Archiv für den Monat: Dezember 2022

BVerfG I: Keine Beschlagnahme nach 5 Jahren, oder: Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde

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Und dann der Start in die 51. KW, an deren Ende wir dann das Weihnachtsfest einläuten. Zum Start stelle ich dann mal wieder zwei BVerfG-Entscheidungen vor und beginne mit dem BVerfG, Beschl. v. 17.11.2022 – 2 BvR 827/21.

Es geht um eine Verfassungsbeschwerde, die sich sich gegen die Anordnung der Beschlagnahme zahlreicher Unterlagen und Ordner im Rahmen eines Strafverfahrens wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung richtet. Dem waren im April 2013, Juni 2014 und Dezember 2014 richterlich angeordnete Durchsuchungen vorausgegangen. In Vollzug dieser Durchsuchungsbeschlüsse wurden die später beschlagnahmten Gegenstände zur Durchsicht mitgenommen. Die Steuerfahndungsstelle ersuchte erst am 27.01.2020 die zuständige Staatsanwaltschaft, einen Antrag auf Beschlagnahme der Gegenstände zu stellen. Das AG ordnete daraufhin die Beschlagnahme mit Beschluss vom 31.01.2020 an, das LG wies die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschuldigten im April 2021 zurück.

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, was aber auf formellen Gründen beruht. Denn:

„Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Die Verfassungsbeschwerde ist bereits unzulässig. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht der in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommende allgemeine Grundsatz der Subsidiarität entgegen.

1. Nach dem Grundsatz der Subsidiarität soll der gerügte Grundrechtsverstoß nach Möglichkeit schon im fachgerichtlichen Verfahren beseitigt werden (vgl. BVerfGE 63, 77 <78>). Danach hat ein Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinn hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. BVerfGE 81, 22 <27 m.w.N.>). Die Verweisung auf die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde steht unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit einer anderweitigen prozessualen Möglichkeit zur Abhilfe (vgl. BVerfGE 134, 106 <115 f. Rn. 28 m.w.N.>).

2. Soweit der Beschwerdeführer seinen Einwand, dass die Sicherstellung (§ 110 StPO) unzumutbar lang angedauert habe, erstmals gegen die Beschlagnahmebeschlüsse vorgebracht hat, hat er nicht alle nach Lage des Verfahrens zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten genutzt, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken und die Grundrechtsverletzung zu verhindern. Denn ihm wäre es möglich und zumutbar gewesen, die Dauer der Sicherstellung im Wege eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung entsprechend § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO einer fachgerichtlichen Prüfung zu unterziehen (vgl. BVerfGK 1, 126 <133 f.>; 15, 225 <236 f.>).

Ein derartiger Antrag auf gerichtliche Entscheidung erschiene nicht offenkundig aussichtslos. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die Durchsicht zügig durchgeführt wird, um abhängig von der Menge des vorläufig sichergestellten Materials und der Schwierigkeit seiner Auswertung in angemessener Zeit zu einer Entscheidung darüber zu gelangen, was als potentiell beweiserheblich dem Gericht zur Beschlagnahme angetragen und was an den Beschuldigten herausgegeben werden soll (BGH, Beschluss vom 5. August 2003 – StB 7/03 -, juris, Rn. 16; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Januar 2002 – 2 BvR 2248/00 -, Rn. 11).

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Verfahrensweise der Ermittlungsbehörden erheblichen Bedenken ausgesetzt. Die Mitnahme der Gegenstände zur Durchsicht dauerte ohne einen erkennbaren sachlichen Grund mehr als fünf Jahre lang an. Das Fehlen eines sachlichen Grundes offenbart sich darin, dass die Staatsanwaltschaft und das Landgericht die Verfahrensweise offen als „bedauerliches Versehen“ bezeichnet haben. Eine solche Verfahrensweise dürfte mit dem Schutzzweck des § 110 StPO, eine übermäßige und auf Dauer angelegte Datenerhebung zu verhindern (vgl. BVerfGE 113, 29 <58>), kaum zu vereinbaren sein. Einen ebenso nicht unerheblichen Verfahrensverstoß dürfte es darstellen, dass die Steuerfahndung allem Anschein nach bereits Beweismittel ausgewertet hat. Dies ist ihr erst nach richterlicher Anordnung der Beschlagnahme gemäß § 94 Abs. 2 in Verbindung mit § 98 Abs. 1 Satz 1 StPO gestattet (vgl. Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 110 Rn. 2 m.w.N.). Dieser Umstand deutet darauf hin, dass grundlegende Verfahrensvorschriften verkannt wurden. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht fernliegend, dass ein mit der Prüfung befasstes Gericht die Dauer der Sicherstellung für unverhältnismäßig gehalten und diese aufgehoben hätte.“

Die Entscheidung bestätigt mal wieder: Der Weg nach Karlsruhe ist der letzte Schritt, der erst begangen werden kann/darf, wenn zuvor alle prozessualen Schritte im fachgerichtlichen Verfahren gegangen worden sind und nicht zum Erfolg geführt haben. Und dazu gehört dann eben bei einem Vorgehen gegen eine Beschlagnahme von Unterlagen nicht nur die Beschwerde zum LG sondern ggf. auch noch der Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen die Sicherstellung (§ 98 Abs. 2 Satz 2 StPO). Das gilt vor allem, wenn, was m.E. aus Entscheidung des BVerfG deutlich wird, die (vorläufige) Sicherstellung eindeutig zu lange – mehr als fünf Jahre () – gedauert und damit das Rechtsmittel wohl Erfolg gehabt hätte. Der Beschuldigte vergibt sich mit diesem Vorgehen ja auch nichts, denn: Denn sieht auch/schon das Fachgericht die Sicherstellung als zu lang und damit unverhältnismäßig an, hat er bereits auf dem Weg sein Ziel erreicht. Sieht das Fachgericht das nicht so, ist der Weg nach Karlsruhe ja nicht versperrt, sondern die Tür für eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde weit geöffnet

Sonntagswitz, zum „Welttag der Berge“ Witze zu/mit/um Berge

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So, was heute? Adventswitze hatte ich schon zweimal, also nicht schon wieder. Ihc habe daher mal wieder bei den „Gedenktagen“ geschaut. Und am letzten Sonntag, also am 11.12., war der „Welttag der Berge“. Das passr (noch). Daher gibt es heute Witze zu/mit Bergen, und zwar.

Ein Städter kommt in die Berge und fragt den Bauern, der Kühe weidet, nach der Uhrzeit. Darauf hebt der Bauer das Euter der Kuh und sagt: „Zwölf!“

„Donnerwetter“, staunt der Städter, an dem Gewichts des Euters können Sie genau feststellen, wie spät es ist!“

„Nein, sagte der Bauer, wenn ich das Euter anhebe, kann ich die Kirchturmuhr sehen!“


Treffen sich zwei Freunde. Sagt der eine: „Hast du morgen schon was vor?“

„Ja, ich fahre ins Grüne und lasse mit meinem Sohn einen Drachen steigen. Und du?“

„Etwas Ähnliches. Ich mache mit meiner Schwiegermutter eine Bergtour.“


Beim Sportunterricht liegen alle auf dem Rücken und fahren Rad. „He Florian! Warum machst du nicht mit? Du liegst ja ganz ruhig da!“, schimpft der Lehrer.

„Sehen Sie nicht. Ich fahre gerade bergab!“


Was ist weiß und stört beim Essen?

Eine Lawine!

Wochenspiegel für die 50. KW., das war H.Kohls Witwe, KI, GPS , Plaudertaschen beim GBA und aufgedeckte Tat

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Und hier dann der Wochenspiegel für die 50. KW. Wenn man den 5-Zehner bei der Wochenzahl erreicht, dann weiß man: Das Jahr neigt sich nun wirklich bald dem Ende zu und es geht dann auf ins Neue Jahr. Mich hatte es dann diese Woche dann doch auch erwischt. Covid-19-Infektion, aber milder Verlauf, es geht allmählich schon wieder. Also: Glück gehabt.

Und hier dann die Beiträge aus den den anderen Blogs, auf die ich in dieser Woche hinweisen möchte:

  1. BVerfG: Ansprüche auf Geldentschädigung wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts sind nicht vererblich – Vermächtnis – Die Kohl-Protokolle
  2. Hinweisgeberschutzgesetz: Was kommt auf Unternehmen zu?,

  3. Wie kann man sich „Künstlicher Intelligenz“ nähern?
  4. Online-Marketing speziell für Rechtsanwälte – das sagt die KI,
  5. OLG Frankfurt a.M.: Zur Strafbarkeit wegen Volksverhetzung bei Bild-Text-Collagen auf Facebook
  6. GPS-Überwachung am Firmenfahrzeug kein Menschenrechtsverstoß,

  7. Die letzte Generation – Die Rechtfertigung von oder gegen Klima-Aktivisten, Teil 2,

  8. Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof (GBA) – ein Plaudertaschenverein?,

  9. Datenschutzorganisation – Das magische Dreieck,

  10. und dann aus meinem Blog: Durchsuchung II: Gibt es ein Beweisverwertungsverbot, oder: Gefahr im Verzug, wenn die Tat aufgedeckt ist

Ausweichen eines Motorradfahrers vor Rehwild, oder: Rettungskostenersatz

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In der zweiten Entscheidung, dem OLG Saarbrücken, Urt. v. 23.11.2022 – 5 U 120/21 – nimmt das OLG zum sog. Rettungskostenersatz nach Ausweichen eines Motorradfahrers vor Rehwild Stellung.

Der Kläger macht gegen die beklagte Fahrzeugversicherung Ersatz für Schäden anlässlich eines (angeblichen) Wildunfalles geltend.

Der Kläger was am 07.09.2020 der Kläger mit seinem Sohn auf einem bei der Beklagten versicherten Motorrad in Frankreich unterwegs, wobei es zu einem Unfall kam und das Motorrad beschädigt wurde. Der Kläger hat mit seiner Klage Ersatz der Netto-Reparaturkosten für das beschädigte Motorrad sowie weitere 2.500,- Euro (brutto) für beschädgite Kleidung und Helm geltend gemacht. Er hat behauptet, in Höhe einer Kurve, die er mit geschätzt 70 km/h habe befahren wollen, hätten sich hinter einem Busch mehrere Rehe aufgehalten, die die Straße in diesem Moment hätten überqueren wollen; er habe versucht den Rehen auszuweichen, sei dabei auf den Grünstreifen gekommen und gestürzt, durch den Sturz seien seine Motorradkleidung und sein Helm sowie die Motorradkleidung und der Helm seines Sohnes total beschädigt worden. Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie hat die Darstellung des Unfallgeschehens durch den Kläger in Abrede gestellt, die derjenigen seines Sohnes widerspreche und auch nicht plausibel sei, weil der Kläger, wenn sich die Rehe tatsächlich auf der Straße befunden hätten oder im Begriff gewesen wären, auf die Straße zu laufen, unter Berücksichtigung der Zeit- und Wegeverhältnisse sowie seiner Geschwindigkeit keine Ausweichmöglichkeit mehr besessen hätte und mit den Rehen kollidiert wäre; auch ohne eine Reflexreaktion des Klägers wäre es nicht zu einer Kollision mit den Rehen gekommen.

Das LG hat Beweis erhoben und der Klage danach statt gegeben. Dagegen die Berufung der Beklagten, die keinen Erfolg hatte.

Ich stelle hier zu dem ausführlich begründeten Urteil nur den Leitsatz ein, wegen der Einzelheiten – auch des Beweisergebnisses – verweise ich auf den verlinkten Volltext. Der Leitsatz lautet:

Hat ein Motorradfahrer beim Einfahren in eine Rechtskurve aus geringer Entfernung Rehe wahrgenommen, die sich in unmittelbarer Nähe des rechten Straßenrandes hinter einem Busch befinden, und gerät er beim anschließenden Versuch, nach links auszuweichen, von der Straße ab, kann eine objektiv gebotene Rettungshandlung vorliegen und der Teilkaskoversicherer gehalten sein, dadurch entstandene Schäden am Fahrzeug und an der Kleidung des Fahrers als Aufwendungen zur Abwendung eines unmittelbar bevorstehenden Versicherungsfalles zu ersetzen.

Wann besteht eine ernsthafte lokale Glättegefahr?, oder: Winterliche Streu- und Räumpflicht

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Im Kessel Buntes am Samstag heute zwei zivilrechtliche Entscheidungen.

Zunächst stelle ich das KG, Urt. v. 06.12.2022 – 21 U 56/22 – vor. Das befasst sich – der Jahreszeit angemessen – mit der winterlichen Streupflicht. Grundlage ist folgender Sachverhalt:

Die am 1951 geborene Klägerin erlitt am Samstag, den 19.12.2020, gegen 11.00 Uhr eine Quadrizepssehnenruptur am rechten Bein. Unmittelbar nach ihrer Verletzung wurde sie in der D-Klinik Berlin aufgenommen und am 20. Dezember 2020 operiert. Sie blieb bis zum 27. Dezember 2020 in stationärer Behandlung. Der weitere Heilungsverlauf gestaltete sich schwierig, die Klägerin war zumindest bis November 2021 arbeitsunfähig krank geschrieben.

Der Träger der D-Klinik, die Z GmbH, übertrug die Verkehrssicherungspflicht während der Winterdienstsaison auf dem Krankenhausgelände mit einem Vertrag über Winterdienstleistungen aus dem Oktober 2015 der Beklagten zu 2). Die Klägerin behauptet, zu ihrer Verletzung sei es wie folgt gekommen:

Sie habe sich am Tag ihres Unfalls gegen 11.00 Uhr zur D-Klinik in der S-Straße in Berlin begeben, um sich dort einem Coronatest zu unterziehen. Die Wege auf dem gesamten Gelände seien infolge von Glatteis sehr rutschig und nicht gestreut gewesen. Außerdem habe an dem Tag in Berlin allgemeine Glätte geherrscht. Als sie über das Gelände gegangen war und das auf dem Klinikgelände befindliche Corona-Testzentrum erreicht hatte, sei sie dort abgewiesen worden, da dieses samstags geschlossen war. Sie habe sich deshalb auf den Rückweg gemacht. Noch auf dem Klinikgelände sei sie auf einem Gehweg ausgerutscht und gestürzt. Es habe in diesem Bereich für sie keine Möglichkeit gegeben, den rutschigen Gehweg zu verlassen. Sie habe sofort Schmerzen im rechten Bein gespürt und habe nicht mehr aufstehen können, nur mit Unterstützung hinzukommender Personen habe sie sich auf eine Bank setzen können. Sie sei dann zur Untersuchung ihrer Verletzung wieder in das D-Krankenhaus gebracht worden, wo dann die Quadrizepssehnenruptur festgestellt und behandelt wurde.

Wegen dieser Verletzung hat die Klägerin vor dem Landgericht Klage auf Schadensersatz und Schmerzensgeld erhoben. Die Beklagten haben insbesondere bestritten, dass am Tag des Unfalls in Berlin allgemeine Glätte geherrscht habe. Das LG hat die Klage gegen beide Beklagte abgewiesen. Die zulässige Berufung hatte teilweise Erfolg. Zum Grund des Anspruchs führt das KG aus:

„a) Die Beklagte zu 2) war im Winterhalbjahr, also auch am Tag des Unfalls der Klägerin, streu- und räumpflichtig auf dem Gelände der D-Klinik Berlin. Denn die primär verkehrssicherungspflichtige Person, die Trägerin der Klinik, hatte ihr diese Pflicht im Oktober 2015 mit einem Winterdienstvertrag (Anlage B 1 – 2) übertragen. Mit einer solchen Übertragung wird der Übernehmer der Pflichten für ihre Einhaltung selbst deliktisch verantwortlich (BGH, Urteil vom 22. Januar 2008, VI ZR 126/07w.N.; Sprau in: Grüneberg, Bürgerliches Gesetzbuch, 81. Auflage, 2022, § 823 BGB, Rn. 50 und 215 m.w.N.).

b) Die Beklagte zu 2) hat die von ihr auf dem Klinikgelände übernommene Verkehrssicherungspflicht verletzt, indem sie rutschige Glatteisflächen auf den dortigen Wegen zur Zeit des Unfalls der Klägerin nicht gestreut hatte.

aa) Eine solche Streupflicht besteht für den Verkehrssicherungspflichtigen auch im Winterhalbjahr nicht jederzeit, sondern nur wenn entweder allgemeine Glätte herrscht oder wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass jedenfalls im Bereich der Flächen, auf die sich die Verkehrssicherungspflicht bezieht, aufgrund vereinzelter Glättestellen eine ernsthaft drohende Gefahr für Dritte besteht (im Folgenden: ernsthafte lokale Glättegefahr, vgl. BGH, Urteil vom 14. Februar 2017, VI ZR 254/16; Urteil vom 12. Juni 2012, VI ZR 138/11).

Im vorliegenden Fall kann die zwischen den Parteien umstrittene Frage dahinstehen, ob in Berlin oder in Berlin-K im Zeitpunkt des Unfalls der Klägerin eine allgemeine Glätte herrschte. Denn nach Abschluss der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Berufungsgerichts fest, dass die Beklagte zu 2) zu dieser Zeit auf dem Klinikgelände streupflichtig war, weil dort jedenfalls eine ernsthafte lokale Glättegefahr bestand.

bb) Wann eine Streupflicht unabhängig vom Vorliegen einer allgemeinen Glätte aufgrund einer ernsthaften lokalen Glättegefahr besteht, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Entscheidend sind insbesondere die Lage und Größe der örtlichen Glättestellen, der Zeitpunkt ihres Auftretens und die Wahrscheinlichkeit ihres Fortbestands in Anbetracht der herrschenden Temperatur. Zudem ist zu beachten, dass eine örtlich auftretende Glättegefahr, die eine Streupflicht auslöst, in aller Regel keine sofortige Reaktion des Verpflichteten verlangt, sondern dass diesem eine den Umständen angemessene Reaktionszeit zuzubilligen ist (BGH, Urteil vom 12. Juni 2012, VI ZR 138/11).

Bei dieser Prüfung des Einzelfalls kommt es allerdings in jedem Fall auf den Pflichtenmaßstab an, der an denjenigen zu stellen ist, der den Verkehr auf den in Rede stehenden Flächen eröffnet hat, also den primär Verkehrssicherungspflichtigen. Hat dieser die Räum- und Streupflicht auf einen Dritten übertragen, der aufgrund dieser Übertragung selbst deliktisch verantwortlich wird (BGH, Urteil vom 22. Januar 2008, VI ZR 126/07, Rn. 9), muss sich dieser Dritte am Maßstab des primär Verkehrssicherungspflichtigen messen lassen. Denn durch die Übertragung wird der primär Verkehrssicherungspflichtige von seinen Pflichten weitgehend befreit, sie verengen sich auf Kontroll- und Überwachungspflichten (BGH, Urteil vom 22. Januar 2008, VI ZR 126/07, Rn. 9). Deshalb würde die Übertragung der Streupflicht im Ergebnis den deliktischen Schutz der Personen, die in ihren Schutzbereich fallen, verkürzen, wenn für den Übernehmer nicht derselbe Pflichtenmaßstab wie für den primär Sicherungspflichtigen gilt. Aus Sicht des Senats verbietet sich diese Konsequenz.

Bei der Prüfung der Frage, ob eine ernsthafte lokale Glättegefahr besteht, ist es regelmäßig von Bedeutung, wann der Streupflichtige ernsthafte örtliche Gefahrenstellen hätte wahrnehmen müssen. Der primär Verkehrssicherungspflichtige, der vor Ort den Verkehr auf bestimmten Flächen eröffnet, ist typischerweise deutlich früher in der Lage, derartige Gefahrenstelle wahrzunehmen als ein sekundär streupflichtiger Winterdienstleister. So kann es sein, dass ein Winterdienstleister seine Mitarbeiter üblicherweise nur an Tagen mit allgemeiner Glätte zu Räum- und Streudiensten losschickt und es für ihn einen unverhältnismäßigen Aufwand bedeutete, wenn er auch an Wintertagen ohne allgemeine Glätte das Gebiet, das er mit seinen Dienstleistungen abdeckt, vorsorglich auf ernsthafte lokale Glättegefahren hin absucht. Dieses Vorgehen eines Winterdienstleisters, der eine Streu- und Räumpflicht übernommen hat, ist nachvollziehbar, kann ihn aber nicht mit deliktischer Wirkung von seiner Streupflicht entlasten, denn sonst würde sich durch die Übertragung dieser Pflicht an einen Dritten der Schutzstandard für die geschützten Personen im Endergebnis verringern.

Dieses Ergebnis ist auch nicht unbillig für einen Winterdienstleister. Er kann das hieraus resultierende Haftungsrisiko durch die vertragliche Gestaltung seiner Winterdienstverträge ausschließen oder jedenfalls weitgehend reduzieren. Dazu muss dort eine Regelung aufgenommen werden, wonach der primär Streupflichtige, wenn er an einem Tag, an dem keine allgemeine Glätte herrscht, eine ernsthafte lokale Glättegefahr vor Ort wahrnimmt, den Winterdienstleister hierüber informieren muss und der Dienstleister erst innerhalb eines gewissen Zeitabstands verpflichtet ist, auf diesen Hinweis seine Dienste vor Ort zu erbringen. Auch im vorliegenden Fall enthält der Winterdienstvertrag, mit dem die Beklagte zu 2) beauftragt ist, in § 2 Abs. 2 eine Regelung, mit der offenbar dieses Ziel verfolgt wird, wenngleich sie vielleicht nicht vollständig ausformuliert ist.

cc) Nach Abschluss der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Wege auf dem Gelände des D-Klinikums Berlin am 19. Dezember 2020 jedenfalls seit ca. 9.00 Uhr bis zum Zeitpunkt des Sturzes der Klägerin gegen 11.00 Uhr weitgehend, also über längere Strecken hinweg, vereist und deshalb sehr rutschig waren, sodass man dort als Fußgänger leicht ausgleiten und hinfallen konnte…….“