vorstehend unter (3) beschriebene, nicht hinreichende Verfahrensförderung hat jedoch im Ergebnis nicht zu einer Verfahrensverzögerung geführt, so dass insofern keine Verletzung des Beschleunigungsgebots gegeben ist.

Auf die Anfrage des Senats haben sämtliche Verteidiger mitgeteilt, an welchen Tagen eine Terminierung im Oktober 2022 hätte stattfinden können, wenn diese am 16.08.2022 vom Amtsgericht angefragt worden wäre. Nach den erteilten Auskünften ist davon auszugehen, dass nach Urlaubsrückkehr der Vorsitzenden zum 04.10.2022 Rechtsanwalt S am 12.10.2022, 17.10.2022 und 24.10.0222 verhindert gewesen wäre und Rechtsanwalt O lediglich am 05.10.2022, 07.10.2022, 10.10.2022, 13.10.2022 und 18.10.2022 zur Verfügung gestanden hätte. Rechtsanwalt R hätte sich – die etwaige außerplanmäßige Fortsetzung des von ihm in der Stellungnahme vom 12.09.2022 angesprochenen Schwurgerichtsverfahrens ließ keine andere Planung zunächst im Zeitraum vom 04.10.2022 bis zum 16.10.2022 im Urlaub befunden und war im Zeitraum vom 17.10.2022 bis 31.10.2022 vollständig austerminiert. Selbst bei der gebotenen Verfahrensförderung durch die Unterbreitung weiterer Terminsvorschläge wäre daher eine Terminierung unter Beteiligung der weiteren Pflichtverteidiger Rechtsanwalt R und Rechtsanwalt O im Oktober 2022 nicht zustande gekommen.

(5) Für den Monat November 2022 sind von der Vorsitzenden Richterin insgesamt vier Terminsvorschläge unterbreitet worden. Der Senat kann offen lassen, ob diese Anzahl hinreichend ist. Jedenfalls sind am 10.11.2022 und 17.11.2022 Hauptverhandlungstermine und damit der erste Termin noch im ersten Drittel des Monats November 2022 zustande gekommen, so dass es insofern nicht zu einer wesentlichen Verfahrensverzögerung gekommen ist.

(6) Schließlich ist bis zum jetzigen Verfahrensstadium nicht zu beanstanden, dass die Vorsitzende Richterin nicht durch Abtrennung des Verfahrens gegen den Angeklagten eine zügigere Terminierung ermöglicht hat. Soweit ein früherer Prozessbeginn an der Verhinderung des Verteidigers des nicht inhaftierten Angeklagten scheitert, ist zwar an die Möglichkeit der Trennung der Verfahren in diesem Zusammenhang zu denken. (Gärtner in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 121 StPO). Die Trennung steht gleichwohl im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts (Scheuten, in: Karlsruher Kommentar, 8. Aufl. 2019, § 2 StPO Rn. 14). In die Gesamtabwägung sind hierbei insbesondere der Freiheitsanspruch des Betroffenen und das Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit einzustellen. Danach ist vorliegend einerseits zu berücksichtigen, dass der Angeklagte bis zum Beginn der Hauptverhandlung acht Monate und eine Woche in Untersuchungshaft verbracht haben wird. Zum anderen wären die abgetrennten Angeklagten, worauf die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift zutreffend hingewiesen hat, ebenfalls zu laden gewesen und hätten von ihrem Recht auf Verweigerung der Aussage Gebrauch machen können. Insbesondere im Hinblick darauf dass der Mitangeklagte D sich am 27.05.2022 umfangreich gegenüber der Polizei eingelassen hat, wäre daher eine erhebliche Behinderung der Sachaufklärung zu besorgen gewesen. Wegen des gewichtigen Tatvorwurfs überwiegt jedenfalls gegenwärtig das Strafverfolgungsinteresse noch den Freiheitsanspruch des Angeklagten, so dass dieser (noch) zurückzutreten hat.

(7) Gleiches gilt im Ergebnis, soweit der Verteidiger des Angeklagten nunmehr die Auffassung vertritt, dass die Pflichtverteidiger der Mitangeklagten von ihren Pflichten hätten entbunden werden können, um eine zügigere Durchführung des Verfahrens zu ermöglichen. Angesichts der Schwere des Tatvorwurfs überwog jedenfalls im damaligen Verfahrensstadium das Interesse der Angeklagten von den Verteidiger ihres Vertrauens verteidigt zu werden. Dass Rechtsanwalt R zwischenzeitlich mitgeteilt hat, dass aufgrund seiner starken Terminsbelastung nunmehr die Terminswahrnehmung durch seinen Kanzleikollegen Rechtswalt T angedacht sei, rechtfertigt keine andere Bewertung, da dies für das Gericht nicht erkennbar und dies nicht gehalten war, dem Mitangeklagten E einen Verteidigerwechsel anzusinnen.“

Ob das so richtig ist, wage ich zu bezweifeln. Mich würde schon interessieren, was das BVerfG dazu sagen würde. Denn das OLG argumentiert mit einer „Kompensation verkehrt“, nämlich nicht damit, dass, was zum Teil als zulässig angesehen wird, Verzögerungen durch spätere besondere Beschleunigung kompensiert werden können, sondenr segnet die Verzögerungen mit der hypothetischen Überlegung ab, die Verhandlung habe an den grundsätzlich gerichtlich im Oktober zusätzlich anberaumten Terminen wegen Verhinderung der Verteidiger der Mitangeklagten ohnehin nicht durchgeführt werden können. Also eine „Wäre sowieso nicht möglich gewesen“ Argumentation“. Und. Die Ausführungen des OLG zur Frage der Abtrennung des Verfahrens gegen den inhaftierten Angeklagten sind m.E. auch nicht überzeugend. Fazit: Man will den Haftbefehl eben halten.

U-Haft I: Planung eines „Amoklaufs“ in der Schule, oder: Fluchtgefahr bei einem 17-Jährigen

entnommen der Homepage der Kanzlei Hoenig, Berlin

Heute findet hier dann – seit längerem mal wieder – ein U-Haft-Tag statt.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 25.08.2022 – StB 37/22. Der BGH nimmt in dem Beschluss zur Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) Stellung. Das Verfahren richtet sich gegen ein 17-jährigen Beschuldigten, dem Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und hiermit zusammenhängender weiterer Delikte vorgeworfen werden. Der 17-jährige Beschuldigte wurde am 12.05.2022 vorläufig festgenommen. Am Folgetag erließ und verkündete das AG einen Haftbefehl. Seither war der Beschuldigte in Wuppertal inhaftiert. Nach Übernahme des Verfahrens durch den GBA erging am 14.06.2022 ein neuer Haftbefehl durch den Ermittlungsrichter des BGH (3 BGs 448/22). Gegenstand war der Vorwurf, der Beschuldigte habe einen rechtsextremistisch motivierten Anschlag auf das von ihm besuchte Gymnasium in E. geplant; er sei fest entschlossen gewesen, am 13.05. 2022 in das Schulgebäude einzudringen und mittels selbstgebauter Sprengsätze sowie verschiedener Waffen möglichst viele Lehrer und Schüler – aus seiner Sicht „anti-weiße“ und „linke Untermenschen“ – zu töten, um damit Vorarbeit für den von ihm erwarteten „Rassenkrieg“ zu leisten und Gleichgesinnte zur Nachahmung zu bewegen. Zu diesem Zweck habe er sich die zum Bau der Sprengsätze erforderlichen Bestandteile dergestalt beschafft, dass er aus ihnen binnen weniger Stunden einsatzfähige Rohrbomben hätte herstellen können, und sich Armbrüste, Messer, Macheten, PTB-Waffen, Luftdruckpistolen und Schlagringe besorgt. Überdies habe er Munition besessen. Der Beschuldigte habe sich auf diese Weise nach § 89a Abs. 1 und 2 Nr. 3, § 52 Abs. 1 StGB, § 40 Abs. 1 Nr. 3, § 27 Abs. 1 SprengG, § 52 Abs. 3 Nr. 1 und 2 Buchst. b WaffG strafbar gemacht. Sein Vorhaben sei allein an der Festnahme gescheitert.

Der Ermittlungsrichter beim BGH hat dann später den Haftbefehl aufgehoben. Dagegen die Beschwerde des GBA, die Erfolg hatte. Der BGH führt zu Fluchtgefahr aus:

„3. Es besteht Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Bei Würdigung der konkreten Einzelfallumstände ist es wahrscheinlicher, dass sich der Beschuldigte dem weiteren Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten wird.

a) Der Beschuldigte ist einem hohen Fluchtanreiz ausgesetzt. Er hat angesichts des Gewichts der ihm vorgeworfenen Tat mit einer empfindlichen Jugendstrafe zu rechnen. Das Tatbild ist davon geprägt, dass allein wegen des besonnenen Verhaltens eines Mitschülers im letzten Moment ein rechtsextremistisch motivierter Amoklauf mit vielen Toten verhindert wurde. Die gefestigte rassistische Gesinnung des Beschuldigten, seine massive Gewaltbereitschaft und der von ihm über mehrere Jahre für die Tat betriebene Aufwand sprechen in hohem Maße für seine schädlichen Neigungen und die Schwere der Schuld (§ 17 Abs. 2 JGG). Im Erwachsenenstrafrecht ist das dem Beschuldigten vorgeworfene Verhalten mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren belegt (§ 89a Abs. 1 Satz 1 StGB). Entgegen der Auffassung des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs sind das Tatunrecht, die Schuld und der Erziehungsbedarf nicht maßgeblich dadurch vermindert, dass – wie ausgeführt – einige der dem Beschuldigten zugeordneten Waffen im Elternschlaf- und nicht im Kinderzimmer aufgefunden worden sind.

Der von der zu erwartenden Jugendstrafe ausgehende hohe Fluchtanreiz wird daraus ersichtlich, dass der Beschuldigte ihrem Vollzug nach den bislang gewonnenen Erkenntnissen mit großer Sorge entgegensieht. Er hat vielfach geäußert, sich davor zu fürchten, auf gewaltbereite Mitinsassen zu treffen. In der Haftanstalt hat er sich angesichts seiner Einzelverwahrung beruhigt gezeigt, diese böte ihm Schutz vor den Mithäftlingen. Eine einstweilige Unterbringung in einem geeigneten Heim der Jugendhilfe nach § 71 Abs. 2 JGG lehnt er entschieden ab, weil er dort mit anderen (kriminellen) jungen Männern zusammenträfe (s. insgesamt Bd. Aktenvorlage Haftbeschwerde, S. 26, 28, 31, 52, 67, 72). Der Umstand, dass auf seinem Rechner umfangreiches kinderpornografisches Material gefunden worden ist und ihm auch insoweit eine Anklage droht, ist geeignet, seine Angst vor anderen Jugendlichen im Strafvollzug noch zu steigern.

b) Der Beschuldigte verfügt trotz seines jungen Alters zudem über die tatsächlichen Möglich- und Fähigkeiten zur Flucht. Zwar wohnte er bis zu seiner Inhaftierung bei seinen Eltern. Wie der Tatvorwurf zeigt, hat der Beschuldigte es jedoch über Jahre verstanden, sich vollständig zu verstellen und von allen unbemerkt ein ausgeklügeltes Anschlagsszenario zu planen. In seinen Aufzeichnungen hat er ausgeführt, dass er nur von außen normal wirke, jedoch sein wahres Gesicht noch nie jemandem offenbart habe (Bd. XII, S. 441). Das deckt sich mit den Berichten der Justizvollzugsbediensteten, die ihn als affektiv verflacht und nicht authentisch erlebt haben (Bd. Aktenvorlage Haftbeschwerde, S. 9 ff.).

Die Umsetzung seiner rassistischen Gewaltphantasien ist für den Beschuldigten handlungsleitend. Er ist von der Überzeugung durchdrungen, um jeden Preis gemeinsam mit seinen „Kameraden und Mitstreitern“ für die „Freiheit der weißen Rasse“ kämpfen zu müssen (s. Bd. XII, etwa S. 430). Von dieser Gesinnung getrieben, war er in rechtsnationalen Chatgruppen und Foren aktiv, wie die Auswertung seiner Computer und Mobiltelefone ergeben (Bd. IV, S. 110 ff.) und wie er freimütig in der Justizvollzugsanstalt berichtet hat (Bd. Aktenvorlage Haftbeschwerde, S. 24). Der Beschuldigte war – auch finanziell – in der Lage, sich heimlich ein umfangreiches Waffenarsenal zuzulegen (zu seinen vierstelligen Ersparnissen s. Bd. Aktenvorlage Haftbeschwerde, S. 61), wobei er sich Bauanleitungen für Sprengkörper aus dem Darknet herunterlud (Bd. IV, S. 97 ff.). Aus alledem ist zu schließen, dass er sein Umfeld weiterhin zu täuschen vermag und ein jedenfalls zeitweiliges Untertauchen organisieren kann.

c) Es sind schließlich keine fluchthemmenden Umstände erkennbar, die den Beschuldigten zu einer freiwilligen Kooperation mit den Organen der Strafverfolgung bewegen könnten. Soweit der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs in diesem Zusammenhang die Eltern des Beschuldigten als stabilisierenden Faktor eingestuft hat, hat er nicht bedacht, dass sie nach ihren Bekundungen von den über Jahre entwickelten Anschlagsplänen ihres Sohnes nichts bemerkten, wenngleich sie nach dessen Darstellung von seiner radikalen politischen Einstellung wussten (s. Bd. XII, S. 310). Der Vater hortete Schlagringe, Macheten sowie Pistolen und bewahrte eine NSDAP-Mitgliedsnadel des Großvaters unter dem Bett auf. Im Keller lagerte er einen Stromgenerator, ein Gerät zur Trinkwasseraufbereitung und einen Gaskocher (s. insgesamt Bd. Aktenvorlage Haftbeschwerde, S. 55 f.). Ein Zeuge hat ihn als rechtsradikal beschrieben (Akten Beantragung neuer HB, Bd. I, Unterband 1, S. 6). Die Mutter soll Sorge davor geäußert haben, dass der Beschuldigte immer mehr so werde wie sein Vater (Akten Beantragung neuer HB, Bd. I, Unterband 1, S. 15).

Sein ehemaliges schulisches Umfeld ist dem Beschuldigten ausweislich seiner Aufzeichnungen (s. etwa den “ „, Bd. XII, S. 234 ff.) verhasst. Engere Freundschaft pflegte er zu niemandem. Emotional verbunden fühlte er sich nur seinen imaginären rechtsextremistischen „Kameraden“ und der virtuellen Figur Morityu, die einem Computerspiel entstammt, in dem der Spieler in Gestalt eines Mädchens einen Amoklauf an einer Schule begeht (s. die umfangreiche Schrift „Ich liebe nur Dich Morityu“, Bd. XII, S. 434 ff.). Damit fehlt es an jeglichen außerfamiliären Bezugspersonen.

Zukunftspläne oder Bildungswünsche hat der Beschuldigte bisher nicht geäußert. Nach seiner Vorstellung sollte sein Leben am 13. Mai 2022 durch einen sogenannten suicide by cop enden.

Ein fluchthemmender Umstand, die ursprünglich nach § 34c PolG NRW angeordnete elektronische Fußfessel, ist nach dem erfolgreichen Rechtsmittel des Verteidigers ebenfalls nicht mehr gegeben.

4. Eine einstweilige Unterbringung in einem geeigneten Heim der Jugendhilfe nach § 71 Abs. 2 JGG zur Untersuchungshaftvermeidung kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil die Jugendgerichtshilfe keinen freien Platz in einer entsprechenden Einrichtung anbieten kann. Die Mitarbeiter der derzeit einzigen zur Verfügung stehenden Institution “ “ haben die Aufnahme des Beschuldigten nach einem Gespräch mit ihm abgelehnt, weil er wenig Reue zeige, gefühllos und nicht authentisch sei (Bd. Aktenvorlage Haftbeschwerde, S. 72).“

Corona I: Streichung der U-Haft-„Aufschlusszeiten“, oder: Wie muss das Ermessen ausgeübt werden?

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In die 41. KW. starte ich dann mal wieder mit zwei „Corona-Entscheidungen“. Die mit der Pandemie zusammenhängenden Fragen werden angesichts der steigenden Zahlen in der nächsten zeit sicherlich wieder an Bedeutung zunehmen.

Ich beginne hier mit dem OLG Hamburg, Beschl. v. 10.06.2022 – 1 Ws 16/22. Er behandelt eine Problematik, die in der „Anfangszeit“ der Pandemie in Haftanstalten eine größere Rolle gespielt hat, nämlich die Frage einer (zu) umfassenden Einschlussregelung. So auch hier. Die Hamburger Untersuchungshaftanstalt hatte sämtliche sog. Aufschlusszeiten gestrichen. Dagegen hat sich der U-Haft-Gefangene gewehrt. Das OLG nimmt dann im Juni 2022 (!) zum fortwirkenden Feststellungsinteresse – inzwischen ist die angefochtene Entscsheidungen aufgehoben – und zur Frage des Ermessensgebrauchs durch die JVA Stellung, und zwar zu letzterem wie folgt:

„bb) Nach dieser Maßgabe hat die UHA das ihr in § 42 Abs. 6 HmbUVollzG eingeräumte Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt.

(1) Im Rahmen der ihr eingeräumten Ermessensspielräume hat die Justizvollzugsanstalt die Grundrechte und Bedürfnisse der Gefangenen, insbesondere nach Interaktion mit Mitgefangenen, und die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in der Justizvollzugsanstalt zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen (vgl. OLG Naumburg, Beschl. v. 29.08.2019 – 1 Ws (s) 269/19 – juris, Rn. 16; OLG Celle, Beschluss vom 03. März 1981 ? 3 Ws 410/80?, NStZ 1981, 238). Bei der Anwendung der Vorschriften des Untersuchungshaftrechts hat sie dabei stets der besonderen Stellung Untersuchungsgefangener und dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb lediglich unvermeidlichen Beschränkungen unterworfen werden darf (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Januar 2008 – 2 BvR 1229/07 –, juris; BVerfG, Beschluss vom 6. April 1976 – 2 BvR 61/76 –, NJW 1976, 1311; Beschluss vom 31. August 1993 – 2 BvR 1479/93 –, NStZ 1994, 52; Beschluss vom 30.Oktober 2014 – 2 BvR 1513/14 –, NStZ-RR 2015, 79, 80). Untersuchungsgefangene sind gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 HmbUVollzG so zu behandeln, dass der Anschein vermieden wird, sie würden zur Verbüßung einer Strafe festgehalten. Vor diesem Hintergrund erlangen die Grundrechte der Gefangenen ein erhöhtes Gewicht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 28.10.2012 – 2 BvR 737/11BVerfGK 20, 107, 113). Als Konsequenz hieraus hat die Justizvollzugsanstalt u.a. den in § 5 Abs. 1 S. 1 HmbUVollzG zum Ausdruck gebrachten Angleichungsgrundsatz zu beachten und möglichst darauf hinzuwirken, dass Untersuchungsgefangene eine angemessene Zeit des Tages außerhalb ihrer Hafträume verbringen können (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.10.2012 – 2 BvR 736/11BVerfGK 20, 93, 101).

(2) Den vorgenannten Anforderungen hat die UHA nicht genügt. Die einschlägigen Rechte und Interessen der Gefangenen haben bei ihrer Entscheidung keine ausreichende Berücksichtigung gefunden.

(a) Insoweit kann dahinstehen, auf welchen Zeitpunkt es bei der Prüfung der Ermessensentscheidung ankommt und ob und inwieweit die UHA im gerichtlichen Verfahren Gründe nachschieben kann.

(b) Denn jedenfalls genügen die Erwägungen der UHA auch unter Berücksichtigung der erst im Laufe des gerichtlichen Verfahrens geäußerten Überlegungen nicht den Anforderungen an eine fehlerfreie und vollständige Ermessensentscheidung.

Der gebotenen Berücksichtigung des Bedürfnisses der Gefangenen an Interaktion und internen Freiräumen kam im vorliegenden Fall besonderes Gewicht zu. Die Auswirkungen der Anordnung für die Gefangenen ähnelten einer Einzelhaft, die als besondere Sicherungsmaßnahme in § 54 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 3 HmbUVollzG spezifisch geregelt ist und einen schweren Eingriff in Grundrechte bewirkt (vgl. BVerfGK 20, 93, 103).

Die deswegen gebotene hinreichende Abwägung mit den Interessen der Gefangenen hat ausweislich der von der UHA mitgeteilten Erwägungen nicht stattgefunden. Die Begründung der UHA erschöpft sich auch in den nachgeschobenen Erwägungen in der Rechtfertigung der Maßnahme mit dem Infektionsschutz und der sich aus § 36 Abs. 1 Nr. 6 IfSG ergebenden Pflicht der Behörde zur Festlegung innerbetrieblicher Verfahrensweisen zur Infektionshygiene. Zwar hat die Anstaltsleitung hierzu weiter ausgeführt und erläutert, warum nach ihrer Auffassung mildere Mittel nicht in Betracht kämen. Bezüglich der beeinträchtigten Rechte der Gefangenen hat sie dagegen lediglich pauschal darauf verwiesen, dass diese durch die Anordnung gewahrt seien. Ihre Ausführungen lassen nicht erkennen, dass sie sich in ihrer Abwägung der entgegenstehenden Belange eingehend mit den konkret beeinträchtigten Grundrechten der Betroffenen und deren Gewicht auseinandergesetzt und hierbei insbesondere den Angleichungsgrundsatz und die Sonderstellung von Untersuchungsgefangenen berücksichtigt hat. Stattdessen waren die Überlegungen der UHA einseitig darauf ausgerichtet, dem Infektionsgeschehen entgegenzuwirken. Wenngleich dies im Ansatz richtig und dem Sinne des Gesetzes entsprechend war, hätte die UHA in einem zweiten Schritt vor dem Hintergrund der besonders schwerwiegenden Grundrechtseingriffe erwägen müssen, ob und inwieweit zumindest in Grenzen eine Konkordanz mit den Rechten der Gefangenen möglich und vertretbar gewesen wäre. Die UHA hätte sich hierzu näher verhalten und zusätzlich prüfen müssen, ob alternative Konzepte umsetzbar gewesen wären, die zumindest einen kürzeren und eingeschränkten Kontakt zu anderen Gefangenen ermöglicht hätten und hierbei zu einem derart geringen Restrisiko für Belange des Gesundheitsschutzes geführt hätten, dass die rechtlichen geschützten Interessen der Gefangenen dessen Hinnahme als noch vertretbar und damit gerechtfertigt hätten erscheinen lassen.

Dies wäre, soweit ersichtlich, nach Lage der Dinge jedenfalls für geimpfte und genesene Gefangene wie den Beschwerdeführer nicht ausgeschlossen gewesen. Den Versuch eines Interessenausgleichs hätte die UHA etwa durch die Prüfung der Frage unternehmen können, ob dem Grundbedürfnis an Kommunikation zumindest durch ein Minimum an zusätzlichen Freiräumen hätte entsprochen werden können. Zu denken gewesen wäre an deutlich verkürzte Öffnungszeiten, zu denen jeweils nur wenige Gefangene – bei Aufteilung in feste Gruppen – die Gelegenheit zu intern freier Bewegung gehabt hätten. Die Pflicht zur Tragung von Masken hätte in diesem verminderten Rahmen eher mit dem zur Verfügung stehenden Personal überwacht werden können; ihre Durchsetzung hätte durch den Verlust der Vergünstigung erfolgen können. Soweit die UHA in diesem Zusammenhang darauf verwiesen hat, dass eine unterschiedliche Behandlung von Gefangenen („Binnendifferenzierung“) die Einrichtung einer abgetrennten Station erfordert hätte und dies aufgrund der räumlichen Gegebenheiten nicht möglich gewesen wäre, weil dies dazu geführt hätte, dass Plätze auf dieser Station nicht voll hätten belegt werden können, falls nicht ausreichend geimpfte oder genesene Gefangene vorhanden gewesen wären, erscheinen die Überlegungen aus sich heraus nicht nachvollziehbar. Insbesondere ist nicht erkennbar, warum nicht einzelne Gefangene auf einer sonst (zeitweise) geöffneten Station im Einschluss hätten verbleiben können.

Ob die entsprechenden Überlegungen zu einem Interessenausgleich, wie von der Generalstaatsanwaltschaft vertreten, notwendig zu Ausnahmen von der Einschlussregelung hätten führen müssen, weil letztere andernfalls unverhältnismäßig wäre, kann hier dahinstehen. Ein Ermessensfehler liegt alleine schon darin, dass die UHA das Gewicht der Gefangenenrechte und dementsprechend ihre Bedeutung bei der Ermessensausübung verkannt hat.“