Die Sitzordnung in der Hauptverhandlung, oder: Wenn der Angeklagte der Zeugin ins Gesicht sehen will

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Die 42. KW. eröffne ich mit dem BGH, Beschl. v. 01.08.2018 – 5 StR 228/18, der eine Problematik behandelt, die in der Hauptverhandlung immer wieder zum Streit führt. Nämlich die Frage der Sitzordnung.

Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren mit dem Vorwurf der Vergewaltigung. Am 2. Hauptverhandlungstag der insgesamt 45-tägigen Hauptverhandlung wurde von der Strafkammer mit der Vernehmung der Nebenklägerin als zentraler Belastungszeugin begonnen; sie wurde zudem an zwölf weiteren Hauptverhandlungstagen gehört. Der Angeklagte beantragte über seinen Verteidiger, „die Sitzordnung dergestalt zu ändern, dass er das Gesicht der Zeugin ununterbrochen sehen kann, bzw. dass die Zeugin den Platz mit der Nebenklägerin tauscht“. Der Vorsitzende lehnte das mit der Begründung ab, das Gesicht der Zeugin sei für die Verfahrensbeteiligten erkennbar. Auf Beanstandung des Verteidigers bestätigte das Gericht die Anordnung des Vorsitzenden mit der Begründung, jedenfalls diejenigen Verteidiger, die es wünschten, hätten die Möglichkeit, die Mimik der Zeugin zu beobachten. Ein weitergehendes Recht, die Zeugin mit eigenen Augen frontal zu sehen, habe der Angeklagte nicht. Bei aus den konkreten Gegebenheiten des Sitzungssaals folgenden Sichteinschränkungen für den Angeklagten genüge es, wenn ihm der Verteidiger die Kenntnis der relevanten Mimik vermittle.

In der Revision sind Skizzen der Sitzungssäle eingereicht worden. Danach konnte der hinter einer besonderen Schranke sitzende Angeklagte die während der Vernehmung direkt vor dem Richtertisch positionierte Zeugin von leicht schräg hinten sehen. Die Revision hat es als unzulässige Beschränkung der Verteidigung gerügt, dass es dem Angeklagten bei keiner der Vernehmungen möglich gewesen sei, das Gesicht der Zeugin frontal zu sehen und dabei deren Mimik zu verfolgen.

Damit hatte er beim BGH keinen Erfolg:

„aa) Die Bestimmung der Sitzordnung im Hauptverhandlungssaal ist eine Maßnahme, die zwar einerseits die rein äußerliche Gestaltung des Hauptverhandlungsablaufs betrifft, andererseits aber auch in die Rechte von Verfahrensbeteiligten eingreifen und deshalb nach § 238 Abs. 2 StPO beanstandet werden kann (vgl. Becker in Löwe/Rosenberg, 26. Aufl., § 238 Rn. 21 mwN). Von dieser Beanstandungsobliegenheit bei Fragen der Sitzordnung (vgl. bereits OLG Köln NJW 1961, 1127) hat der Angeklagte Gebrauch gemacht.

bb) Durch den Gerichtsbeschluss ist der Angeklagte aber nicht in seiner Verteidigung in entscheidungserheblicher Weise unzulässig beschränkt worden (§ 338 Nr. 8 StPO). Dies gilt unabhängig von der Frage, ob die Rüge nach § 338 Nr. 8 StPO die Verletzung einer besonderen Verfahrensnorm voraussetzt (vgl. BGH, Urteil vom 26. Mai 1981 – 1 StR 48/81, BGHSt 30, 131, 137 mwN) oder gerade in Fällen wie dem vorliegenden eine Art „Auffangtatbestand“ darstellt, auf den unmittelbar zurückgegriffen werden kann (vgl. nur OLG Köln, NJW 1980, 302; Dahs, Die Revision im Strafprozess, 9. Aufl. 2017, Rn. 216; umfassend Franke in Löwe/Rosenberg, 26. Aufl., § 338 Rn. 125 ff. mwN). Denn die Sitzanordnung hat weder das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren, noch sein Konfrontationsrecht (Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK) oder sein Recht auf effektive Verteidigung verletzt noch im Übrigen seine Verteidigung unzulässig beschränkt.

Die Entscheidung, wie bei einer Zeugenvernehmung die Sitzanordnung konkret gestaltet wird, hängt von einer Vielzahl von Umständen des Einzelfalls ab, die in der konkreten Situation vor Ort bewertet und gegeneinander abgewogen werden müssen. Derartige Entscheidungen, die zudem gefahrenspezifisch prognostische Elemente beinhalten, kann das Revisionsgericht nur auf grobe Ermessensfehler überprüfen (vgl. Mosbacher, FS Seebode, S. 227, 229 f. mwN). Nur wenn die Entscheidung des Gerichts zur Sitzordnung erkennen lässt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht oder grundlegend die Rechtspositionen der Verfahrensbeteiligten verkennt und hierdurch tatsächlich die Mitwirkungsmöglichkeiten des Angeklagten oder seines Verteidigers entscheidungserheblich eingeschränkt wurden, kann eine Rüge nach § 338 Nr. 8 StPO bei Beanstandung der Sitzanordnung Erfolg haben.

(1) Die Sitzanordnung im Gericht muss sich zunächst an den baulichen Gegebenheiten des Hauptverhandlungssaals orientieren, die dem Gericht vorgegeben sind. Der Angeklagte kann dabei auf eine umfriedete oder besonders gesicherte Anklagebank verwiesen werden, wenn ansonsten seine Flucht oder eine Störung des Verhandlungsablaufs drohen (vgl. § 176 GVG, Nr. 125 Abs. 2 RiStBV). Von seinem Platz aus muss der Angeklagte der Hauptverhandlung folgen und seine Verteidigung führen können (vgl. OLG Köln aaO). Ihm ist grundsätzlich zu ermöglichen, sich während der Hauptverhandlung mit seinem Verteidiger zu besprechen (vgl. hierzu BayObLG StraFo 1996, 47; OLG Köln aaO; OLG Köln, NJW 1961, 1127; Molketin, AnwBl 1982, 469; Thomas/Kämpfer, MüKo-StPO, § 137 Rn. 21; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1996 – 1 BvR 873/94, NJW 1996, 3268, 3269); anderenfalls kann es notwendig sein, zu diesem Zweck die Hauptverhandlung auf Antrag zu unterbrechen (vgl. Münchhalffen, StraFo 1996, 18, 19).

(2) Bei der Vernehmung von Zeugen (und Sachverständigen) ist zunächst entscheidend, dass das den Urteilsspruch verantwortende erkennende Gericht den Zeugen so gut sieht, wie es dies selbst unter Aufklärungsgesichtspunkten für notwendig erachtet (vgl. zur Amtsaufklärungspflicht als beherrschender Prozessmaxime unter der Geltung des Schuldprinzips BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 u.a., BVerfGE 133, 168). Zudem kann erforderlich sein, berechtigten Sorgen von Zeugen im Hinblick auf den Angeklagten oder andere Verfahrensbeteiligte durch eine besondere Sitzanordnung Sorge zu tragen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. April 1999 – 5 StR 715/98, NStZ 1999, 419, und vom 24. Juni 2014 – 3 StR 194/14, NStZ 2015, 103). Soweit danach – sowie im Rahmen der baulichen Gegebenheiten – möglich und mit der Sicherheit und Ordnung im Hauptverhandlungssaal vereinbar, ist den übrigen Verfahrensbeteiligten die optische Teilhabe an der Zeugenvernehmung zu gewähren. Kann dies nicht für alle gleichermaßen geschehen, reicht zur Wahrung der Teilhaberechte des Angeklagten auch aus, einem Verteidiger – wie hier von der Revision vorgetragen – eine weitergehende Sicht auf den Zeugen zu ermöglichen.

Zur Wahrung des Konfrontationsrechts aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK genügt es grundsätzlich, dass vor Verurteilung eines Angeklagten alle ihn belastenden Beweismittel in einer öffentlichen mündlichen Verhandlung und in seiner Gegenwart erörtert werden, um eine kontradiktorische Prüfung zu ermöglichen. Dem Angeklagten muss angemessen und hinreichend Gelegenheit gegeben werden, einem Belastungszeugen bei seiner Aussage oder zu einem späteren Zeitpunkt des Verfahrens entgegenzutreten, ihn zu befragen bzw. befragen zu lassen (vgl. EGMR, NJW 2013, 3225, 3226). Dies wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass dem Angeklagten keine frontale Sicht auf einen Zeugen gewährt wird.

Gerade bei Umfangsverfahren wird es häufig schon aufgrund der baulichen Verhältnisse unmöglich sein, allen Angeklagten und allen sonstigen Verfahrensbeteiligten einen Blick auf das Gesicht eines Zeugen während dessen Vernehmung zu ermöglichen (vgl. Fromm, NJW 2013, 982, 983). Führt dies zu einer deutlich eingeschränkten Teilhabe an der Zeugenvernehmung, etwa weil auch die Sicht des Verteidigers auf den Zeugen gravierend behindert ist, kann das Gericht bei vorheriger Beanstandung der Sitzanordnung oder Offensichtlichkeit der Behinderung sein Urteil auf besondere Beobachtungen der Mimik und Gestik eines Zeugen nur stützen, wenn es zuvor den übrigen Verfahrensbeteiligten in der Hauptverhandlung davon Mitteilung und Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Geschieht dies, liegt die Verletzung der Grundsätze des fairen Verfahrens oder des Rechts auf eine effektive Verteidigung durch eine Sitzanordnung des Gerichts regelmäßig fern.

(3) Nach diesen Maßstäben liegt hier keine Rechtsverletzung vor. Der inhaftierte Angeklagte hatte von seinem Platz einen seitlichen Blick auf die Zeugin. Entgegen der Auffassung der Revision gibt es keinen Anspruch des Angeklagten, das Gesicht eines Zeugen frontal zu sehen. Die Entscheidung des Landgerichts, dem Angeklagten unter all diesen Umständen keinen anderen Platz zuzuweisen, weist keinen Rechtsfehler, schon gar nicht einen groben Ermessensfehler, auf.“

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Ein Gedanke zu „Die Sitzordnung in der Hauptverhandlung, oder: Wenn der Angeklagte der Zeugin ins Gesicht sehen will

  1. Verteidiger

    Besonderen „Spaß“ machen Anträge zur Sitzordnung, wenn es sich um einen Sitzungssaal handelt, in welchem die Bank der Staatsanwaltschaft im Gegensatz zur Anklagebank erhöht ist, z. B. auf einem Podest.

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