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Wiedereinsetzung II: Selbstvertretung des Anwalts, oder: Elektronische Übermittlung und Verschulden

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Im zweiten Posting geht es jetzt um den OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 16.08.2024 – 2 W 59/22 – und in dem u.a. um die Frage, ob der sich selbst vertretende Rechtsanwalt bei Beschwerden nach GKG den Weg der elektronischen Übermittlung wählen muss und wann ggf. Wiedereinsetzung zu gewähren ist.

Das OLG hat die Frage der Erforderlichkeit der elektronischen Übermittlung bejaht. Hier der Leitsatz der Entscheidung, die umfangreiche Begründung dann bitte im Volltext lesen:

Ein Rechtsanwalt, der in eigener Sache als Rechtsanwalt ein Berufungsverfahren in einem WEG-Verfahren durchführt, und – nach Zurückweisung seiner Berufung durch das LG nach § 522 Abs. 2 ZPO – in einem Beschwerdeverfahren gegen die Festsetzung des Gebührenstreitwerts erneut in eigener Sache als Rechtsanwalt auftritt, ist zur elektronischen Übermittlung von Schriftsätzen an das Gericht verpflichtet.

Und zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die das OLG verwehrt hat, führt es aus:

„B. Dem Kläger war auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen des Versäumens der Beschwerdefrist nach § 68 Abs. 2 S. 1 GKG zu gewähren. Nach dieser Vorschrift ist dem Beschwerdeführer, wenn er ohne sein Verschulden verhindert war, die Frist einzuhalten, auf Antrag von dem Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er die Beschwerde binnen zwei Wochen nach der Beseitigung des Hindernisses einlegt und die Tatsachen, welche die Wiedereinsetzung begründen, glaubhaft macht.

1. Zunächst ist das Oberlandesgericht als Gericht, das über die Beschwerde zu entscheiden hat, zuständig (vgl. NK-GK/Norbert Schneider, 3. Auflage 2021, GKG § 68 Rn. 72; Binz/Dörndorfer/Zimmermann/Zimmermann, 5. Auflage 2021, GKG § 68 Rn. 13), so dass der Zurückweisung des Wiedereinsetzungsgesuchs durch das Landgericht im angefochtenen Beschluss keine Wirkung zukommt, sondern dies dahingehend auszulegen ist, dass das Landgericht der Beschwerde auch deshalb nicht abgeholfen hat, weil – was in der Sache zutreffend ist – ein Wiedereinsetzungsgrund nicht besteht.

2. Der gesetzlich („auf Antrag“) vorgesehene Wiedereinsetzungsantrag des Klägers wurde am 26.09.2022 gestellt und beim Ausgangsgericht angebracht (vgl. hierzu NK-GK/Norbert Schneider, 3. Aufl. 2021, GKG § 68 Rn. 66, 71). Dass der Antrag innerhalb von zwei Wochen nach Beseitigung des Hindernisses gestellt wurde, kann zugunsten des Klägers unterstellt werden, denn nach dem Vorbingen des Klägers war sein beA nach De- und Neuinstallation am 10.09.2022, einem Samstag, wieder betriebsbereit, so dass zu diesem Zeitpunkt das Hindernis beseitigt war, und die zwei Wochen Frist zu laufen begann und sich die Frist, da das Fristende auf einen Samstag, den 24.09.2022 fiel, bis zum 26.09.2022 verlängerte.

3. Allerdings ist der Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung vom 26.09.2022 gleichwohl unzulässig. Weder wurde der Antrag als elektronisches Dokument übermittelt, noch wurden innerhalb der Frist die Tatsachen, die die Wiedereinsetzung begründen sollen, glaubhaft gemacht.

Der Wiedereinsetzungsantrag war als elektronisches Dokument einzureichen. Auf die obigen Ausführungen zur Beschwerde, die hier entsprechend gelten, wird verwiesen. Der Kläger hat den Wiedereinsetzungsantrag lediglich per Telefax übermittelt. Ein Hinweis an den Kläger auf den Formverstoß konnte nicht mehr erfolgen, da der Antrag erst am Tag des Fristablaufs um 23:41 Uhr beim Landgericht einging (Bl. 582).

Ein Ausnahmefall, in dem eine Übermittlung eines Schriftsatzes nach den allgemeinen Vorschriften zulässig gewesen wäre, liegt nicht vor. Gemäß § 130d S. 2 ZPO ist dies nur zulässig, wenn die Übermittlung eines elektronischen Dokuments aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich ist. Dem liegt die Überlegung des Gesetzgebers zugrunde, dass die zwingende Benutzung des elektronischen Rechtsverkehrs nicht gelten kann, wenn die Justiz aus technischen Gründen nicht auf elektronischem Weg erreichbar ist. Dabei soll es keine Rolle spielen, ob die Ursache für die vorübergehende technische Unmöglichkeit in der Sphäre des Gerichts oder in der Sphäre des Einreichers zu suchen ist. Denn auch ein vorübergehender Ausfall der technischen Einrichtungen des Rechtsanwalts soll dem Rechtsuchenden nicht zum Nachteil gereichen (vgl. KG, Beschluss vom 25.02.2022 – 6 U 218/21, Rn. 14, juris; BT-Drs. 17/12634, 27).

Selbst wenn man zugunsten des Klägers unterstellt, dass sein beA am 26.09.2022 erneut nicht funktionierte, mithin eine Übermittlung aus technischen Gründen wieder nicht möglich war, ist eine Glaubhaftmachung weder bei der Ersatzeinreichung erfolgt noch unverzüglich danach (§ 130d S. 3 Hs. 1 ZPO). Die Aufforderung nach Hs. 2 bezieht sich allein auf die Nachreichung des elektronischen Dokuments.

Bei der Ersatzeinreichung des Wiedereinsetzungsantrags erfolgt keine Darlegung, dass das beA des Klägers nicht funktionierte, der Kläger hat hierzu überhaupt keine Ausführungen gemacht.

Der Kläger hat auch nicht unverzüglich danach dargelegt, dass sein beA nicht funktionierte. Unverzüglich im Sinne der in § 121 Abs. 1 S. 1 BGB enthaltenen Legaldefinition ist als „ohne schuldhaftes Zögern“ auszulegen, wobei anders als bei § 121 BGB aber keine gesonderte Prüfungs- und Überlegungsfrist zu gewähren ist, sondern der Rechtsanwalt die Glaubhaftmachung abzugeben hat, sobald er Kenntnis davon erlangt, dass die Einreichung an einer technischen Störung gescheitert ist, und er zu einer geschlossenen Schilderung der tatsächlichen Abläufe oder Umstände in der Lage ist. Hierbei ist in die Abwägung einzustellen, dass nach dem Willen des Gesetzgebers die Glaubhaftmachung möglichst gleichzeitig mit der Ersatzeinreichung erfolgen und die Nachholung der Glaubhaftmachung auf diejenigen Fälle beschränkt sein soll, bei denen der Rechtsanwalt erst kurz vor Fristablauf feststellt, dass eine elektronische Einreichung nicht möglich ist und bis zum Fristablauf keine Zeit mehr verbleibt, die Unmöglichkeit darzutun und glaubhaft zu machen. Glaubhaft zu machen ist lediglich die technische Unmöglichkeit einschließlich ihrer vorübergehenden Natur, ohne dass es einer weiteren Sachverhaltsaufklärung über deren Ursache bedarf; es genügt eine (laienverständliche) Schilderung und Glaubhaftmachung der tatsächlichen Umstände, die beispielsweise mit Screenshots unterlegt werden kann, aber nicht zwingend muss (vgl. BGH, Beschluss vom 21.06.2023 – V ZB 15/22, juris, Rn. 21; Anders/Gehle/Anders, 82. Auflage 2024, ZPO § 130d Rn. 9a).

Bei Anwendung dieser Voraussetzungen erfolgte die Glaubhaftmachung nicht unverzüglich. Vielmehr wurde die Frist bei weitem überschritten, indem erst mit Schriftsatz vom 22.11.2022 überhaupt eine Glaubhaftmachung erfolgte, obwohl der Kläger nach seiner Darlegung am 26.09.2022 Kenntnis hatte, dass eine elektronische Einreichung nicht möglich war, und am Folgetag davon, dass das beA wieder funktionierte, so dass die Störung erneut nur vorübergehender Natur war, weil das beA wieder funktionierte.

Hinzu tritt, dass der Kläger Tatsachen, die die Wiedereinsetzung begründen sollen, im Antrag weder dargelegt noch glaubhaft gemacht hat. Der Kläger hat in seinem Wiedereinsetzungsantrag mit keinem Wort eine Störung seines besonderen elektronischen Anwaltspostfachs dargelegt, sondern nur vermeintliche Störungen beim Versand des Telefaxes an das Landgericht geschildert, was unerheblich ist, weil diese Einreichungsform unzulässig war und dem Kläger als Rechtsanwalt die gesetzlichen Vorschriften über die Übersendung elektronischer Dokumente hätten bekannt sein müssen.

7. Dem Kläger war auch auf seinen Antrag aus dem per Telefax übersandten Schriftsatz vom 07.10.2022 keine Wiedereinsetzung in die versäumte Wiedereinsetzungsfrist zu gewähren. Auch dieser Antrag entsprach nicht der Form des § 130d S. 1 ZPO als elektronisches Dokument. Die Voraussetzungen einer Ersatzeinreichung nach § 130 S. 2 ZPO liegen nicht vor, nachdem der Kläger dort erneut nur Probleme einer Übermittlung per Telefax thematisiert hat.“

Sichtung und Erhebung von Kipo-Datenmaterial, oder: Muss der Verurteilte die hohen SV-Kosten tragen?

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Ich hatte im Sommer den LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 17.06.2024 – 12 Qs 19/24 – vorgestellt (vgl. hier: Grobsichtung von Datenträgern in Kipo-Verfahren, oder: Wer trägt die Kosten?). In der Entscheidung hatte sich das LG nach einem sog. KiPO-Verfahren in Zusammenhang mit den zu Lasten des Angeklagten angefallenen Kosten mit der abrechenbaren Sachverständigenleistung für die Grobsichtung von Datenträgern befasst.

In der Entscheidung, in der das LG eine Kostentragungspflicht des verurteilten Angeklagten verneint hatte, hatte es eine OLG-Entscheidung erwähnt und sich darauf bezogen. Außerdem hatte es beklagt, dass das OLG seine Entscheidung nicht veröffentlicht hatte. Das war für mich Anlass, mir den OLG Nürnberg, Beschl. v. 10.08.2018 – 1 Ws 605/17 – zu besorgen. Ihn stelle ich heute vor. Das OLG führt zur Abgrenzung der abrechenbaren von der nicht abrechenbaren Sachverständigenleistung aus:

„b) Zu den Kosten des Verfahrens gehören gem. § 464a Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 StPO die Gebühren und Auslagen der Staatskasse, einschließlich derjenigen Kosten, die durch die Vorbereitung der öffentlichen Klage entstanden sind. § 3 Abs. 2 GKG verweist wegen der Kosten auf die in der Anlage 1 (Kostenverzeichnis) aufgeführten Gebühren und Auslagen. Gemäß Nr. 9015 KV GKG gehören zu den Auslagen der Staatskasse auch die unter Ziffer 9000 bis 9014 bezeichneten Kosten, soweit sie durch die Vorbereitung der öffentlichen Klage entstanden sind. Dies gilt demnach auch für die gemäß Nr. 9005 KV GKG nach dem Justizvergütungsgesetz (JVEG) zu zahlenden Beträge.

aa) Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hat gem. § 110 Abs. 3 StPO die Durchsicht und Auswertung der übersandten Datenträger auf die X. übertragen. Dies ist zulässig, da die Verantwortung für die abschließende Durchsicht durch die Staatsanwaltschaft gem. § 152 GVG sichergestellt ist (vgl. Meyer-Goßner, Schmitt, 60. Auflage, § 110, Rdnr. 2a und Rdnr. 3, und Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 10.01.2017, 2 Ws 441/16, abgedruckt in Juris).

bb) Die Firma X. trat insoweit nicht nur als reine Hilfskraft für die ermittelnden Behörden auf, sondern hatte den Auftrag, unabhängig und eigenverantwortlich ein Sachverständigengutachten zu erstellen; dessen Kosten sind in vollem Umfang durch den Verurteilten zu tragen.

Ein Sachverständiger hat die Aufgabe, dem Staatsanwalt die Kenntnis von Erfahrungssätzen zu übermitteln und gegebenenfalls aufgrund solcher Erfahrungssätze Tatsachen zu ermitteln. Bei der Sichtung und Erhebung von Datenmaterial liegt eine Sachverständigenaufgabe vor, wenn der Betreffende nicht nur eine reine Sichtung beschlagnahmter Unterlagen vornimmt, sondern unter Einsatz geeigneter – nicht jedermann zur Verfügung stehender – Rechenprogramme und des Fachwissens die ermittlungsrelevanten Tatsachen fest – und zusammenstellt (OLG Koblenz, Beschluss vom 16.07.2010, 1 Ws 189/10, NStZ-RR 2010, 359).

Ein Teilbetrag der Rechnung beruht auf der Sichtbarmachung der kinderpornographischen Schriften und Dateien, bei der auch versteckte, wiederherstellbar gelöschte, archivierte und teilweise überschriebene Dateien in die Sichtung miteinbezogen wurden. Das Landgericht hat zutreffend die Auswertung der Datenträger und die technische Umsetzung beschrieben. Die beauftrage Firma hat – mit Hilfe spezieller Software – das PC-System ausgewertet und mittels Bilderfilter und spezieller Filmsoftware eine immense Menge an Bilddateien mit kinderpornographischem Inhalt und Videodateien festgestellt. Dies erfordert – entgegen der Einschätzung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in seiner Entscheidung vom 10.01.2017, Az. 2 Ws 441/16 (abgedruckt in NStZ-RR 2017, 127 f) – mehr Fachwissen als eine reine technische Unterstützung bei der Wiederherstellung von Dateien (vgl. BGH Beschluss vom 02.03.2011, 2 StR 275/10, StV 2011, 483).

Gleichzeitig war die Firma X.im Konkreten beauftragt, aus der Gesamtmenge der Dateien die Dateien, die kinder – bzw jugendpornographischen Inhalt haben, aufzufinden. Dafür musste eine Durchsicht sämtlicher, mittels des Bilderfilters festgestellter Bilder und hinsichtlich der Videos eine Ansicht jedes Videos erfolgen; für die Frage der Einordnung musste eine Voreinschätzung getroffen werden, die nur mit inhaltlichem Fachwissen realisiert werden kann. Insoweit war die Firma X. unabhängig und eigenverantwortlich tätig. Der dort tätige Gutachter hat deshalb erklärt, eine „auf seinen Erfahrungen im Bereich der Gutachtenserstellung zur Verbreitung bzw. Besitz von kinderpornographischen Schriften beruhende persönliche Einschätzung“ getroffen habe. Durch die Sichtbarmachung der Dateien hat die Firma X. dem Staatsanwalt die Möglichkeit verschafft, Tatsachen zu ermitteln und diese dann rechtlich selbst einzuordnen. Insoweit hat auch diese Dienstleistung die Qualität eines Sachverständigengutachtens, die darauf entfallenen Kosten sind ebenfalls vom Verurteilten zu tragen.

Eine Vergleichbarkeit zu dem der Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 10.01.2017 zugrunde liegenden Sachverhaltes besteht damit nicht; die im vorliegenden Fall eingesetzte Firma X. hat mehr als eine technische Sichtbarmachung von Datenmaterial und mehr als eine technisch bedingte Vorsortierung von Datenmaterial, welches dann von Polizei und Staatsanwalt gesichtet und bewertet wird, vorgenommen, sodass die entsprechenden Kosten hier eben nicht mit der Verfahrensgebühr nach dem GKG abgegolten sind.“

OWi III: Alter Wein in neuen (Anwalts)Schläuchen, oder: OLG Brandenburg zu alter AG-Rechtsprechung

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Und dann habe ich hier noch eine Entscheidung des OLG Brandenburg, die mich etwas verwundert. Allerdings dieses Mal nicht wegen der Auffassung des OLG sondern wegen des Inhalts des Anwaltsvortrags, mit dem sich das OLG befasst. Ich weiß zwar nicht, was genau der Verteidiger vorgetragen hat, aber besonders aktuell kann es nicht gewesen sein.

Das OLG führt in dem OLG Brandenburg. Beschl. v. 23.09.2024 – 1 ORbs 242/24 – nämlich aus:

„Auf den Anwaltsschriftsatz vom 13. September 2024 ist ergänzend anzumerken, dass das Tatgericht die Ausführungen des Betroffenen im Anwaltsschriftsatz vom 26. Juni 2024 sehr wohl zur Kenntnis genommen und es sich in den Urteilsgründen auch mit maßgeblichen Aspekten der Verteidigungsschrift auseinander gesetzt hat (S. 5 ff. UA).

Entgegen der Auffassung des Betroffenen im Anwaltsschriftsatz vom 26. Juni 2024 musste sich dem Amtsgericht Brandenburg an der Havel eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung der pfälzischen Amtsgerichte, insbesondere der des Amtsgerichts Landstuhl vom 3. Mai 2012 (vgl. S. 2 Anwaltsschriftsatz), der die Entscheidung des Amtsgerichts Kaiserslautern vom 14. März 2012 (6270 Js 9741/11.1 OWi, abgedruckt in: ZfSchR 2012, 407 f.) voraufgegangen ist, nicht aufdrängen, da diese Gerichte die Einheitlichkeit der Rechtsprechung nicht tragen. Das gilt umso mehr als die Entscheidung des Amtsgerichts Kaiserslautern vom 14. März 2012 (6270 Js 9741/11.1 OWi, abgedruckt in: ZfSchR 2012, 407 f., dem sich das Amtsgericht Landstuhl angeschlossen hatte, vgl. Urteil vom 3. Mai 2012, 4286 Js 12300/10 OWi) durch das pfälzische Oberlandesgericht Zweibrücken mit Beschluss vom 19. Oktober 2012 (1 Ss Bs 12/12) längst aufgehoben worden ist, und zwar hinsichtlich des Aspektes, den die Verteidigung nun geltend zu machen sucht.

Hinsichtlich der in der Rechtsbeschwerdebegründung zitierten Entscheidung des Amtsgerichts Meißen vom 29. Mai 2015 (13 OWi 703 Js 21114/14, abgedr. bei juris) ist anzumerken, dass diese fehlerhaft ist. Die dort vertretene Auffassung, dass das Messverfahren eine zu geringe Anzahl an Messwerten generiere, um ein charakteristisches Helligkeitsprofil zu erstellen, beruht auf einem gravierenden Missverständnis bezüglich der Funktionsweise und Messwertbildung im genannten Verfahren. Nach der Stellungnahme der PTB vom 12. Januar 2016 geht das Amtsgericht Meißen fehlerhaft von der Annahme aus, die Sensoren würden ihren Erfassungsbereich nur etwa alle 10 Millisekunden abtasten. Tatsächlich bestehe – wie aufgrund der detaillierten Analysen der Funktionsweise der Messwertbildung worden war – ein zeitlicher Abstand zwischen den Abtastwerten von 10 Mikrosekunden. Daraus resultiere eine um den Faktor 1000 höhere Anzahl an Abtastwerten, die der Geschwindigkeitsmessung zugrunde liege, als in der Urteilsbegründung ausgeführt ist. Bezogen auf eine Strecke von 3,00 m ergäben sich damit nicht – wie vom Amtsgericht Meißen angenommen – 10 Abtastwerte, sondern vielmehr eine Anzahl von 10.800 Abtastwerten. Die Feststellung des Amtsgerichts Meißen, dass für die Ermittlung eines charakteristischen Helligkeitsprofils durch das streitgegenständliche Gerät zu wenige Abtastwerte ermittelt würden, ist vor diesem Hintergrund nicht haltbar. Damit ist dem tragenden Argument der Entscheidung des Amtsgerichts Meißen die Grundlage entzogen (vgl. dazu ausführlich OLG Oldenburg, Beschluss vom 18. April 2016, 2 Ss (OWi) 57/16, zit. n. juris, dort Rdnr. 14 ff.). Soweit mit Anwaltsschriftsatz vom 4. August 2024 die PTB-Stellungnahme bestritten wird, ist anzumerken, dass es sich um eine Ergänzung des antizipierten Sachverständigengutachtens der Bauartzulassung des Geschwindigkeitsmessgerätes handelt. Die Stellungnahme der VUT-Verkehr GmbH & Co. KG vom 26. Januar 2016 hat die PTB-Stellungnahme vom 12. Januar 2016 „vom reinen Zahlenwert her [als] zutreffend“ (dort S. 4) bestätigt, was der Entscheidung des Amtsgerichts Meißen die Grundlage entzieht (OLG Oldenburg a.a.O., Rdnr. 19 ff.).“

 

Pflichti II: OLG bejaht rückwirkende Bestellung, oder: Beiordnungsgrund „Gesamtstrafe“

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Und als zweite Entscheidung dann noch eine weitere OLG-Entscheidung, nämlich der OLG Zweibrücken, Beschl. v. 11.09.2024 – 1 Ws 208/24 -, der sich noch einmal mit dem Beiordnungsgrund „Schwere der Rechtsfolge“ in den Gesamtstrafenfällen befasst und zur Zulässigkeit der Rückwirkung – ohne viel Worte 🙂 Stellung nimmt:

2. Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Grundsätzlich ist eine rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers möglich (OLG Bamberg (1. Strafsenat), Beschluss vom 29.04.2021 – 1 Ws 260/21, OLG Nürnberg, Beschluss vom 06.11.2020 – Ws 962/20, Ws 963/20; MüKo-StPO § 142 Rn. 14). Die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers (bezogen auf den Zeitpunkt der Antragsstellung) setzt jedoch voraus, dass die sachlichen Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers vorlagen und der Antrag auf Bestellung noch vor dem Abschluss des Verfahrens erfolgte (OLG Bamberg aaO.).

Vorliegend wurde der Antrag auf Beiordnung durch den Angeklagten zeitlich vor der (vorläufigen) Einstellung durch das Landgericht gestellt; jedoch lagen die Voraussetzungen für eine Beiordnung nach § 140 StPO nicht vor.

a) In dem Verfahren selbst liegen keine Umstände vor, die eine Verteidigung als notwendig erscheinen lassen. Die Schwere der angeklagten Tat begründet eine solche Notwendigkeit für sich genommen nicht. Maßgeblich für die Beurteilung ist vor allem die zu erwartende Rechtsfolgenentscheidung. Meist wird angenommen, dass die Erwartung von 1 Jahr Freiheitsstrafe die Grenze bildet, ab der regelmäßig Anlass zur Beiordnung besteht (Meyer-Goßner, StPO, § 140 Rn 23a mwN). Gegenstand des Verfahrens ist eine Unterhaltspflichtverletzung. Der Angeklagte wurde deswegen erstinstanzlich durch das Amtsgericht Speyer zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 40 EUR verurteilt. Da gegen das Urteil lediglich der Angeklagte Berufung eingelegt hatte, war eine härtere Strafe nach § 331 StPO ausgeschlossen.

b) Auch der Umstand, dass aus der Strafe im vorliegenden Verfahren und aus der Strafe, die in dem gesonderten Verfahren gegen den Angeklagten zu erwarten ist, voraussichtlich eine Gesamtstrafe von mehr als 1 Jahr zu bilden sein wird, rechtfertigt es nicht, wegen der Schwere der Tat einen Fall notwendiger Verteidigung i.S. von § 140 Abs. 2 StPO anzunehmen.

Die Vorschriften der StPO über die notwendige Verteidigung und die Bestellung eines Verteidigers stellen sich als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verhandlungsführung dar. Der Beschuldigte muss die Möglichkeit haben, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Dazu gehört auch, dass ein Beschuldigter der die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufzubringen vermag, in schwerwiegenden Fällen von Amts wegen und auf Staatskosten einen rechtskundigen Beistand (Verteidiger) erhält (BVerfG, Beschluss vom 19.10.1977 – 2 BvR 462/77 – juris Rn 31; Meyer-Goßner; StPO, § 140 Rn 1). Bei der Bewertung, ob ein solcher schwerwiegender Fall vorliegt, ist auch die Gesamtwirkung der Strafe zu berücksichtigen. Hierzu gehören auch sonstige schwerwiegende Nachteile, die der Angeklagte infolge der Verurteilung zu befürchten hat, wie etwa ein drohender Bewährungswiderruf. Nach verbreiteter Auffassung gehören hierzu auch weitere gegen den Angeklagten anhängige Strafverfahren, in denen es zu einer Gesamtstrafenbildung kommen kann (OLG Hamm, StV 2004, 586; KG, Beschluss vom 13.12.2018 – 3 Ws 290/18121 AR 260/18, KK-StPO/Willnow StPO § 140 Rn. 27, 27a).

Hierbei bedarf es allerdings einer gründlichen Prüfung des Einzelfalls, ob andere Verfahren und die Erwartung späterer Gesamtstrafenbildung das Gewicht des abzuurteilenden Falles tatsächlich so erhöhen, dass die Mitwirkung eines Verteidigers geboten ist (OLG Stuttgart, Beschluss vom 02.03.2012 – 2 Ws 37/12).

Diese Voraussetzungen liegen hier ersichtlich nicht vor. Das vorliegende Verfahren selbst bietet – wie dargelegt – kein Anlass zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers. In dem weiteren Verfahren gegen den Angeklagten wird ihm der Vorwurf des bewaffneten Handeltreibens gemacht, wofür § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG eine Mindestfreiheitsstrafe von 5 Jahren vorsieht. Selbst bei Annahme eines minder schweren Falles läge der Strafrahmen nicht unter 1 Jahr Freiheitsstrafe. Die Einstellung des vorliegenden Verfahrens lag daher nahe, was von dem Angeklagten auch beantragt wurde. Selbst im Falle einer Gesamtstrafenbildung wäre lediglich eine geringfügige – für den Angeklagten nicht wesentlich ins Gewicht fallende – Erhöhung der in dem gesonderten Verfahren zu erwartende Strafe anzunehmen gewesen.

Zudem lagen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass durch eine im vorliegenden Verfahren gegebenenfalls zu verhängende Strafe im Rahmen einer späteren Gesamtstrafenbildung eine sonst mögliche Strafaussetzung zur Bewährung gefährdet werden könnte (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 06.01.2017, 4 Ws 212/16).“

Schön, dass sich das OLG zur Zulässigkeit der Rückwirkung äußert, obwohl es darauf ja gar nicht ankam.

Pflichti I: Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers, oder: Voraussetzungen und Ermessen des Vorsitzenden

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Und heute dann drei „Pflichti-Entscheidungen, also weniger als sonst 🙂 .

Zunächst kommt hier der OLG Naumburg, Beschl. v. 04.10.2024 – 1 Ws 424/24 – in dem das OLG noch einmal zu den Voraussetzungen für die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers Stellung nimmt.

Der Angeklagte ist im ersten Rechtsgang durch das Urteil des LG Magdeburg vom 12.12.2022 vom Vorwurf der gemeinschaftlich mit einem Mitangeklagten  begangenen versuchten Anstiftung zu einem Mord freigesprochen worden. Der BGH hat das das Urteil mit den Feststellungen aufgehoben und zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LG zurückverwiesen.

Bereits am 02.12.2021 war dem Angeklagten Rechtsanwalt G. als Pflichtverteidiger bestellt worden. Im April 2024 bestimmte die Vorsitzende der nunmehr zuständigen Schwurgerichtskammer – zehn Hauptverhandlungstermine vom 10.09.2024 bis zum 26.11.2024. Weitere drei Hauptverhandlungstermine bis zum 20.12.2024 blieben vorbehalten.

Mit Schreiben seines Verteidigers Rechtsanwalt G. vom 26.07.2024 beantragte der Angeklagte, ihm Rechtsanwalt S. als weiteren Pflichtverteidiger zu bestellen. Der wurde mit Beschluss vom 03.09.2024 bestellt. Dagegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer sofortigen Beschwerde, die keinen Erfolg hatte.

Das OLG referiert zunächst noch einmal die Grundsätze der obergerichtlichen Rechtsprechung zu Bestellung eines weiteren Verteidigers gem. § 144 Abs. 1 StPO. Es stellt sowohl die Voraussetzungen für die Bestellung als auch den im Beschwerdeverfahren nicht voll überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum des entscheidenden Vorsitzenden vor. Das ist nichts Neues, so dass ich auf den verlinkten Volltext verweisen kann.

Zur konkreten Sache heißt es dann:

„3. Daran gemessen ist der angefochtene Beschluss nicht zu beanstanden.

Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO liegt vor. Auch ist weder ersichtlich, dass die Kammervorsitzende von einem falschen Sachverhalt als Entscheidungsgrundlage ausgegangen ist, noch dass sie die maßgeblichen Tatbestandsmerkmale des § 144 Abs. 1 StPO fehlerhaft angewendet hat oder sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen.

Die Vorsitzende hat bei ihrer Entscheidung auf die Ankündigung des bisherigen alleinigen Pflichtverteidigers in den Schriftsätzen vom 26. Juli 2024 und vom 13. August 2024 abgestellt, es seien Beweisanträge in einem solchen Umfang zu erwarten, dass zu befürchten sei, dass die bisher anberaumten und vorbehaltenen Hauptverhandlungstermine nicht ausreichend seien. Zudem hat sie zugrunde gelegt, dass der Pflichtverteidiger gerichtsbekannt in einer Vielzahl weiterer Verfahren tätig ist. Dies hatte dieser in den genannten Schriftsätzen ebenfalls mitgeteilt, verbunden mit der Ankündigung, dass es wegen seiner Einbindung in anderweitigen Strafverfahren bei der Bestimmung weiterer Hauptverhandlungstermine zu erheblichen Schwierigkeiten kommen könne.

Damit ist die Kammervorsitzende ersichtlich von der konkreten Gefahr ausgegangen, dass aus der laufenden Hauptverhandlung heraus nach dem 20. Dezember 2024 weitere Hauptverhandlungstermine anberaumt werden müssen, an denen der bisher alleinige Pflichtverteidiger jedoch aufgrund umfangreicher Terminskollisionen nicht teilnehmen kann. Da bereits jetzt Zeugen bis zum neunten Hauptverhandlungstag geladen sind und der Pflichtverteidiger umfangreiche Beweisanträge angekündigt und zudem eingeschätzt hat, dass aufgrund seiner – gerichtsbekannten – Einbindung in eine Vielzahl von Strafverfahren seine Teilnahme an weiteren anzuberaumenden Hauptverhandlungsterminen fraglich ist, vermag der Senat in der Bewertung der Kammervorsitzenden, der spätere Ausfall des Pflichtverteidigers sei über eine abstrakt-theoretische Möglichkeit hinaus hinreichend wahrscheinlich, keinen Beurteilungsfehler zu erkennen.

Auch die – sich schlüssig aus der Begründung des angefochtenen Beschlusses ergebende – Bewertung der Kammervorsitzenden, die sachgerechte Verteidigung könne im Fall einer Verhinderung des Pflichtverteidigers nicht durch andere Maßnahmen gewährleistet werden, lässt einen durchgreifenden Beurteilungsfehler nicht erkennen. Angesichts der nach der Einschätzung der Kammervorsitzenden drohenden weitgreifenden Verhinderung des Pflichtverteidigers erschiene der Verweis auf die Bestellung eines Vertreters für einzelne Hauptverhandlungstage nicht sachgerecht. Der Umfang und die Schwierigkeit der Sache – wenn sie auch für sich genommen die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nach § 144 Abs. 1 StPO nicht rechtfertigt – lassen angesichts des damit verbundenen Einarbeitungsaufwandes auch die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erst im Zeitpunkt der tatsächlichen Verhinderung des bisherigen Pflichtverteidigers nicht ohne Weiteres ausreichend erscheinen.

Die Beurteilung der Kammervorsitzenden, es bestehe hier angesichts der Mitteilungen des Pflichtverteidigers vom 26. Juli 2024 und vom 13. August 2024 eine konkrete Gefahr für die zügige Durchführung eines ordnungsgemäß betriebenen Verfahrens, die die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers erfordert, ist damit vertretbar. Darauf, ob der Senat bei eigener Abwägung zu dem gleichen Ergebnis gekommen wäre, kommt es wegen der – wie dargelegt – eingeschränkten Prüfungskompetenz im Beschwerdeverfahren nicht an.

Auf der Grundlage dessen vermag der Senat im Rahmen der zu prüfenden Rechtsfolgeentscheidung – dies betrifft insbesondere den Umfang der Verteidigerbestellung – ebenfalls keinen Rechtsfehler bei der tatgerichtlichen Ermessensausübung zu erkennen. Auch insoweit kommt es nicht darauf an, ob der Senat eine gleichlautende Entscheidung getroffen hätte.“