Realismus des Verteidigers hilft gegen den Widerruf einer Haftverschonung

© Andy Dean - Fotolia.com

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Immer wieder problematisch und immer wieder zur Aufhebung führen in der Praxis Haftentscheidungen, in denen im Laufe des Verfahrens gewährte Haftverschonungen widerrufen werden. Die Zulässigkeit richtet sich nach § 116 Abs. 4 StPO. Danach müssen neue Umstände vorliegen, welche im Sinne von § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO die Verhaftung erforderlich gemacht hätten. Zu der Frage, was „neu“ ist, gibt es eine umfangreiche Rechtsprechung des BVerfG (vgl.  u.a. Beschl. v. 01.02.2006 – 2 BvR 2056/05, StV 2006, 139 ff.). Danach sind u.a. nachträglich eingetretene oder nach Erlass des Aussetzungsbeschlusses bekannt gewordene Umstände nur dann „neu“ im Sinne des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO, wenn sie die Gründe des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschüttern, dass keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären. Das spielt vor allem eine Rolle, wenn der Widerruf der Haftverschonung damit begründet wird, dass der Angeklagte nun zu einer – hohen – Freiheitsstrafe verurteilt worden ist.

Dazu noch einmal der OLG Düsseldorf, Beschl. v.  06.12.2013 – 2 Ws 584/13. Da war vom LG die Widerrufsentscheidung mit einer inzwischen erfolgten Verurteilung des Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten begründet worden. „Gerettet“ hat die Haftverschonung u.a. die realistische Einschätzung des Verteidigers, auf die er auch im Beschwerdeverfahren hingewiesen hatte:

Dies zugrunde gelegt können nach Erlass des Haftverschonungsbeschlusses neu hervorgetretene Umstände nicht angenommen werden. Ein solcher Umstand liegt nicht in der (nicht rechtskräftigen) Verurteilung des Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten. Es ist nicht ersichtlich, dass der Rechtsfolgenausspruch von der Straferwartung, die den Haftverschonungsentscheidungen zugrunde liegt, erheblich zum Nachteil des Angeklagten abwiche. Der Haftbefehl des Amtsgerichts Kleve vom 29. Juni 2013 beinhaltete 35 Fälle des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nach § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG zugrunde. Er stellt ausdrücklich auf den für alle Tatvorwürfe geltenden gesetzlichen Normalstrafrahmen von mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe ab. Die Außervollzugsetzung ist sodann beschlossen worden, nachdem der Angeklagte Aufklärungshilfe geleistet hat. Dass jedenfalls die Kammer damit keine drastische Reduktion der Straferwartung verbunden hat, ist durch den Eröffnungsbeschluss vom 6. November 2013 inklusive seiner Haftentscheidung dokumentiert. Während die Anklage neben drei Vorwürfen nach § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG nur einen Vorwurf des § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG beinhaltete, wies die Kammer u. a. auf die Möglichkeit hin, dass der Angeklagte wegen einer alle Betäubungsmittel und Waffen umfassenden Tat des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt werden könnte. Damit ist aber eine Straferwartung verbunden, die trotz der Aufklärungshilfe des Angeklagten nicht unter der ausgeurteilten Strafhöhe liegt. Gleichwohl hat die Kammer nach § 207 Abs. 4 StPO den Außervollzugsetzungsbeschluss aufrecht erhalten und hierdurch den Vertrauenstatbestand zugunsten des Angeklagten vertieft. Die Ausführungen unter Ziffern 1.-4. sowie 7. des Nichtabhilfebeschlusses der Kammer vermögen demnach die Verhaftung des Beschwerde-führers nicht zu rechtfertigen.

Es ist auch nicht festzustellen, dass der Angeklagte gleichwohl hinreichend sicher von einer deutlich niedrigeren Strafe ausgegangen wäre. Sein Verteidiger hatte ihn ausweislich der mit der Beschwerde vorgelegten E-Mail vom 13. November 2013 auf eine denkbare Strafe von sieben oder acht Jahren hingewiesen, sofern die rechtliche Würdigung der Kammer im Eröffnungsbeschluss zuträfe. Unter Berücksichtigung des gesamten Verfahrensganges spricht somit alles dafür, dass dem Angeklagten die Möglichkeit einer Strafe wie verhängt durchaus vor Augen stand. Die gegenteilige Annahme, die sicherlich nicht auf den Schlussantrag des Verteidigers gestützt werden kann, müsste eine bloße Mutmaßung bleiben. Eine solche wäre unzureichend (vgl. BVerfGK 19, 439 ff. Rn. 51). Dass durch das Urteil der Kammer gewiss die Hoffnung des Angeklagten auf eine geringere Strafe enttäuscht worden ist, genügt für seine Verhaftung nach dem oben Ausgeführten nicht.

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