Archiv für den Monat: Mai 2022

Verkehrsrecht I: „Avanti“ und Abkürzung der Sperrfrist, oder: Nicht mit nur „formelhaften Redewendungen“

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Heute am Vatertag stelle ich verkehrsrechtliche Entscheidungen. Passt ja ganz gut 🙂 , aber: Please, take care today.

Ich beginne mit dem LG Berlin, Beschl. v. 05.05.2022 – 506 Qs 27/22. In dem hat das LG noch einmal zur Abkürzung der Sperrfrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis (§ 69a Abs. 7 StGB) Stellung genommen.

Dem Verurteilten ist wegen einer Trunkenheitsfahrt die Fahrerlaubnis entzogen worden. Das AG hatte zudem eine Sperrfrist von acht Monaten angeordnet. Es wird dann eine Bescheinigung der Teilnahme an einem Kurs „avanti“ des TÜV-Nord vorgelegt und Abkürzung der Sperrfrist beantragt. Ohne Erfolg beim AG. Auch die Beschwerde bleibt dann beim LG ohne Erfolg:

„Gemäß § 69 a Abs.7 StGB ist die Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis aufzuheben, wenn der Verurteilte Umstände dargetan und glaubhaft gemacht hat, die Grund zu der Annahme geben, dass er zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht mehr ungeeignet ist, und die Mindestdauer der Sperre von drei Monaten (§ 69a Abs. 7 S. 2 StGB) eingehalten ist. Die Aufhebung der Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis hat dementsprechend zu erfolgen, wenn eine auf neue Tatsachen gestützte hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich der Verurteilte im Straßenverkehr nicht mehr als gefährlich erweisen wird. Die Beurteilung dieser Wahrscheinlichkeit darf dabei nicht schematisch erfolgen., sondern muss sämtliche, allein täterbezogene Umstände des Einzelfalls berücksichtigen. Sind solche Umstände festzustellen, steht dem Gericht kein Ermessen zu.

Diese Voraussetzungen liegen zum derzeitigen Zeitpunkt nicht vor.

Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass die erfolgreiche Nachschulung aufgrund wissenschaftlich anerkannter Modelle, d.h. der Teilnahme an einer Verkehrstherapie oder einem Aufbauseminar, als neue Tatsache im Sinne der Norm herangezogen werden kann (vgl. Fischer, StGB 69. Aufl., § 69a Rn. 44 mwN), doch kann die Feststellung der Geeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen nur nach eingehender individueller Prüfung getroffen werden; allein die Teilnahme an einer Nachschulung reicht nicht aus. Vorliegend konnte eine derartige Feststellung zum jetzigen Zeitpunkt insbesondere deshalb nicht getroffen werden, da das dem Beschwerdeführer ausgestellte- Teilnahmezertifikat keine ausreichenden individuellen Anhaltspunkte dafür bietet, dass der Beschwerdeführer die von ihm begangene Alkoholfahrt aufgearbeitet und sich mit den Ursachen und Folgen auseinandergesetzt hat und nunmehr aufgrund des Kurses in der Lage ist, Alkoholkonsum und die Teilnahme am Straßenverkehr strikt zu trennen.

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Bescheinigung sich weitestgehend in formelhaften Redewendungen erschöpft. Ausweislich dieser Bescheinigung habe der Beschwerdeführer „in intensiven Gesprächen und anleitenden Übungen (..:) im Rahmender Gruppe einvernehmlich die individuellen Gegebenheiten herausgearbeitet und. neue Ziele bestimmt“. Dabei habe der Beschwerdeführer „die für die nachfolgende Problembearbeitung notwendigen Wissensinhalte zu den Themenkreisen „Alkohol im Straßenverkehr, Alkoholwirkungen und Alkoholgefährdung“ erarbeitet und „im nächsten Schritt die erforderliche Problemeinsicht gewonnen, die motivationalen Verhaltensursachen, klären (…) und einen Zusammenhang zwischen Lebensstil, individuellen Einstellungen und Alkoholkonsum herstellen können“. Dabei habe der Beschwerdeführer“ Änderungsziele und —bereiche (…) festgelegt und bisherige Änderungsansätze ausgebaut und präzisiert.“ In einer mehrwöchigen Praxisphase des Programms habe der Beschwerdeführer „unter systematischer Beobachtung des Eigenverhaltens und der Reaktionsmuster, die angestrebten Veränderungen praktisch umgesetzt. Der Stand der Trinkgewohnheiten (…) [sei von ihm] aufgearbeitet, sinnvoll modifiziert und in Alltagsbezügen erprobt und gefestigt“ worden. Es seien „Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitsentwicklung, Lebensstil und Verhaltensauffälligkeiten‘

Vor dem Hintergrund des Umgangs mit Alkohol deutlich“ geworden. Der Beschwerdeführer habe „sich von Beginn an einsichtig im Fehlverhalten [gezeigt], sodass in der Folge selbstkritisch individuelle Ursachen, Hintergründe, Zusammenhänge des deliktbegünstigenden Alkoholkonsums und der daraus resultierenden Verkehrsteilnahme erkannt und diese als Symptom einer teilweise ungünstigen Lebensführung identifiziert werden konnten.“ (Anmerkung der Kammer: alle Zitate stammen von S. 2 der Bescheinigung, Bl. 89 d.A.)

Bei näherer Betrachtung. erweist sich die Teilnahmebescheinigung als inhaltsleer. Die Bescheinigung, die so für jeden Kursteilnehmer ausgestellt werden könnte (und wohl auch ausgestellt wird), teilt an keiner Stelle mit, welche individuellen Gegebenheiten bei dem Beschwerdeführer vorlagen, insbesondere welche Auffälligkeiten in Lebensstil. und Verhalten bei ihm konkret existierten, welche konkreten Änderungsziele der Beschwerdeführer festgelegt und auf welche Weise mit welchen Mitteln er hieran gearbeitet hat. Es ist aus der Teilnahmebestätigung insbesondere nicht ersichtlich, Welche konkreten Ursachen der Beschwerdeführer für seine Alkoholfahrt benennen konnte und welche konkreten Veränderungen in der Lebensführung er sich erarbeitet hat, die nunmehr eine risikobewusste Einstellung zum Verhalten im Straßenverkehr verdeutlichen könnten. Es• sind auch keine Angaben darüber enthalten, ob und wie sich die Trinkgewohnheiten des Beschwerdeführers mittlerweile. aufgrund der Aufarbeitung während des Kurses verändert haben. In Ermangelung. (zumindest rudimentärer) konkret-individueller Ausführungen zu der Person des Beschwerdeführers und der von ihm erbrachten Leistungen während des Kurses kann die Kammer nicht überprüfen, ob die seitens des Kursträgers gezogene Schlussfolgerung einer wiederbestehenden Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen tatsächlich‘ zutrifft.

Auch sonst liegen keine neuen Tatsachen vor. Dass die der aus der Entziehung der Fahrerlaubnis ergebenden beruflichen Konsequenzen den Beschwerdeführer zu einem nachhaltigen Umdenken und einer Änderung der Lebensführung bewegt haben sollen, vermag die Kammer nicht zu erkennen. Vielmehr hätte bereits das einmonatige Fahrverbot Anlass geboten, sein Fahrverhalten insgesamt zu überdenken. Stattdessen hat der Beschwerdeführer nur ‚wenige Monate später die gegenständliche Tat begangen und damit deutlich gezeigt, dass die vom Fahrverbot ausgehende „Denkzettelfunktion“ seine Wirkung bei ihm verfehlt hat. Außerdem lagen die beruflichen Umstände, aufgrund der er auf die Fahrerlaubnis angewiesen war und ist, bereits bei Tatbegehung vor.

Auch unter Berücksichtigung der — bereits bei Strafbefehlserlass bekannten und bei Bemessung der Dauer der Maßregel berücksichtigten — Unbestraftheit des Beschwerdeführers und des lediglich fahrlässig begangenen Verkehrsverstoßes besteht nach Abwägung aller Umstände daher kein Raum für eine Verkürzung der — im Übrigen sehr maßvoll bemessenen — Sperrfrist.“

Nichts Neues, aber die Entscheidung zeigt noch einmal sehr deutlich, dass mit diesen/einem Allerweltsgutachten „kein Krieg zu gewinnen ist.“

Pflichti III: Beiordnung wegen schwieriger Rechtslage?, oder: Ungleichartige Wahlfeststellung/Rahmenanklage

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Und zum Tagesschluss dann noch der LG Leipzig, Beschl. v. 29.04.2022 – 2 Qs 3/22 jug. – zur Beiordnung wegen Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage (§ 140 Abs. 2 StPO).

Der Jugendrichter hatte den Kollegen Costabel aus Leipzig nicht bestellt. Das LG ändert das dann ab:

„Die gem. §§ 142 Abs. 7 Satz 1, 311 StPO zulässige sofortige Beschwerde des Angeschuldigten gegen die ablehnende Entscheidung der Jugendrichterin ist begründet, weil wegen der Schwierigkeit der Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint und somit ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt, § 140 Abs. 2 StPO.

Mit Anklageschrift vom 1.11.2021 wurden dem Angeschuldigten wahlweise drei Diebstähle (Tatzeiten: 18.7. und 24.7.2020) oder drei Fälle der Hehlerei (zu nicht näher bestimmte Tatzeiten zwischen 18..7.2020 und 4.2.2021) oder drei Fälle der „Fundunterschlagung“ (ebenfalls im Tatzeitraum zwischen 18.7.2020 und 4.2.2021) zur Last gelegt. Ausgangspunkt der Anklagevorwürfe ist, dass der Angeschuldigte bei einer Polizeikontrolle am 4.2.2021 in Leipzig u.a. drei zur Fahndung ausgeschriebene Führerscheine in seiner Jackentasche mitführte, die den betreffenden Inhabern jeweils bei Diebstahlshandlungen am 18.7. und 24.7.2021 -zugleich mit weiteren Wertsachen- entwendet worden waren. Auf Nachfrage der Polizeibeamten soll der Beschuldigte zur Herkunft der Dokumente spontan angegeben haben, dass er die Führerscheine gerade gefunden habe und im Begriff gewesen sei, sie bei einer Polizeidienststelle in der Permoser Straße abzugeben. Nach Eröffnung der Tatvorwürfe und Belehrung über seine Rechte als Beschuldigter machte er nach Aktenlage keine weiteren Angaben zur Sache. Über die Zulassung der Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens ist noch nicht entschieden.

Durch die hier mittels ungleichartiger Wahlfeststellung weit gefasste „Rahmenanklage“ können sich im Lauf des Verfahrens derart vielfältige Fallvarianten und Beweiskonstellationen ergeben, dass die Rechtslage ohne juristisches Fachwissen unübersichtlich werden dürfte. Nach § 244 Abs. 2 StPO ist das erkennende Gericht gehalten, sämtliche in Betracht kommende Tatvorwürfe erschöpfend aufzuklären, ehe für erwiesen erachteten Taten abgeurteilt werden oder ein Freispruch erfolgt. Aus Sicht versierter Strafrechtler mögen die grundlegenden Rechtsfragen zur ungleichartigen Wahlfeststellung und jeweiligen Anwendung des Zweifelssatzes durch die Entscheidungen des großen Senats des Bundegerichtshofes vom 8.5.2017 (BGHSt 62, 164 ff.) und des Bundesverfassungsgerichts vom 5.7.2019 (NJW 2019, 2837 ff.) hinreichend geklärt und der vorliegende Fall auch „leicht überschaubar“ sein. Die in materieller und prozessualer Hinsicht entscheidungsrelevanten Aspekte (vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl., Rdnr. 32 bis 47 zu § 1 StGB) dürften aber selbst Volljuristen, die hauptsächlich auf anderen Rechtsgebieten tätig sind, nicht immer geläufig sein. Bei juristischen Laien darf man entsprechende Kenntnisse nur bei einfachsten Fallkonstellationen voraussetzen, etwa beim wahlweisen Vorwurf einer Diebstahls- oder Hehlereihandlung, wenn noch dazu ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang zwischen beiden Tatalternativen vorliegt.

Hier werden dem Angeschuldigten bis zu neun Tathandlungen innerhalb eines siebenmonatigen Zeitraumes zur Last gelegt, die ggf. umfassend zu prüfen sind. Die wahlweise Kombination mit den „Fundunterschlagungen“ wirft dabei noch zusätzliche Rechtsprobleme auf. So stellt das kurzfristige Behalten eines Fundgegenstandes noch keine Manifestation des Zueignungswillens gem. § 246 Abs. 1 StGB dar (vgl. § 965 BGB). Zudem erscheinen die im Anklagesatz angenommenen Konkurrenzen fragwürdig, zumal die Hehlerei(en) und die Unterschlagung(en) auch jeweils durch eine einzige Handlung des Angeschuldigten realisiert worden sein können.

Je größer die Zahl der sich wahlweise anbietenden Möglichkeiten und je vielfältiger ihre Art, desto komplexer die Rechtslage und die Gefahr, dass andere mögliche Geschehensabläufe übersehen werden. Das gilt erst recht für Laien, die sich in einer Hauptverhandlung ggf. mit Strafjuristen darüber auseinanderzusetzen haben. Selbst unter Berücksichtigung der prozessualen Fürsorgepflicht der Jugendrichterin dürfte der 21-jährige Angeschuldigte dieser Aufgabe alleine nicht gewachsen sein.“

Pflichti II: „Die Hauptverhandlung ist eine Farce…., oder: Reicht das für die Entpflichtung?

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Im zweiten Posting dann eine Entscheidung zur Abberufung bzw. Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung. Es handel sicu um den OLG Schleswig, Beschl. v. 21.02.22002 – 1 Ws 26/22.

Folgender (Kurz)Sachverhalt: Das LG hat den Verteidiger entpflichtet. Dagegen die sofortige Beschwerde. Die hat keinen Erfolg. Das OLG sieht zwar die vom LG für die Entpflichtung angeführten Gründe als nicht ausreichend an, legt dann aber der Entpflichtung eine andere Begründung zugunde:

„Im Ergebnis zu Recht ist der Rechtsanwalt entpflichtet worden.

Die für diese Entscheidung angeführte Begründung, der Rechtsanwalt habe sich geweigert, die Verteidigung des Angeklagten zu führen (§ 145 Abs. 1 Satz 1 StPO), erscheint aus Sicht des Senats indes nicht tragfähig.

Die Verfügung lässt erkennen, dass der Verteidiger an diesem ersten Hauptverhandlungstag für den Angeklagten tätig war und verschiedene prozessual zulässige Handlungen für ihn vorgenommen hat. Auch ist das nachfolgende Verhalten des Rechtsanwalts, in dem die Kammer eine „Weigerung“, den Angeklagten zu verteidigen, erblickt hat, tatsächlich nicht von einer Qualität, die die Entpflichtung des Rechtsanwalts unter diesem Gesichtspunkt rechtfertigen könnte.

Dem Rechtsanwalt wird vorgehalten, erklärt zu haben, aus seiner Sicht sei die heutige Hauptverhandlung „eine Farce“ und weder er noch der Angeklagte würden sich daher an ihr aktiv beteiligen; insbesondere werde er bei der beabsichtigten Vernehmung von Zeugen diesen keinerlei Fragen stellen.

In dieser Äußerung und dem entsprechenden Verhalten vermag der Senat eine ernsthafte und endgültige Weigerung im Sinne des § 145 StPO nicht zu sehen.

Zum einen handelte es sich um Geschehnisse am ersten Verhandlungstag einer auf etliche weitere Verhandlungstage angelegten Hauptverhandlung, aus denen keine sicheren Schlüsse hinsichtlich des Verteidigungsverhaltens in seiner Gesamtheit gezogen werden konnten.

Zum anderen kann das Verhalten auch nicht – wie in der Verfügung geschehen – als „in erheblichem Maße prozessordnungswidrig“ zu bezeichnet werden, welches „den Boden des geltenden Prozessrechts deutlich“ verließe. Die Strafprozessordnung (§ 240 Abs. 2 StPO) gibt dem Verteidiger und dem Angeklagten zwar das Recht, Zeugen und Sachverständige zu befragen. Sie verpflichtet aber weder den Verteidiger noch den Angeklagten, dieses Recht überhaupt oder in einem bestimmten Umfang auszuüben. Wenn sich Verteidiger und Angeklagter darüber einig sind, an einem bestimmten Verhandlungstag bestimmten Zeugen keine Fragen zu stellen, kann dies auch – anders als es in der Verfügung gesehen wird – „von einem Verteidigungskonzept oder einer Prozessstrategie gedeckt“ sein. Dafür, bestimmten Personen keine Fragen zu stellen, kann es eine ganze Reihe denkbarer prozessual legitimer Überlegungen geben und sei auch es nur, dass hierdurch oder durch provozierte Gegenreaktionen des Gerichts versucht wird, den Boden für spätere erfolgreiche Revisionsrügen zu bereiten.

Ist – wie hier – ein Angeklagter durch mehrere Rechtsanwälte verteidigt, ist überdies denkbar, dass es interne Absprachen gibt, wonach einer der Rechtsanwälte gerade für prozessuale Anträge und der andere für die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Sache verantwortlich ist.

Dennoch verbleibt es im Ergebnis bei der Entpflichtung. Sie hätte nämlich bereits seit geraumer Zeit auf Grundlage des § 143 a Abs. 1 Satz 1 StPO erfolgen müssen……“

 

Pflichti I: Zeitpunkt der Bestellung des Verteidigers, oder: Absehen von und/oder rückwirkende Bestellung

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Und vor dem morgigen „Vatertag“ heute hier dann noch ein paar Entscheidungen zu Pflichtverteidigunsgfragen (§§ 140 ff. StPO).

Zunächst stelle ich zwei LG-Beschlüsse zum Zeitpunkt der Bestellung vor, also u.a. zur Rückwirkunsgproblematik.

Da ist dann hier der LG Düsseldorf, Beschl. v. 18.05.2022 – 4 Qs 15/22. Das AG hat den wahl, der seine Bestellung beantragt hatte, nicht beigeordnet. Die StA hat dann nach § 154 Abs. 2 StPo das Verfahren eingestellt. Das AG verweist wegen der Bestellung auf § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO. Das sieht das LG anders und bestellt (rückwirkend). Hier der Leitsatz der Entscheidung:

    1. Die Einschränkungen des 141 Abs. 2 Satz 3 StPO 2 betreffen die Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen und gelten bei Vorliegen eines Antrages gem. § 141 Abs. 1 StPO gerade nicht.
    2. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist zulässig.

Bei der zweiten Entscheidung handelt es sich um den LG Leipzig, Beschl. v. 04.05.2022 – 8 Qs 18/22. Er beinhaltet eine „klassische Rückwirkungsproblematik“. Dazu hier nur der Leitsatz.

Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist im Einzelfall ausnahmsweise zulässig, wenn die für die ordnungsgemäße Rechtspflege erforderliche effektive Gewährleistung des Rechts auf notwendige Verteidigung nicht erfüllt wurde. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Entscheidung über die beantragte Pflichtverteidigung nicht in angemessener Zeit nach Antragsstellung ergeht und es dadurch zu einer wesentlichen Verzögerung des – vom Gesetzgeber vorgesehenen – Entscheidungsablaufs kommt.

 

 

Strafzumessung III: Doppelverwertungsverbotsverstoß, oder: Aber noch milder geht es kaum

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Und zum Schluß des Tages dann – aller guten Dinge sind Drei – noch einmal der OLG Hamm, Beschl. v. 10.03.2022 – 4 RVs 2/22 . Über den hatte ich ja schon zweimal berichtet, u.a. in der letzten Woche unter StGB II: (Kurze) Behinderung von Hilfsleistenden, oder: Bei schweren Verletzungen genügt bereits eine Minute. Hier kommz der Beschluss dann noch einmal, und zwar wegen der Ausführungen des OLG zur Strafzumessung.

Wegen des zugrunde liegenden Sachverhalt verweise ich auf das Posting aus der vorigen Woche. Das AG hatte den Angeklagten danach wegen Widerstands gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen, in Tatmehrheit mit Beleidigung und in Tatmehrheit mit falscher Verdächtigung zu einer Gesamtgeldstrafe von 110 Tagessätzen zu je 65,00 Euro verurteilt worden. Daneben hatte das AG als Nebenstrafe ein viermonatiges Fahrverbot verhängt. Die Revision hatte auch wegen der Strafzumessung keinen Erfolg.

Zum Fahrverbot hatte ich ja auch schon gepostet, und zwar hier: Auto I: Viermonatiges StGB-Fahrverbot als Nebenstrafe, oder: Auch noch nach Zeitablauf von zwei Jahren? Zur eigentlichen Strafzumessung führt das OLG dann aus:

„b) Der Strafausspruch ist ebenfalls frei von Rechtsfehlern.

aa) Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des tatrichterlichen Ermessens und daher vom Revisionsgericht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen (vgl. nur BGH NStZ 1990, 334). Das Revisionsgericht darf daher nur dann eingreifen, wenn die Strafzumessungserwägungen des Urteils in sich rechtsfehlerhaft sind, wenn der Tatrichter die nach § 46 StGB obliegende Pflicht zur Abwägung der für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände verletzt oder die Strafe bei Berücksichtigung des zur Verfügung stehenden Strafrahmens unvertretbar hoch oder niedrig ist (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 337 Rn. 34). In Zweifelsfällen muss daher in der Regel die Strafzumessung des Tatrichters hingenommen werden, da eine exakte Richtigkeitskontrolle schon wegen des Ermessensspielraums gar nicht durchführbar ist (vgl. BGHSt 29, 319, 320).

Hieran gemessen sind die Strafzumessungserwägungen für die Einzelstrafen und auch für die daraus gebildete Gesamtstrafe nicht zu beanstanden.

(1) Soweit die Revision rügt, das Amtsgericht habe bei der Strafabwägung zu § 115 Abs. 3 StGB rechtsfehlerhaft zu Lasten des Angeklagten gewertet, dass „sein Verhalten (…) weder ethisch, moralisch oder rechtlich gerechtfertigt“ sei, ist dem im Ausgangspunkt zu folgen. Die vorgenannte Formulierung lässt auf einen Verstoß gegen das Doppelverwertungsgebot (§ 46 Abs. 3 StGB) schließen. Die seit dem 05. November 2011 geltende Vorschrift des § 115 Abs. 3 StGB sanktioniert gerade ein Verhalten, das gesellschaftlich als unethisch und unmoralisch und in keiner Weise gerechtfertigt angesehen wird, nämlich das gewaltsame Behindern oder gar Angreifen von Rettungskräften bei ihrem Bemühen um Hilfeleistung in Notlagen. Gerade wegen der Verwerflichkeit dieser Handlungen hat sich der Gesetzgeber dazu entschieden, den Schutz des § 113 StGB auch auf Mitarbeiter von Rettungsdiensten auszudehnen. Dem Gesetzgeber ging es namentlich darum, den Respekt und die Wertschätzung für Hilfskräfte zu unterstreichen (vgl. hierzu BT-Drs. 17/4143, S. 6; BT-Drs. 18/11161, S. 9). Vor diesem Hintergrund hat das Amtsgericht mit seiner Bewertung gleichsam strafschärfend berücksichtigt, dass der Angeklagte die Tat überhaupt begangen und hierbei ohne Rechtfertigungsgrund gehandelt hat. Auf diesem Verstoß gegen § 46 Abs. 3 StGB beruht das Urteil jedoch nicht. § 115 Abs. 3 StGB sieht in Verbindung mit § 113 StGB Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe vor. Unter Berücksichtigung der übrigen Strafzumessungserwägungen, namentlich der Beharrlichkeit des Angeklagten, der die Rettungshandlung gleich durch mehrere aufeinander folgende Handlungen verzögert hat – zuerst mit dem Blockieren der Zufahrt und dann noch zusätzlich mit dem Öffnen der Fahrzeugtür – kann der Senat sicher ausschließen, dass das Tatgericht zu einer für den Angeklagten noch günstigeren Einzelstrafe als den ausgeurteilten 90 Tagessätzen hätte gelangen können. Vor diesem Hintergrund bedurfte es keiner gesonderten Entscheidung über die angemessene Strafe nach § 354 Abs. 1a StPO.

(2) Soweit mit der Revision vorgetragen wird, das Tatgericht habe im Rahmen der Strafzumessung zu § 185 StGB rechtsfehlerhaft zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt, dass er durch sein beleidigendes Verhalten auch den Ersthelfer gestört habe, stellt dies keine unzulässige Doppelverwertung dar. Denn die Beleidigung richtete sich gegen den Zeugen L und nicht gegen die – bereits durch § 115 Abs. 3 StGB geschützten – Rettungssanitäter.

(3) Ebenso wenig liegt ein sachlich rechtlicher Mangel darin, dass das Tatgericht im Rahmen der Strafzumessung zu § 164 StGB nicht berücksichtigt hat, dass der Angeklagte von dem Zeugen O, den er später der Beleidigung bezichtigte, provoziert worden sein könnte. Die vom Amtsgericht diesbezüglich festgestellten Worte des Zeugen O („Haben Sie sie noch alle? Fahren Sie weiter“) stellt ersichtlich eine von der Hektik getragene Spontanäußerung des Zeugen dar, die den Angeklagten, der bis dahin bereits durch sein Verhalten die Durchfahrt des Rettungswagens behindert hatte, nachdrücklich zur Ordnung und Besinnung rufen sollte. Insbesondere in der bereits stark emotional geprägten Situation konnte die vorbeschriebene Äußerung vernünftigerweise nicht als Kränkung oder Provokation gewertet werden und musste daher vom Tatrichter auch nicht strafmildernd berücksichtigt werden. Hierbei hat der Senat auch bedacht, dass zwischen der Äußerung des Polizeibeamten und der Falschverdächtigung durch den Angeklagten ein nicht unerheblicher Zeitraum lag, so dass jedenfalls ein zu berücksichtigender Provokationszusammenhang nicht mehr angenommen werden kann.“