Archiv für den Monat: September 2022

Verkehrsrecht I: Noch einmal gefährlicher Eingriff, oder: Noch einmal Steinewerferfall

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Heute stelle ich dann mal wieder verkehrsrechtliche Entscheidungen vor.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 30.08.2022 – 4 StR 215/22, der noch einmal zu den erforderlichen Feststellungen in einem sog. Steinewerferfall Stellung nimmt. Was das LG Berlin da in einem Sicherungsverfahren festgestellt hatte, hat dem BGH nicht genügt:

„Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Die rechtliche Würdigung der Anlasstaten durch das Landgericht ist teilweise rechtsfehlerhaft. Nach den Urteilsfeststellungen warf die Beschuldigte in fünf Fällen jeweils einen Stein gezielt auf fahrende Kraftfahrzeuge, um diese zu beschädigen. In vier dieser Fälle trafen die Steine die Fahrzeuge und beschädigten sie teils erheblich. In einem der Fälle gelangte der Stein durch ein geöffnetes Fahrzeugfenster in das Wageninnere und verfehlte nur knapp den Kopf des Fahrers. Das Landgericht hat diese Fälle rechtlich jeweils als vorsätzlichen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr (315b Abs. 1 Nr. 3 StGB) in Tateinheit mit Sachbeschädigung (§ 303 StGB) – wobei es in einem Fall jeweils beim Versuch blieb – gewertet. Die Annahme gefährlicher Eingriffe in den Straßenverkehr wird von den Feststellungen indes nicht getragen.

Der Tatbestand des § 315b Abs. 1 StGB setzt den Eintritt einer verkehrsspezifischen Gefahr und – bei vorsätzlicher Begehung – einen hierauf gerichteten (natürlichen) Tatvorsatz voraus. Erforderlich ist daher in objektiver Hinsicht, dass die eingetretene konkrete Gefahr jedenfalls auch auf die Wirkungsweise der für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte zurückzuführen ist. Dies ist der Fall, wenn eine der in § 315b Abs. 1 StGB bezeichneten Tathandlungen über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus zu einer kritischen Verkehrssituation geführt hat, in der eines der genannten Individualrechtsgüter im Sinne eines „Beinaheunfalls“ so stark beeinträchtigt war, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (vgl. BGH, Urteil vom 9. Dezember 2021 – 4 StR 167/21, NStZ 2022, 298, 299; Beschluss vom 15. März 2017 – 4 StR 53/17 Rn. 5 mwN). Der Tatbestand des § 315b Abs. 1 StGB kann aber auch erfüllt sein, wenn die Tathandlung – wie jedenfalls in den Vollendungsfällen hier – unmittelbar zu einer konkreten Gefahr oder Schädigung führt. In diesem Fall ist eine verkehrsspezifische Gefahr aber nur zu bejahen, wenn der Fortbewegung des von dem Eingriff betroffenen Fahrzeugs in einer Weise entgegengewirkt wird, dass gerade infolge der Dynamik des Straßenverkehrs eine konkrete Gefahr für die Fahrzeuginsassen oder das Fahrzeug entsteht (grundlegend BGH, Urteil vom 4. Dezember 2002 – 4 StR 103/02, BGHSt 48, 119, 124; vgl. ferner BGH, Urteil vom 9. Dezember 2021 – 4 StR 167/21, NStZ 2022, 298, 299; Beschluss vom 14. September 2021 – 4 StR 21/21 Rn. 6, je mwN). Die vom Landgericht festgestellten Steinwürfe der Beschuldigten erfüllen diese Anforderungen, wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend ausgeführt hat, nicht. Denn den Feststellungen lässt sich nicht entnehmen, dass der (beabsichtigte) Schadenseintritt auf die für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte zurückzuführen war.“

Rechtsmittel III: Berufungsbeschränkung wirksam?, oder: Trennbarkeitsformel

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In der dritten Entscheidung geht es dann noch einmal um die Wirksamkeit einer Rechtsmittelbeschränkung auf die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung. Das AG verurteilt den wegen zweifachen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 Abs. 1 StVG) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten, deren Vollstreckung es für die Dauer von drei Jahren zur Bewährung aussetzte. Dagegen die Berufung der Staatsanwaltschaft, die ihre Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Das LG verwirft die Berufung. Dagegen dann die auf die gewährte Strafaussetzung zur Bewährung beschränkte Revision.

Das OLG hat im OLG Brandenburg, Beschl. v. 10.08.2022 – 1 OLG 53 Ss 65/22 – die Beschränkung als wirksam angesehen:

„b) Gegenstand der revisionsgerichtlichen Überprüfung ist allein die Entscheidung des Landgerichts, die Vollstreckung der erkannten Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen. Die seitens der Staatsanwaltschaft erklärte Berufungsbeschränkung auf die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung ist nicht nur formell (§§ 302 Abs. 2, 303 StPO), sondern auch materiell wirksam.

Die Beschränkung der Revision auf bestimmte Beschwerdepunkte (vgl. § 344 Abs. 1 StPO „inwieweit“) ist nach der so genannten Trennbarkeitsformel insoweit wirksam, als sie dem Rechtsmittelgericht die Möglichkeit eröffnet, den angefochtenen Teil des Urteils losgelöst vom nicht angegriffenen Teil der Entscheidung nach dem inneren Zusammenhang rechtlich und tatsächlich zu beurteilen, ohne die Prüfung des übrigen Urteilsinhalts notwendig zu machen. Die den Rechtsmittelberechtigten eingeräumte „Macht zum unmittelbaren Eingriff in die Gestaltung des Rechtsmittels“ (RGSt 69, 110, 111; vgl. auch BGHSt 14, 30, 36) gebietet es, den in Rechtsmittelerklärungen zum Ausdruck gekommenen Gestaltungswillen im Rahmen des rechtlich Möglichen zu respektieren. Das Rechtsmittelgericht kann und darf diejenigen Entscheidungsteile nicht nachprüfen, deren Nachprüfung von keiner Seite begehrt wird, wenn und soweit der angegriffene Entscheidungsteil trennbar ist, also losgelöst vom übrigen Urteilsgehalt selbständig geprüft und beurteilt werden kann (siehe schon: RGSt 65, 296; RGSt 69, 110, 111; ebenso: BGHSt 19, 46, 48; BGHSt 24, 185, 187; BGH NJW 1981, 589, 590, jeweils m.w.N.).

Die Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung ist ein selbständiger Teil des Urteilsspruchs (§ 260 Abs. 4 S. 4 StPO). Sie kann isoliert angefochten werden, wenn sich die ihr zugrunde liegenden Erwägungen von denen der Strafzumessung trennen lassen (BGH NStZ 1994, 449; KG, Urteil vom 13. Dezember 2006, (5) 1 Ss 305/06 (49/06) m. w. N., Juris; OLG Dresden NStZ-RR 2012, 289; OLG Hamburg NStZ-RR 2006, 18, StraFo 2016, 518; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Auflage, zu § 318, Rz. 20a m. w. N.). An der Trennbarkeit fehlt es nicht schon dann, wenn sich die bei der Strafzumessung und bei der Aussetzungsentscheidung zu berücksichtigenden Tatsachen überschneiden (KG a. a. O.; OLG Frankfurt VRS 59, 106, 108). Insoweit doppelt relevante Feststellungen verknüpfen diese Entscheidungen regelmäßig miteinander; vom Gesetzgeber ist in § 46 Abs. 2 StGB und § 56 Abs. 1 S. 2 StGB vorgesehen, dass diejenigen Tatsachen, welche die Zumessung der Strafe im engeren Sinn mitbestimmen, auch für die Aussetzungsentscheidung wesentliche Bedeutung erlangen (KG a. a. O. m. w. N.).

Die Beschränkung der Revision auf die Aussetzungsentscheidung ist nur dann unwirksam, wenn die Tatsachenfeststellungen und Erwägungen zum Strafmaß so unzulänglich sind, dass sie keine hinreichende Grundlage für die Aussetzungsentscheidung bilden (KG a. a. O.; OLG Köln NStZ 1989, 90, 91; VRS 61, 365, 567; OLG Frankfurt VRS 59, 106, 107), die Entscheidung über die Bewährung an einem Fehler leidet, der zugleich die Strafzumessung betrifft (KG a. a. O.; OLG Frankfurt a. a. O., S. 110; OLG Köln VRS 61, 365, 367), der Anfechtende sich gegen die Feststellung oder Nichtfeststellung einer doppeltrelevanten Tatsache wendet (BGH NJW 2001, 3134; OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 309; KG a. a. O.) oder eine unzulässige Verknüpfung von Strafmaß- und Aussetzungsentscheidung hergestellt worden ist (BGH NStZ 2001, 311; OLG Frankfurt VRS 59, 106, 109; OLG Köln VRS 61, 365, 367; KG a. a. O.). Stets muss gewährleistet sein, dass das stufenweise entstehende Urteil frei von inneren Widersprüchen bleibt (BGHSt 29, 359, 365; NJW 2001, 3134; NStZ-RR 1999, 359; OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 309, 310; KG a. a. O.).

Hieran gemessen, erweist sich die Beschränkung der Revision auf die Entscheidung über die Strafaussetzung als wirksam. Das Landgericht hat die Strafzumessung getrennt von der Strafaussetzung begründet und auch inhaltlich nicht unzulässig miteinander verknüpft. Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Kammer wegen der Bewilligung der Strafaussetzung auf höhere oder niedrigere Einzelstrafen oder eine hieran angepasste Gesamtfreiheitsstrafe erkannt hat oder bei Versagung der Bewährung die Einzelstrafen oder die Gesamtstrafe niedriger festgesetzt hätte. Die Tatsachenfeststellungen und Erwägungen zur Strafzumessung bilden – auch – eine ausreichende Grundlage für die Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung. Die Revision rügt ausschließlich Rechtsfehler bei der Anwendung des § 56 StGB, die das Strafmaß nicht berühren.“

Wegen der Bewährungsfrage komme ich noch einmal auf die Entscheidung zurück.

Rechtsmittel II. Beschränkung des Einspruchs in der HV, oder: Erinnerungslücke beim Verteidiger?

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Die zweite Entscheidung des Tages, der KG, Beschl. v. 17.03.2022 – 3 Ws (B) 33/22 – ja ich weiß, schon etwas älter – nimmt u.a. zur Rücknahme einer Rechtsmittelbeschränkung und zur Ermächtigung des Verteidigers zur Rechtsmittelbeschränkung Stellung. Er stammt zwar aus dem Bußgeldverfahren, aber die Ausführungen des KG haben darüber hinaus Geltung.

Hintergrund der Ausführungen ist, die Frage, ob der Verteidiger In der Hauptverhandlung die Beschränkung des Einspruchs auf die Rechtsfolgen erklärt hatte. Das KG hält den Verteidiger/Betroffenen am Inhalt des Protokolls fest:

„Soweit der Vortrag des Verteidigers, er könne sich an die Abgabe einer Beschränkungserklärung nicht erinnern, nach §§ 46 Abs. 1 OWiG, 300 StPO dahin auszulegen ist, eine wirksame Erklärung dieser Art existiere nicht, dringt er damit nicht durch. Die auf die Sachrüge durch das Rechtsbeschwerdegericht von Amts wegen vorzunehmende Prüfung (vgl. Senat NStZ 2020, 428; Beschlüsse vom 6. Juli 2021 – 3 Ws (B) 154/21 – und 26. August 2020 – 3 Ws (B) 163/20 -, juris) hat durchgreifenden Bedenken weder an der Existenz der Erklärung der Einspruchsbeschränkung, noch an deren Wirksamkeit ergeben.

Dass eine solche Erklärung abgegeben worden ist, ergibt sich unmissverständlich aus dem Inhalt des Hauptverhandlungsprotokolls, das gemäß §§ 71 Abs. 1 OWiG, 274 Satz 1 StPO vollen Beweis darüber erbringt. Ausweislich Seite 2, letzter Absatz des Protokolls vom 31. August 2021 ist die vom Verteidiger erklärte Einspruchsbeschränkung vorgelesen und von diesem genehmigt worden. Hinzu tritt, dass sich der zuständige Amtsrichter, durch den Senat freibeweislich befragt, zwar nicht mehr an die Einzelheiten des Zustandekommens der Erklärung erinnern konnte, wohl aber daran, dass sie vom Verteidiger tatsächlich abgegeben worden ist.

(2) Die Rechtsmittelbeschränkung ist wirksam. Gemäß § 67 Abs. 2 OWiG kann der Einspruch auf einzelne Beschwerdepunkte, namentlich – wie hier – auf die Rechtsfolgen insgesamt, beschränkt werden, sofern die im Bußgeldbescheid beschriebene Tat als solche hinreichend konkretisiert ist (vgl. Senat, Beschluss vom 26. August 2020 a.a.O.; Seitz/Bauer in Göhler, OWiG 18. Aufl., § 67 Rdn. 34e; Ellbogen in KK-OWiG 5. Aufl., § 67 Rdn. 55 m.w.N.). Das ist hier der Fall, denn der Bußgeldbescheid enthält alle nach § 66 OWiG erforderlichen Angaben als Grundlage für einen Rechtsfolgenausspruch einschließlich einer hinreichend präzisen Angabe zum Ort der Tat im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 OWiG; der Angabe einer Hausnummer bedarf es – anders als der Verteidiger in seinem Schriftsatz vom 15. März 2022 meint – nicht (vgl. Senat, Beschluss vom 15. Oktober 2018 – 3 Ws (B) 238/18 -, juris). Dass im Bußgeldbescheid ausdrückliche Angaben zur verwirklichten Schuldform fehlen, steht einer hinreichenden Tatkonkretisierung nicht entgegen. Denn die Bußgeldbehörde hat – worauf die zitierte Nummer 11.3.6 des Anhangs zur BKatV hindeutet – die dort normierte Regelbuße allein wegen der Voreintragungen erhöht, wofür daneben spricht, dass sich in den zitierten Vorschriften der im Falle vorsätzlicher Tatbegehung zu zitierende § 3 Abs. 4a Satz 1 BKatV nicht findet.

(3) Zwar kann die Einspruchsbeschränkung eines Betroffenen nach allgemeinen Grundsätzen wegen der Art und Weise seines Zustandekommens unwirksam sein. Das gilt etwa, wenn seine Willensentschließung beeinträchtigt worden ist – sei es durch Drohung, Täuschung oder auch eine nur versehentlich unrichtige Auskunft des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft – oder er in seiner Verteidigung und dem Recht der Besprechung mit ihr unzulässig beschränkt worden ist (vgl. BGHSt 45, 51, 53; BGH NJW 2002, 1436; StV 2001, 556; KG Beschluss vom 23. März 2004 – (5) 1 Ss 249/01 (36/01) -, juris m.w.N.). Im vorliegenden Fall ist aber zu beachten, dass nicht er selbst die Prozesserklärung zur Einspruchsbeschränkung abgegeben hat, sondern ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls vom 31. August 2021 sein Verteidiger. Es kommt daher nicht darauf an, ob die Willensentschließung oder die Verfahrensrechte des Betroffenen unzulässig beeinträchtigt worden sind, sondern diejenigen des Verteidigers. Der Behauptung des Betroffenen, er habe mangels hinreichender Kenntnis der deutschen Sprache die Bedeutung der Prozesserklärung seines Verteidigers nicht erfasst, wäre darum für die Frage, ob die Prozesserklärung des Verteidigers in der beschriebenen Weise beeinflusst worden, nur dann Bedeutung zugekommen, wenn dadurch zugleich auch die Willensentschließung des Verteidigers in beschriebener Weise beeinträchtigt worden wäre. Dafür gibt das Beschwerdevorbringen jedoch nichts her.

(4) Es ist zudem davon auszugehen, dass der Verteidiger zu der Rechtsmittelbeschränkung, die rechtlich eine teilweise Rechtsmittelrücknahme darstellt (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 64. Aufl., § 302 Rdn. 2), vom Betroffenen nach §§ 46 Abs. 1 OWiG, 302 Abs. 2 StPO ermächtigt war…..“

Rechtsmittel I: Rechtsmittelrücknahme wirksam?, oder: Wenn die Angeklagte an die StA schreibt

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Heute zur Wochenmitte stelle ich einige Entscheidungen zu Rechtsmittelfragen vor, also Rücknahme und Beschränkung usw.

Ich starte mit dem BGH, Beschl. v. 09.08.2022 – 1 StR 119/22 – zur Wirksamkeit einer Rechtsmittelrücknahme. Die Angeklagte ist vom LG am 15.11.2021 wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden. Dagegen hat der Verteidiger der Angeklagten mit Schriftsatz vom 19.11.2021 am 19.11.2021 Revision eingelegt.

Mit an die Staatsanwaltschaft gerichtetem Schreiben vom 10.01.2022) hat die Angeklagte erklärt, sie wolle „hiermit (…) mit sofortiger Wirkung (ihre) Revision zurück ziehen und sofort rechtskräftig werden“. Sie hat zugleich gebeten, „die Rechtskräftigkeit ein(zuleiten)“. Unter dem 14.01.2022 hat die Staatsanwaltschaft das Schreibens an das LG weitergeleitet. Das LG ist von der Rücknahme der Revision ausgegangen und hat der Angeklagten die Kosten auferlegt.

Mit Schriftsatz vom 28.02.2022 hat der Verteidiger die Revision begründet. Er ist der Auffassung, dass die Rücknahmeerklärung der Angeklagten nicht wirksam und das Rechtsmittel daher zulässig sei. Der BGH hat deklaratorisch die wirksame Rücknahme festgestellt:

„2. Die Angeklagte hat ihre Revision mit Schreiben vom 10. Januar 2022 wirksam zurückgenommen (§ 302 Abs. 1 Satz 1 StPO). Da dies allerdings von der Angeklagten mit der Revisionsbegründung in Zweifel gezogen wird, stellt der Senat die eingetretene Rechtsfolge durch deklaratorischen Beschluss fest (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Dezember 2021 – 1 StR 285/21 Rn. 4 und vom 17. Juli 2019 – 4 StR 85/19 Rn. 4).

a) Die Angeklagte hat ihre Revision mit ihrem an die „(s)ehr geehrte Staatsanwaltschaft“ gerichteten, von dieser an das Landgericht weitergeleiteten und dort am 17. Januar 2022 eingegangenen Schreiben vom 10. Januar 2022 wirksam zurückgenommen. Entgegen der nunmehr vertretenen Ansicht handelte es sich gerade nicht um eine bloße Absichtserklärung mit der Ankündigung, die Prozesshandlung der Rechtsmittelrücknahme erst zu einem späteren Zeitpunkt gesondert vornehmen zu wollen. Vielmehr war die Erklärung inhaltlich eindeutig und zweifelsfrei auf die sofortige Beendigung des Revisionsverfahrens gerichtet. Danach wollte die Angeklagte „mit sofortiger Wirkung“ das Rechtsmittel zurücknehmen und „sofort rechtskräftig werden“. Sie hat damit ihren Wunsch nach einer unmittelbar eintretenden Rechtsfolge klar zum Ausdruck gebracht. Gegenteiliges folgt nicht aus dem hierbei verwendeten Verb „möchte“, welches lediglich ein stilistisches Mittel des höflichen Ausdrucks bildete, nicht aber einen Aufschub für die Zukunft beinhaltete.

Dieses Verständnis spiegelt auch das an ihren Verteidiger gerichtete Schreiben der Angeklagten vom 27. Dezember 2021 wider, welches der Revisionsbegründung beigefügt war. Hierin bat sie ihren Verteidiger ganz direkt: „(B)itte ziehen Sie meine Revision am 14.01.2022 zurück.“ Sie wolle sich abschieben lassen und „hierfür rechtkräftig werden“. Danach war die Angeklagte schon zu diesem Zeitpunkt abschließend entschlossen, das Revisionsverfahren nicht weiter durchzuführen, und hatte klare Anweisungen erteilt, dieses Ziel zu erreichen. Dass sie nachfolgend nicht den Eintritt des 14. Januar 2022 abwartete, sondern vorab selbst die Revisionsrücknahme aussprach, nimmt dieser Erklärung nicht die gebotene inhaltliche Klarheit.

b) Der Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung steht nicht entgegen, dass die Angeklagte ihr Schreiben vom 10. Januar 2022 nicht – entsprechend 341 Abs. 1 StPO – an das Landgericht, sondern an die Staatsanwaltschaft gerichtet hat (zur Form des Rechtsmittelverzichts vgl. BGH, Beschluss vom 6. Mai 1999 – 4 StR 79/99 Rn. 7). Denn letztere hat das Schreiben innerhalb weniger Tage an das Landgericht weitergeleitet (vgl. Nr. 152 Abs. 2 Satz 1 RiStBV). Mit dem dortigen Eingang wurde die Rücknahmeerklärung wirksam (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Dezember 2021 – 1 StR 285/21 Rn. 2, 4 und vom 3. November 2011 – 2 StR 353/11 Rn. 1, 3; vgl. ferner Beschluss vom 17. Juli 2019 – 4 StR 85/19 Rn. 3, 7).

Mit der zeitnahen Weiterleitung an das Landgericht hat die Staatsanwaltschaft dem, wie vorstehend erörtert, erkennbaren Interesse der Angeklagten an einer unmittelbaren Beendigung des Revisionsverfahrens entsprochen. Dies gilt erst recht im Hinblick darauf, dass die Angeklagte die Staatsanwaltschaft vorliegend sogar ausdrücklich darum gebeten hatte, „die Rechtskräftigkeit ein(zuleiten)“, mithin alle etwa notwendigen Schritte zu veranlassen, um ein für die Angeklagte rechtskräftiges Urteil vollstrecken zu können (vgl. § 449 StPO).

Dahinstehen kann ferner, aus welchem Grund im Einzelnen die Angeklagte ihr Schreiben vom 10. Januar 2022 an die Staatsanwaltschaft und nicht an das Landgericht richtete. Denn unabhängig hiervon geht mit der gewählten Anrede lediglich eine bloße versehentliche Falschbezeichnung des dennoch erkennbaren Empfängers einher. Die Rücknahmeerklärung war ersichtlich für „die zuständige Behörde“ bestimmt. Aus ihrer Laiensicht erschien der – in diesem Zusammenhang ersichtlich nicht anwaltlich beratenen – Angeklagten offenbar die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde (vgl. § 451 Abs. 1 StPO) am plausibelsten. Die Falschbezeichnung des Empfängers nimmt der Erklärung nicht ihre inhaltliche Klarheit im Übrigen.

c) Die Rücknahmeerklärung ist als Prozesshandlung unwiderruflich und unanfechtbar (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Dezember 2021 – 1 StR 285/21; vom 17. Juli 2019 – 4 StR 85/19; vom 3. November 2011 – 2 StR 353/11 und vom 28. Juli 2004 – 2 StR 199/04 5). Lediglich in besonderen Fällen können schwerwiegende Willensmängel bei der Erklärung des Rechtsmittelverzichts oder die Art und Weise seines Zustandekommens dazu führen, dass eine Verzichtserklärung von Anfang an unwirksam ist (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Mai 1999 – 4 StR 79/99 Rn. 5 mwN).

Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben. Denn es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich die Angeklagte über Inhalt und Tragweite ihrer Erklärung nicht im Klaren gewesen sein könnte. Selbst wenn, wie mit der Revision geltend gemacht, ihr Verteidiger im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Rücknahmeerklärung vom 10. Januar 2022 noch nicht die Gelegenheit gehabt haben sollte, die Angeklagte zu dem Für und Wider der weiteren Durchführung des Revisionsverfahrens sowie ggf. zu der Bedeutung einer Rechtsmittelrücknahme anwaltlich zu beraten, so strebte dessen ungeachtet die Angeklagte gezielt danach, den rechtlichen Schwebezustand zu beenden und den Status einer rechtskräftig verurteilten Strafgefangenen zu erlangen. Dass sie über die Wirkungen der Rücknahme im Unklaren gewesen sei, macht sie folgerichtig mit der Revision auch gar nicht geltend.

Damit hat die Prozesshandlung trotz der zeitgleich nachfolgenden Erklärung der Angeklagten, sie wünsche ausdrücklich weiterhin die Durchführung des Revisionsverfahrens, Bestand. Ob und ggf. inwieweit sie mit der Rücknahmeerklärung unrealistische Erwartungen verknüpft hat, die nicht von der Justiz veranlasst worden waren (hier: Wegfall von Besuchsbeschränkungen, Ausreise nach Italien), kann dahinstehen; denn dies führt nicht ausnahmsweise zur Anfechtbarkeit (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2001 – 2 StR 430/01, juris Rn. 5; ferner BGH, Beschlüsse vom 31. Mai 2005 – 1 StR 158/05 Rn. 3 und vom 28. Juli 2004 aaO).“

StPO III: Terminsaufhebungsantrag nicht beschieden, oder: Angeklagter fehlt entschuldigt

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Und zum Tagessschluss dann noch der LG Bremen, Beschl. v. 07.06.2022 – 8 Qs 131/22. Er verhält sich zu einer Wiedereinsetzungsfrage in Zusammenhang mit der Verwerfung des Einspruchs gegen einen Strafbefehl.

DerAngeklagte hatte gegen einen gegen ihn ergangenen Strafbefehl Einspruch eingelegt und Akteneinsicht in Form der Übersendung von Kopien der Verfahrensakte beantragt. Unter dem 16.09.2021 teilte das AG dem Angeklagten mit, dass es dem Angeklagten unbenommen sei, Einsicht in die Verfahrensakte in den Diensträumen des Gerichts zu nehmen und entsprechend Termin mit der Geschäftsstelle zu vereinbaren. Ferner wies das Gericht darauf hin, dass durch den Angeklagten keine Gründe vorgetragen worden seien, dass er daran gehindert sei, Einsicht in den Diensträumen zu nehmen, sodass das Gericht sein Ermessen dahingehend ausgeübt habe, ihm Einsicht in den Diensträumen zu gewähren. Sodann beraumte das AG am 27.10.2021 Termin zur Hauptverhandlung auf den 03.12.2021 an. Mit Telefax vom 30.11.2021 beantragte der Angeklagte die Aufhebung des Hauptverhandlungstermins. Am 02.12.2021 lehnte der Angeklagte den erkennenden Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Zur Begründung führte er aus, dass er auf der Geschäftsstelle in Erfahrung gebracht habe, dass sein gestellter Terminsaufhebungsantrag noch nicht beschieden, vielmehr vorsätzlich übergangen worden sei. Vor diesem Hintergrund rügte er die Verletzung rechtlichen Gehörs. Weiter rügte er, dass er noch immer keine Akteneinsicht erhalten habe.

Dem Hauptverhandlungstermin am 03.12.2021 blieb der Angeklagte ohne Angabe von Gründen fern. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft verwarf der abgelehnte und erkennende Richter den Befangenheitsantrag als unzulässig. Der Angeklagte hat gegen die Verwerfung Berufung eingelegt und Wiedereinsetzung beantragt. Das AG hat den Wiedereinsetzungsantrag des Angeklagten als unzulässig verworfen, weil der Angeklagte die Tatsachen zur Begrün-dung seines Antrages nicht glaubhaft gemacht habe.

Dagegen die sofortige Beschwerde, die beim LG Erfolg hatte:

„b) Der Wiedereinsetzungsantrag hat auch in der Sache Erfolg. Begründet ist ein Wiedereinsetzungsantrag in den Fällen der §§ 412, 329 Abs. 7 StPO, wenn den Angeklagten an seinem Ausbleiben in der Hauptverhandlung kein Verschulden trifft.

Insoweit hat das Gericht alle Entschuldigungsgründe zu beachten, gleichviel, wie sie ihm bekannt geworden sind. Denn es kommt nicht darauf an, ob sich der Angeklagte entschuldigt hat, sondern nur darauf, ob er entschuldigt ist (BGH 17, 391, 396). Die Entschuldigung kann sich auch aus den Akten, die das Gericht zu diesem Zweck durchzusehen hat oder aus all-gemeinkundigen Tatsachen oder naheliegenden Zusammenhängen ergeben. Bei der Verschuldensfrage ist eine weite Auslegung zugunsten des Angeklagten geboten. Maßgebend ist, ob dem Angeklagten nach den Umständen des Falles wegen seines Ausbleibens billigerweise ein Vorwurf zu machen ist (Meyer-Goßner/Schmitt, 64. Auflage, § 329 Rz. 19, 23).

Eine genügende Entschuldigung ist in Fällen der fehlerhaften Ablehnung oder Nichtbescheidung eines Verlegungsantrages unter Verstoß gegen das Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG anerkannt (BeckOK StPO/Golf StPO § 230 Rn. 12.1).

Eine Verletzung rechtlichen Gehörs liegt vor, wenn trotz beantragter Terminsverlegung oder -aufhebung und Bestehen eines Verlegungs- oder Aufhebungsgrundes gleichwohl eine mündliche Verhandlung am ursprünglich bestimmten Termin stattfindet und in der Sache entschieden wird. Gleiches gilt, sofern sich — ohne dass das Vorliegen eines Verlegungs- oder Aufhebungsgrundes abschließend beurteilt werden könnte — aus der Art und Weise der Be-handlung eines abgelehnten Terminsaufhebungs- oder -verlegungsantrags beziehungsweise der Begründung für dessen Ablehnung ergibt, dass die Bedeutung und die Tragweite des Rechts auf rechtliches Gehör verkannt wurden.

Der Angeklagte hat am 30.11.2022 die Aufhebung des auf den 03.12.2022 anberaumten Hauptverhandlungstermins beantragt. Zwar muss der Antragssteller grundsätzlich die Gründe für eine Terminsverlegung oder -aufhebung im Antrag so detailliert vortragen, dass dem Gericht eine Prüfung ihrer Erheblichkeit möglich ist.

Hier kann indes offenbleiben, ob die durch den Antragssteller vorgebrachten Begründung eine Aufhebung des Termins geboten hätten. Genügt der Antrag den vorgenannten Voraus-setzungen nicht, so ist das Gericht zur Wahrung des rechtlichen Gehörs und zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens grundsätzlich verpflichtet, den Antragsteller auf Lücken im Antrag hinzuweisen und ihm die Möglichkeit zu geben, fehlende Angaben nachzuholen.

Aus den vorstehenden Ausführungen folgt jedenfalls, dass Lücken im Terminsaufhebungs-antrag durch Gewährung rechtlichen Gehörs geschlossen oder aber der Terminsaufhebungsantrag hätte beschieden werden müssen, was nicht erfolgt ist. Allenfalls bei einem erst unmittelbar vor dem Termin gestellten Antrag kann das Gericht von der Gewährung rechtlichen Gehörs absehen. Dies war hier aber nicht der Fall, da noch drei Werktage zwischen dem Antrag und dem Hauptverhandlungstermin lagen.

Die Nichtbescheidung des Terminsaufhebungsantrages entschuldigt daher den Angeklagten hinsichtlich der Versäumung der Hauptverhandlung. Demgemäß war ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.“