Akteneinsicht in sieben Umzugskartons binnen einer Woche, oder: Kopie der gesamten Verfahrensakte erstattungsfähig

Als erstes „normales Posting (vgl. zum „unnormalen“ Burhoff im “Yellow-Press-Teil” der NJW, oder: “Schreiber aus Leidenschaft – Anwalt als Telefonjoker”) heute dann natürlich ein Posting zu Gebühren, und zwar zum OLG Braunschweig, Beschl. v. 08.06.2018 – 1 Ws 92/18. Den hat mir der Kollege W.Siebers aus Braunschweig geschickt, der ihn auch „erstritten“ hat. Es geht mal wieder um die Frage der Erstattung von Kopien, eine „unendliche Geschichte“. Der Kollege war Pflichtverteidiger. Er hat Festsetzung seiner Gebühren im Vorschussweg beantragt, darunter eine Dokumentenpauschale nach Nr. 7000 VV RVG für 17.497 angefertigte Kopien in Höhe von 2.642,05 €. Daraufhin wurde ihm eine Abschlagszahlung zunächst ohne Berücksichtigung der beantragten Dokumentenpauschale gewährt.

Zu Dokumentenpauschale teilte der Verteidiger mit, dass ihm im Mai 2017 ((im Originalbeschluss steht „12. Mai 2017“, muss dann wohl 2014 heißen) sieben Umzugskartons mit Akten zugegangen seien, die vollständig durchkopiert worden seien, da er seinerzeit noch mit Papierakten gearbeitet habe. Er versicherte, dass die Kopien ausschließlich Verteidigungszwecken gedient hätten. Die Bezirksrevisorin beim Landgericht vertrat dazu die Ansicht, der Verteidiger habe sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt, indem er die gesamte Akte kopiert habe. Das ungeprüfte, vorsorgliche Ablichten der gesamten Verfahrensakte sei nicht erforderlich gewesen, da die Akten regelmäßig für die Verteidigung in jedem Fall irrelevante Dokumente enthielten. Der Kollege hat sich dann auf Nachfrage der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle mit einem Abzug von 10 % der ursprünglich beantragten Kopieauslagen als mögliche, nicht zur Verteidigung notwendige Kopien, einverstanden erklärt. Die sind festgesetzt worden. Dagegen (natürlich) die Erinnerung der Staatskasse. Ergebnis: Kein Erfolg beim LG und bei auch nicht beim OLG:

„Von den 17.497 Kopien, die bei der Fertigung einer Kopie der Verfahrensakte 16 KLS 411 Js 22675/10 angefallen sind, waren insgesamt 15.748 zur sachgerechten Bearbeitung der Rechtssache geboten.

Grundsätzlich obliegt der Staatskasse der Nachweis, dass die vom Verteidiger geltend gemachten Auslagen zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache nicht erforderlich waren. Daher ist die Notwendigkeit von Kopierkosten im Zweifel anzuerkennen. Dies gilt jedoch dann nicht, wenn gewichtige Gründe dafür ersichtlich sind, nach denen einzelne Auslagen unnötig verursacht wurden und zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache nicht erforderlich waren. In diesem Fall muss der Pflichtverteidiger die Erforderlichkeit der Auslagen belegen, wobei ihm ein gewisser Ermessensspielraum verbleibt, er aber gleichzeitig gegenüber der Staatskasse grundsätzlich zur kostensparenden Prozessführung verpflichtet ist (OLG Koblenz, Beschl. vom 16. November 2009, 2 Was 526/09, Rn. 8, zitiert nach juris). Ausgehend von diesen Grundsätzen wird – worauf die Bezirksrevisorin grundsätzlich zutreffend hinweist – in der obergerichtlichen Rechtsprechung die Auffassung vertreten, das ungeprüfte, vorsorgliche Ablichten einer gesamten Akte stelle keine ordnungsgemäße Ermessensausübung des Verteidigers mehr dar, da Kopien nur in dem Rahmen abrechnungsfähig seien, in dem sie aus der ex-ante Sicht des Rechtsanwaltes zu fertigen gewesen wären (OLG Koblenz, a.a.O., OLG Köln, Beschl. vom 16. Juli 2012,  III – 2  Ws 499/12, Rn. 7, zitiert nach juris). Maßgeblich ist die Sicht eines verständigen und durchschnittlich erfahrenen Verteidigers, wenn er sich mit der betreffenden Gerichtsakte beschäftigt und alle Eventualitäten bedenkt, die bei der dann noch erforderlichen eigenen Bearbeitung der Sache auftreten können (BGH, Beschluss-vom 30. Mai 2017, X ZB 17/04, Rn. 1, zitiert nach juris).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe war vorliegend jedoch eine Kopie der gesamten Verfahrensakte 16 KLS 411 Js 22675/10 grundsätzlich erforderlich.

Dem von dem Verteidiger vertretenen Angeklagten werden zum Teil täterschaftlich, zum Teil mittäterschaftlich mit weiteren Angeklagten begangene Taten zur Last gelegt. Es ist daher aus Sicht des Verteidigers nicht von vorneherein ausgeschlossen, dass auch andere Taten als die von ihm vertretenen Angeklagten alleine zur Last gelegten sich für seine Verteidigung als bedeutsam erweisen.

Darüber hinaus war dem Verteidiger, dem die Akte nur für 1 Woche, mithin 5 Arbeitstage, überlassen worden war, und der im Übrigen auch etwaige Haftungsrisiken im Blick behalten musste, eine nähere inhaltliche Durchsicht der Akte, die aus zahlreichen Bänden bestand und insgesamt 7 Umzugskartons füllte, nicht zuzumuten. Die Ersparnis stünde in keinem Verhältnis zum Aufwand, so dass ein großzügiger Maßstab anzulegen ist (NK-GK/Stollenwerk„ 2. Aufl., VV RVG Nr. 7000, R 11). Soweit sich die Bezirksrevisorin des Landgerichts auf verschiedene anderslautende Gerichtsentscheidungen bezieht, verkennt sie, dass bei den diesen Entscheidungen zugrundeliegenden Sachverhalten jeweils ein deutlich geringerer Aktenumfang als im hiesigen Verfahren bestand.

Soweit die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle davon pauschal 10 % in Abzug gebracht hat, war dies im vorliegenden Fall angemessen. Es entspricht der gefestigten Rechtsprechung, dass jedenfalls Dokumente wie Aktendeckel, Empfangsbekenntnisse, Kassenanordnungen, Zwischenentscheidungen, Anklageschriften oder eigene Schriftsätze des Verteidigers für eine sachgerechte Verteidigung regelmäßig irrelevant sind und sich die Fertigung von Kopien insoweit nicht als erforderlich darstellt (vgl. u.a. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Juli 1999, 4 Ws 163 99, Rn. 5, zitiert nach juris).“

Wenn die Justiz so „unsinnig“ Akteneinsicht gewährt – in sieben Umzugskartons binnen 1 Woche = 5 Arbeitstage, dann muss man auch die finanziellen Folgen ohne Murren tragen….

16 Gedanken zu „Akteneinsicht in sieben Umzugskartons binnen einer Woche, oder: Kopie der gesamten Verfahrensakte erstattungsfähig

  1. Ein Leser

    Wenn ich mir die Gesamtkosten des Verfahrens vorstelle (die Umzugskartons füllen sich ja nicht von alleine, da werden umfangreiche Ermittlungen vorausgegangen sein, und der Prozess war bestimmt auch nicht an einem Tag erledigt), dann scheinen mir die Kopierkosten nicht so richtig ins Gewicht zu fallen.
    Im Gegenteil halte ich die Inkaufnahme etwas höherer Kopierkosten zu Gunsten eines schneller durchführbaren Prozesses (die Verteidiger der Mitangeklagten wollten ja vermutlich auch mal einen Blick in die Akte werfen) für durchaus sinnvoll.
    Also manchmal kann ich über die Prioritätensetzung der Staatskasse nur den Kopf schütteln…

  2. meine5cent

    Wundert mich nur, dass Her Siebers im Mai 2017 „noch mit Papierakten gearbeitet“ hat, wo er doch schon vor Jahren in seinem blog gegen die Papieraktenführung bei der Justiz gewettert hat („Mit vorsintflutlichen Methoden gegen die Netzkriminalität“, Februar 2013)

  3. RA Werner Siebers

    Oh, ein missmutiger Missbilliger, der sich – sicher aus dienstlichen Gründen – in der Anonymität versteckt. Zu Ihrer Beruhigung: der Kollege Burhoff hat sich verschrieben, die Akteneinsicht war im Mai 2014, und, ja, zu diesem Zeitpunkt haben wir in Ausnahmefällen – wie in diesem Fall – noch kopieren müssen, wenn ein solcher Aktenberg mit einer Unverschämtheits-Frist kam, weil wir damals noch keinen Hochleistungsscanner hatten. Aber es erfreut mich zutiefst, Leser so zu beeindrucken, dass sie sich noch nach Jahren an das erinnern, was ich geschrieben haben.

  4. Detlef Burhoff Beitragsautor

    Asche auf meine Haupt, dass mir nicht aufgefallen ist, dass der OLG Beschluss an der Stelle dann wohl falsch ist . Dort heißt es „Mit Schriftsatz vom 18. November 2017 teilte der Verteidiger mit, dass ihm mit
    Anschreiben vom 12. Mai 20’17 sieben Umzugskartons mit Akten zugegangen seien,…“ Muss dann wohl „2014“ heißen.

  5. RA Werner Siebers

    In der Tat ist der Beschluss falsch. Mitgeteilt hatte ich richtigerweise: „… hat mir das Landgericht am 12.05.2014 die Hauptakte und 7 Kartons Beiakten für eine Woche zur Verfügung gestellt. Es wurden sämtliche Unterlagen kopiert, es wurde also klassisch „durchkopiert“.“

    Also nicht der Kollege Burhoff hat sich verschrieben sondern das OLG. Wär ja jetzt mal eine Entschuldigung für den ätzenden Unterton von @meine5cent fällig. Trau ich ihm aber nicht zu.

  6. Mirko Laudon

    Aber wehe der Staatsanwalt hat auf die Rückseite des eigenen Schriftsatzes irgendeine später relevant werdende Bemerkung geschmiert, z.B. Verfügung der Akteneinsicht an Nebenkläger. Dann ist das Geschrei hinterher aber groß, wenn das Empfangsbekenntnis des Nebenklägervertreters auch nicht kopiert wurde.

  7. meine5cent

    Wo habe ich geätzt? War nur eine Frage. Ich wusste gar nicht, dass das sonst so stolze Kantholz eine Mimose ist, die für einen vermuteten Ätzunterton spgar Entschuldigung verlangt, obwohl der Fehler ja nicht bei mir lag.
    Wenn man sonst recht lautstark und mit groben Worten austeilt, im eigenen blog keine Kommentare zulässt und dann bei einer Frage in einem anderen blog so beleidigt reagiert sagt das wohl mehr über die Person aus als das Nutzen der vom Bloginhaber hier erlaubten Anonymität.

  8. Volker Böger

    Herzlichen Glückwunsch zu der erstrittenen Entscheidung, Herr Kollege!
    Es ist einfach nur erbärmlich, wie Verteidigern von Seiten der “Staatskasse” die Arbeit (effektive Verteidigung) erschwert wird, indem auf“s Kleinkarrierteste obergerichtlich abgesegnet im Nachhinein an Kopierkosten herrumgenörgelt wird, obwohl die Kollegen in der Kürze der für die Akteneinsicht zur Verfügung stehenden Zeit keine Zeit dafür haben können, sich damit zu beschäftigen, welche einzelne Seite möglicherweise in Zukunft für die Verteidigung keine Rolle spielen werden wird….
    Hier werden den Verteidigern (in rechtsstaatlich bedenklicher Weise) Steine in den Weg gelegt, die eine effektive Verteidigung jedenfalls erschweren. Solange die “Staatskasse” dafür Geld genug hat, Prüfer zu beschäftigen, die zigtausende Aktenseiten daraufhin durchsuchen, ob da nicht die ein oder andere Seite doch zu viel fotokopiert/ oderr eingespannt worden ist, hat der Staat auch das Geld, das Risiko zu finanzieren, dass die eine oder andere Seite unnötigerweise kopiert und abgerechnet wird. Und wenn ein Pflichtverteidiger „es übertreiben“ sollte, bliebe immer noch das Strafrecht, um ein etwaiges „betrügerisches“ Verhalten einzudämmen!
    Anwälte, die ihre Arbeit und ihre Funktion in der Rechtspfleger eines Rechtsstaates ernst nehmen, sind zwar weder billig, noch bequem, aber sie verdienen die Berufsbezeichnung „Rechtsanwalt“ ebenso, wie ein Staat, der genügend Richter beschäftigt und sich ein unumgängliches Verfahrensrecht und ernstgemeinte Instanzenüge insbesondere in Bereichen leistet, in denen staatliches Verhalten überprüft wird (Straf-, OWi- und VerwaltungsR) , die Auszeichnung „Rechtsstaat“!
    Und dies gilt umso mehr in Zeiten, in denen staatliches „Durchgreifen“ in Sachen Steuerrecht, Asyl- oder Straf- und OWi-Recht „populär“ ist.

    P.S.: Der Unterzeichner hat sich nicht als Pflichtverteidiger “Listen” lassen.

  9. Anonymer

    Ist ja ein allgemein bekanntes Phänomen, dass Personen, die gerne austeilen, nicht einstecken können. Als Strafverteidiger ist man qua Beruf Alphamännchen, da greift jede Kritik massiv das eigene Ego an.

  10. Detlef Burhoff Beitragsautor

    Und es ist ein ein „allgemein bekanntes Phänomen“, dass Personen, die gerne kommentieren oder meinen kommentieren zu müssen, das am liebsten anonym tun und sich hinter mehr oder weniger albernen Email-Adressen, die ins Nichts führen, und Nicks wie „Anonymer“ oder „Gast“ usw. verstecken. Warum eigentlich und warum hat man nicht den Mum, mit offenem Visier = Klarnamen zu kommentieren? Und jetzt kommen Sie mir nicht mit: Das BVerfG erlaubt das…..

  11. Briag

    Der Grund, warum zumindest mancher Richter hier lieber anonym kommentiert, liegt darin, dass ein Richter im Gegensatz zu einem Strafverteidiger oder sogar einem Staatsanwalt durchaus wegen „Besorgnis der Befangenheit“ abgelehnt werden kann. Und ein einmal abgegebener Kommentar, der vielleicht Missverständlich formuliert war und diese Besorgnis hervorrufen kann, lässt sich leider (durch den Verfasser) niemals mehr entfernen, und beendet dann mitunter das Strafrichterdasein. Das Risiko ist ungleich höher dem eines Verteidigers, finden Sie nicht auch?

  12. Briag

    Nein, das kommt es nicht. Denn ich sprach von unbeabsichtigt missverständlichen Kommentaren.

    Aber selbstverständlich bin ich auch froh, ebenso zugespitzt kommentierenb zu können, wie mancher Verteidiger es tut. Wenn ich mich auch niemals auf das Niveau von Herrn Siebers herablassen würde, der übrigens im Gegensatz zu ihnen keine missliebigen Kommentare zulässt.

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