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Gotthard-Raser, oder: In der Schweiz niedrig geflogen, in Deutschland in den Knast?

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Und als zweite Montagsentscheidung dann noch ein Raser-Fall, nämlich der sog. „Gotthard-Raser“ und dazu den LG Stuttgart, Beschl. v. 15.03.2018 – 21 StVK 172/17. In dem Verfahren geht es um die Vollstreckung von in der Schweiz verhängten Freiheitsstrafen hier in der Bundesrepublik. Der Beschuldigte ist 2014 in der Schweiz – Tempolimit dort 120 km/h – auf mehreren Autobahnen, darunter auch im Gotthard-Tunnel – mit streckenweise rund 200 km/h gefahren. Dabei hat er mehrere Autofahrer gefährdet und im Überholverbot überholt. Dafür wird dann in der Schweiz eine Freiheitsstrafe von 30 Monaten verhängt. Ein Jahr davon soll vollstreckt werden, der Rest wird zur Bewährung ausgesetzt. Und um die Vollstreckung der Haftstrafe in der Bundesrepublik geht es.

Das LG hat den Antrag, die Vollstreckung aus dem schweizer Urteil in der Bundesrepublik Deutschland für zulässig  zu erklären, zurückgewiesen. Begründung: Die Vollstreckung würde wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen. Der Verurteilte habe zwar grob verkehrswidrig gehandelt. Die Voraussetzungen der allein in Betracht kommenden deutschen Strafvorschrift des § 315 c Abs. 1 Nr. 2 b), d) und e) StGB lägen jedoch nicht vor. Das LG „vermisst“ in dem schweizer Urteil den in der deutschen Rechtsprechung vorausgesetzten „Beinaheunfall“. Nach deutschem Recht handele es sich lediglich um Ordnungswidrigkeiten. Und dann:

Im vorliegenden Einzelfall führt jedoch eine Gesamtbetrachtung aller Umstände zu dem Ergebnis, dass die Vollstreckung aus dem Urteil des Geschworenengerichts des Kantons Tessin gegen unabdingbare Grundsätze der verfassungsrechtlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland verstoßen würde.

Dies ergibt sich aus Folgendem:

Der im ausgehenden 18. Jahrhundert zur Beschränkung polizeilicher Eingriffe in Freiheit und Eigentum erstmals ausdrücklich formulierte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat sich nach und nach zu einem der zentralsten Grundsätze der deutschen Rechtsordnung entwickelt. Er ist übergreifende Leitregel allen staatlichen Handelns und bindet die gesamte Staatsgewalt (so schon BVerfG NJW 1968, 979).

Dies gilt auch im Strafvollstreckungsverfahren mit internationalem Bezug (vgl. OLG Zweibrücken StV 1996, 105; OLG Stuttgart, NJW 2010, 1617 zum Erlass eines Auslieferungshaftbefehls aufgrund europäischen Haftbefehls). Der Verurteilte darf im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch nicht alleine deshalb schlechter gestellt werden, weil es sich um einen Fall grenzüberschreitender, international-arbeitsteiliger Strafrechtspflege handelt (vgl. Lagodny in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. 2012, § 73 IRG, Rn. 3).

Bei der Prüfung, ob eine ausländische Sanktion gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstößt, ist auch die Bewertung der vorgeworfenen Tat durch die deutsche Rechtsordnung in den Blick zu nehmen (vgl. BVerfG NJW 1994, 2884). Vorliegend ergibt sich hieraus ein nicht mehr hinnehmbares Missverhältnis zwischen der zu vollstreckenden Freiheitsstrafe von einem Jahr und den in Deutschland vorgesehenen Rechtsfolgen für die nach hiesigem Recht nicht als Straftaten, sondern als Ordnungswidrigkeit zu ahndenden Taten.

Diese wären nach deutschem Recht lediglich mit Geldbußen zu ahnden gewesen. Selbst für massive Geschwindigkeitsüberschreitungen von mehr als 60 km/h sieht die Bußgeldkatalogverordnung Regelsätze von 600,00 € (außerorts) bzw. 680,00 (innerorts) € vor. Bei verkehrswidrigen Überholmanövern beträgt der Regelsatz 100,00 bis 150,00 €, im Falle einer – vorliegend gerade nicht festgestellten – Gefährdung oder Sachbeschädigung 250,00 €. Mithin sieht der deutsche Gesetzgeber solches Fehlverhalten, sofern nicht die Schwelle zur Strafbarkeit wegen (konkreter) Gefährdung des Straßenverkehrs gem. § 315 c StGB überschritten wird, als eher weniger schwerwiegend an.

Angesichts dieser, vom Gesetzgeber ausdrücklich so vorgegebenen und auch im Rahmen der rechtspolitischen Debatte über den Umgang mit sog. „Raser-Fällen“, die u.a. zur Schaffung des § 315d StGB (verbotene Kraftfahrzeugrennen) führte, soweit ersichtlich nicht in Frage gestellten, zurückhaltenden Sanktionierungspraxis mit zwar nicht gänzlich geringfügigen, aber der Höhe nach noch eher überschaubaren Geldbußen wäre vorliegend die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von einem Jahr ohne Bewährung, unter keinem denkbaren Gesichtspunkt hinnehmbar. Die Verschärfung der Rechtsfolgen von einer eher überschaubaren Geldbuße hin zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung liegt außerhalb des Rahmens, innerhalb dessen noch von einer dem Fehlverhalten angemessenen staatlichen Reaktion gesprochen werden könnte.

Die Vollstreckung von Freiheitsstrafe stellt einen der denkbar schwerwiegendsten Grundrechtseingriffe dar. Es werden deshalb ausschließlich Verstöße gegen Verhaltensnormen, die dem Schutz höherrangiger Rechtsgüter und der Bewahrung der elementaren Werte des Gemeinschaftslebens dienen, mit Freiheitsstrafen sanktioniert. Der Täter wird wegen eines vorwerfbaren sozialethisch schwerwiegenden Fehlverhaltens getadelt; mit der Strafe wird nach allgemeiner Anschauung ein ehrenrühriges, autoritatives Unwerturteil über Tat und Person des Täters gefällt (vgl. KK-OWiG/Mitsch, 5. Aufl. 2018, § 17, Rn. 5). Dementsprechend wird die Verhängung einer Freiheitsstrafe im Bundeszentralregister eingetragen.

Die Festsetzung einer Geldbuße als – einziger –  vorgesehener Sanktion für Ordnungswidrigkeiten ist anders als der Ausspruch einer Freiheitsstrafe durch den Richter sozialethisch neutral. Ihre Auferlegung bewirkt keine ins Gewicht fallende Beeinträchtigung des Ansehens und des Leumunds des Betroffenen (KK-OWiG/Mitsch a.a.O.). Sie stellt lediglich eine nachdrückliche Pflichtenmahnung dar und hat die Aufgabe, ein bestimmtes Ordnungsgefüge zweiten Ranges, unterhalb des Schutzbereichs der elementaren Rechtsgüter, in seinem Bestand zu bewahren (vgl. BVerfG NJW 1959, 619). Ordnungswidrigkeiten gehören mithin nicht zum Kernbereich des Kriminalstrafrechts.

Dementsprechend ist für die Festsetzung einer Geldbuße, der einzigen in Betracht kommenden Sanktion für Ordnungswidrigkeiten, im Gegensatz zur Strafe nicht zwingend ein Richterspruch erforderlich. Vielmehr kann eine Geldbuße auch von einer Verwaltungsbehörde festgesetzt werden. Ihrer Funktion als nachrangige Sanktion entspricht es auch, dass Geldbußen im Gegensatz zu Freiheits- und auch Geldstrafen nicht im Bundeszentralregister eingetragen werden.

Dagegen kommen freiheitsentziehende Maßnahmen nach deutschem Recht zur Sanktionierung von Ordnungswidrigkeiten unter keinen denkbaren Umständen in Betracht.

96 OWiG sieht lediglich Erzwingungshaft vor. Hierbei handelt es sich jedoch gerade nicht um eine Strafe, sondern um ein reines Beugemittel, das den Betroffenen nachdrücklich mahnen soll, entweder die rechtskräftig verhängte Geldbuße zu zahlen oder der Vollstreckungsbehörde seine Zahlungsunfähigkeit darzulegen (BVerfG NJW 1977, 293). Die Erzwingungshaft ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung deshalb gerade nicht mit einem ehrenrührigen, autoritativen Unwerturteil über eine Verhaltensweise des Betroffenen, dem Vorwurf einer Auflehnung gegen die Rechtsordnung und der Feststellung der Berechtigung dieses Vorwurfs verbunden, wie es Kennzeichen einer Kriminalstrafe ist. Ihr fehlt der Ernst der staatlichen Strafe, sie ist kein ersatzweises Übel für die begangene Ordnungswidrigkeit (BVerfG, a.a.O.).“