„Sie, Herr Angeklagter, gehen sie ruhig, wir brauchen Sie nicht“, oder: Die selbstgestrickte StPO

entnommen wikimedia.org Urheber Turris Davidica

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„Sie, Herr Angeklagter, gehen sie ruhig, wir brauchen Sie nicht.“, so oder so ähnlich hat offenbar der Vorsitzende einer Berufungskammer beim LG Berlin darauf reagiert, als er bemerkt hat, dass der Dolmetscher, der wegen der Sprachunkundigkeit des Angeklagten erforderlich war, in der Hauptverhandlung fehlte. Jedenfalls kann man das in etwa dem Verfahrensablauf entnehmen, den das KG seinem KG, Beschl. v. 10.04.2015 – (2) 121 Ss 58/15 (26/15) zugrunde gelegt hat:

„Der Angeklagte ist, nachdem er zur Anklage vernommen war, zum Fortsetzungstermin am 7. November 2014 erschienen. Nachdem das Gericht das Fehlen eines Dolmetschers bemerkt hatte, wurde der der deutschen Sprache nicht mächtige Angeklagte vom Vorsitzenden gefragt, ob er nicht bereit wäre, den Saal zu verlassen. Da der Angeklagte dies nicht verstand, wandte sich – mit Einverständnis des Vorsitzenden – die Nebenklagevertreterin in spanischer Sprache an den Angeklagten, der daraufhin den Saal verließ. Die Sitzung wurde um 8.59 Uhr ohne den Angeklagten fortgesetzt. Sodann wurde ein Gutachten (zu etwaigen Spermaspuren an der Kleidung der Nebenklägerin) auszugsweise verlesen. Danach ergänzte die Nebenklägerin ihren Adhäsionsantrag um einen weiteren Feststellungsantrag. Im Anschluss daran wurde die Sitzung um 9.05 Uhr beendet.“

Und es kommt, was kommen muss(te): Die Verfahrensrüge, die dann – was m.E. auch auf der Hand liegt – auch Erfolg hatte. Denn:

„a) Eine Fortsetzung ohne den Angeklagten gemäß § 231 Abs. 2 StPO war vorliegend nicht möglich. Denn dann hätte der Angeklagte der Hauptverhandlung eigenmächtig fern geblieben sein müssen. Das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der „Eigenmacht“ liegt vor, wenn der Angeklagte wissentlich und ohne Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe der weiteren Hauptverhandlung fern bleibt (vgl. BGH NJW 2011, 3249, 3252). Ein eigenmächtiges Ausbleiben ist dagegen zu verneinen, wenn der Angeklagte in dem Glauben ist, nicht zum Termin erscheinen zu müssen, etwa weil das Gericht ihm das Ausbleiben entweder gestattet oder den Anschein hervorgerufen hat, es sei mit seiner Abwesenheit einverstanden (vgl. BGHSt 37, 249, 252; 3, 187, 190; OLG Celle StraFo 2012, 140).

Angesichts des unwidersprochenen Vortrags der Revision ist vorliegend davon auszugehen, dass der Vorsitzende das Ausbleiben des Angeklagten nicht nur hingenommen, sondern – durch seine in Gestalt einer Frage formulierte Bitte – sogar selbst initiiert hat. Grund hierfür war offenkundig, dass an diesem Verhandlungstag kein Dolmetscher zugegen war und der Vorsitzende – zu Recht – eine Fortsetzung der Verhandlung scheute, da dies mit dem Anspruch des Angeklagten aus § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG unvereinbar gewesen wäre. Ebenso gesetzwidrig war es jedoch, die erforderliche Heranziehung eines Dolmetschers dadurch zu umgehen, den Angeklagten zu bitten, den Saal zu verlassen. Zwar war, nachdem der Angeklagte den Saal verlassen hatte, die Bestellung eines Dolmetschers überflüssig geworden. Doch war das Vorgehen des Vorsitzenden in keiner Weise mit dem Recht und der Pflicht des Angeklagten zur fortdauernden Anwesenheit in der Hauptverhandlung (§§ 230 ff. StPO) in Einklang zu bringen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Angeklagte der „Anregung“ des Vorsitzenden letztlich widerspruchslos gefolgt ist und auch keiner der anderen Verfahrensbeteiligten – namentlich der Verteidiger und die Staatsanwältin –gegen eine solche Vorgehensweise Bedenken erhoben hätte. Es kann offen bleiben, ob – was indes fernliegt – darin eine stillschweigende Übereinkunft gesehen werden kann, ohne den Angeklagten zu verhandeln. Denn die Anwesenheitspflicht des Angeklagten steht grundsätzlich nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten; sie ist – vorbehaltlich einzelner, hier nicht einschlägiger Ausnahmeregelungen wie etwa §§ 231c, 233 StPO – einer „konsensualen Regelung“ von vornherein nicht zugänglich (vgl. BGH NJW 1973, 522; OLG Brandenburg StraFo 2015, 70; OLG Hamm StV 2007, 571).“

Sollte man als Vorsitzender einer Berufungsstrafkammer vielleicht auch selbst drauf kommen, oder: Muss ich mich so vom Revisionsgericht belehren lassen? Ich verstehe nun wirklich nicht. Man kann sich doch „seine StPO“ nicht selbst stricken.

13 Gedanken zu „„Sie, Herr Angeklagter, gehen sie ruhig, wir brauchen Sie nicht“, oder: Die selbstgestrickte StPO

  1. Leser

    Den Ansatz finde ich gar nicht so unclever. Aber dass das Revisionsgericht sich von dieser Idee („Aufforderung zur Eigenmacht“) nicht überzeugen lassen würde, überrascht natürlich auch nicht wirklich.
    Wirklich bedenklich finde ich, dass man sich zur Übersetzung auf die Nebenklagevertretung verlassen hat. Diese verfolgt eigene Interessen, hier die des Angeklagten. Was hätte sie davon abgehalten, ihm zu erzählen, er sei freigesprochen worden, und ihn so zum Verzicht auf die weitere Anwesenheit zu bewegen? Spätestens da hätte man m. E. hellhörig gegenüber der eigenen Idee werden müssen.

  2. Detlef Burhoff

    Den Ansatz finde ich gar nicht so unclever. Aber dass das Revisionsgericht sich von dieser Idee („Aufforderung zur Eigenmacht“) nicht überzeugen lassen würde, überrascht natürlich auch nicht wirklich.-
    verstehe ich nicht

  3. Maste

    Hallo Leser, ein NK- Vertreter, der die Interessen des Angeklagten vertritt? Das wäre aber wirklich mal was neues;-);-)

  4. Gunnar

    Wer. bitte, hat denn dem Angeklagten einen Verteidiger beigeordnet? Schwerer Fehler! Wäre der unterblieben, wäre der fehlende Dolmetscher wohlmöglich gar nicht aufgefallen. :-3

  5. Leser

    @ Detlef Burhoff
    Aus der Erkenntnis, dass bei abwesendem Angeklagten kein Dolmetscher erforderlich ist, den Schluss zu ziehen, dass das Fehlen des Dolmetschers durch Abwesenheit des Angeklagten zu beheben ist, finde ich clever. Der Schluss ist fehlerhaft. Aber die Idee zeigt doch eine gewisse Spitzfindigkeit, die man würdigen kann.

    @ Maste
    Wenn die Nebenklagevertretung dem Angeklagten einen Freispruch vorgetäuscht hätte, hätte sie motiviert, auf die Wahrnehmung seiner Rechte zu verzichten. Das meinte ich – den offenkundigen Interessenkonflikt. Ungefähr genau so gut könnte man das Opfer übersetzen lassen, was der Angeklagte angeblich zu seiner Verteidigung vorbringt.

  6. Maste

    @Leser: Habe ich schon so verstanden. Bin aber ein Freund der Ironie:-) Ohne die kann man diesen Job (RA) sonst oft nicht ertragen….

  7. Miraculix

    Ich bin gerade etwas fassungslos.
    Nicht nur daß die angeblich clevere Idee des Richters eine krasse Rechtsbeugung ist,
    da war auch noch ein Verteidiger zugegen???

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