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Gebühren im straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren, oder: Versagung/Reduzierung der Gebühren wegen „rechtsmissbräuchlichen Verteidigerhaltens“?

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Die zweite Entscheidung des Tages kommt vom AG Landstuhl. Das hat im AG Landstuhl, Beschl. v. 08.04.2020 – 2 OWi 186/20 – zu zwei Fragen Stellung genommen, nämlich zunächst zur Frage der Bemessung der Gebühren im straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren und dann zur Frage der Reduzierung/Versagung der Gebühren wegen „missbräuchlichen Verteidigerverhaltens“.

Folgender Sachverhalt: Die Betroffene wird in einem straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren von einem Rechtsanalt verteidigt. Zugrunde liegt dem Verfahren ein Bußgeldbescheid wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung außerorts, der mit 120 EUR zu ahnden gewesen wäre und bei Verurteilung einen Punkt im FAER als mittelbare Folge mit sich gebracht hätte. Die Betroffene war im FAER vorbelastet, sodass die Gelduße 140 EUR betrug. Der Verteidiger hat sich zunächst bestellt und Akteneinsicht begehrt, später eine CD mit Daten übersandt bekommen und dann Einspruch eingelegt. Der Einspruch war in einem zusammenhängenden Text mit Einwendungen gegen das Messverfahren enthalten, ohne dass der Einspruch graphisch hervorgehoben war. Die Behörde „übersieht“ den Einspruch, was zur Verjährung führt- Sie hat dann das Verfahren eingestellt und den Bußgeldbescheid zurückgenommen.

Der Verteidiger hat Mittelgebühren geltend gemacht. Die sind auch festgesetzt worden:

„Der Verteidiger hat einen Anspruch auf Erstattung der von ihm begehrten Gebühren nach RVG. Anzusetzen ist in straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren grundsätzlich die Mittelgebühr (AG München, Urt. v. 2.12.2019 – 213 C 16136/19; Gerold/Schmidt/Mayer, 24. Aufl. 2019, RVG § 14 Rn. 54-57; LG Kaiserslautern, Beschl. v. 4.2.2015 – 5 Qs 9/15, BeckRS 2015, 05688). Dies ist im vorliegenden Fall auch durch die konkrete Tätigkeit des Verteidigers zu vertreten. Dieser hat sich nicht nur bestellt und in die formale Akte Einsicht genommen, sondern sich darüber hinaus auch mit dem dem Verstoß zugrunde liegenden Messsystem befasst. Darüber hinaus ist nach dem reformierten Punktesystem seit dem 1.5.2014 schon die Vermeidung des ersten Punkts im FAER für jeden Betroffenen zu erstreben, sodass eine unterdurchschnittliche Bemessung der Tätigkeit allenfalls dann standardmäßig in Betracht kommt, wenn es in Massenverfahren „nur“ um eine Geldbuße, mithin ein Verwarnungsgeld geht. Dies ist hier nicht der Fall.“

So weit, so gut. Aber dann:

„Die Erledigungsgebühr ist durch die Tätigkeit des Verteidigers erfolgte Einstellung angefallen und stets als Mittelgebühr zu bemessen (Krumm in: Mayer/Kroiß, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 7. Auflage 2018, RVG Nr. 5115 VV, Rn. 21).

Hier wäre allenfalls zu überlegen gewesen, die Gebühren insgesamt wegen des missbräuchlichen Verteidigungsverhaltens auf ein Minimum zu reduzieren oder zu versagen. Dies kann jedoch hier nicht erfolgen. Denn zum einen hat das Verteidigerverhalten zum gewünschten Erfolg der Betroffenen geführt. Dass die Bußgeldbehörde Fälle wie diesen rechtlich nicht richtig prüft und nicht auf der Bestandskraft des Bußgeldbescheids wegen des missbräuchlichen Verteidigerverhaltens beharrt, kann nicht zulasten der Betroffenen gehen. Zum anderen obliegt es dem Gericht in Verfahren nach § 62 OWiG nicht, über die Kostengrundentscheidung neu zu befinden, sondern nur über die Höhe.“

Dazu ist „anzumerken“:

1. Die Ausführungen des AG zur (allgemeinen) Gebührenbemessung im straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren sind zutreffend  (vgl. zur Mittelgebühr im Bußgeldverfahren auch Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Vorbem. 5 VV Rn 54 ff. m.w.N.). Sehr schön auch der Hinweis auf die im Hinblick auf die durch die sog. Punktereform zum 1.5.2014 eingetretenen Änderungen betreffend das FAER und die damit gestiegene Bedeutung der straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren.

2. Zu widersprechen ist aber den Ausführungen des AG betreffend „Reduzierung“ oder „Versagung“ der Gebühren – und ich zitiere hier jetzt aus eine für VRR/StRR/RVGreport vorgesehenen Anmerkung -,

„wobei nicht ganz klar wird, ob das AG die auf alle Gebühren beziehen will – dafür spricht die Formulierung „Gebühren“ – oder nur auf die zusätzliche Verfahrensgebühr Nr. 5115 VV RVG – dafür spricht die Stellung der Ausführungen bei der „Erledigungsgebühr“.

M.E. kommt eine „Reduzierung“ oder gar „Versagung“ nicht in Betracht. Worauf will man die stützen? Vorab: Darüber wäre, wenn es denn zulässig sein sollte, auch nicht, was das AG richtig erkannt ha,t im Kostenfestsetzungsverfahren zu entscheiden, sondern im Rahmen des Erlasses der Kostengrundentscheidung; hinsichtlich der einmal erlassenen Kostengrundentscheidung besteht Bindungswirkung (vgl. Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Vorbem. 4 VV Rn 15 m.w.N.).

In Betracht käme daher als Ansatz allenfalls eine Nichtberücksichtigung der (vom AG als) rechtmissbräuchlich angesehenen Verteidigertätigkeiten, hier in Anlehnung an die Rechtsprechung der OLG zum versteckten Entbindungsantrag der „versteckte Einspruch, bei der Beurteilung des Umfangs der Tätigkeiten des Verteidiger. Ich warne allerdings vor einer solchen Diskussion. Denn mit ihr begibt man sich auf das schwierige Terrain der nachträglichen Beurteilung der Verteidigungsstrategie unter gebührenrechtlichen Gesichtspunkten. Damit tun sich Rechtsprechung und Literatur schon bei der Pauschgebühr des Pflichtverteidigers nach § 51 RVG schwer (vgl. dazu Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, § 51 Rn 23 ff. m.w.N.). Um so schwieriger ist es bei den allgemeinen Rahmengebühren. Es ist nicht Aufgabe der Gerichte nachträglich über die Verteidigungsstrategie zu befinden und die ggf. durch eine Gebührenminderung/-versagung abzustrafen. Das verstößt m.E. gegen die Unschuldsvermutung. Es geht ja auch nicht um einen Anspruch des Verteidigers, sondern um einen Erstattungsanspruch des Betroffenen bzw. im Strafverfahren des Angeklagten. Und der darf sich grundsätzlich in jeder Art und Weise verteidigen, so lange der Bereich angemessener und sinnvoller Verteidigung nicht überschritten wird (so auch OLG München RVGreport 2018, 450 = JurBüro 2018, 409). Und das ist bei dem hier vom AG monierten Verhalten – „versteckter Einspruch“ nicht der Fall. Sicherlich auch nicht deshalb, weil einige OLG das beim ähnlichen Fall des versteckten Entbindungsantrages nach § 73 OWiG so sehen (vgl. die Nachweise bei Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl., 2019, Rn 1402). Denn damit werden ggf. nur die Amtsrichter – oder wie hier die Bußgeldbehörden – unterstützt, die Anträge nicht oder nicht sorgfältig lesen. Und dass ein solches Verteidigerverhalten sinnvoll sein kann, zeigt der vorliegende Konstellation, die wegen des „übersehenen“ Einspruchs zur Einstellung des Verfahrens und zur Kostenerstattung geführt hat. Wenn die Bußgeldbehörde das hätte verhindern wollen, wäre es ihr unbenommen gewesen, das Verfahren nicht einzustellen sondern „fortzuführen“. Zudem scheidet bei der Nr. 5115 VV RVG eine Reduzierung von vornherein aus, weil es sich bei dieser Gebühr um eine Festgebühr handelt, wovon ja auch das AG zutreffend ausgeht.

3. Und: Erst recht zu widersprechen ist schließlich der Mitteilung des AG am Ende seiner Entscheidung:

Ungeachtet dessen wird die Akte aber der Staatsanwaltschaft zur ggf. berufsrechtlichen Prüfung des anwaltlichen Vorgehens übersandt werden.“

Ich frage mich, gegen welche berufsrechtliche Pflicht der Verteidiger verstoßen haben soll?

Insgesamt: Wehret den Anfängen.

EV III: (Keine) Akteneinsicht für Nebenklägerin, oder: Aussage-gegen-Aussage-Konstellation

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Und die dritte Entscheidung, der OLG Celle, Beschl. v. 13.08.2019 – 3 Ws 243/19, den mir der Kollege Lorenzen aus Bremen gesandt hat, behandelt eine Problematik, die in der Praxis immer wieder eine (große) Rolle spielt, nämlich: Akteneinsicht für Nebenkläger und/oder deren Versagung, vor allem in den Fällen der Aussage-gegen-Aussage Konstellation..

Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern. Hier hatte die Vertreterin der Nebenklägerin Beschwerde gegen eine Entscheidung der Vorsitzenden der Jugendschutzkammer, mit welcher ihr Antrag auf Gewährung von Akteneinsicht nach Maßgabe von § 406e Abs. 2 StPO mit der Begründung versagt worden war, die Akteneinsicht gefährde vor dem Hintergrund der jedenfalls in einzelnen Fällen vorliegenden Aussagegegen-Aussage-Konstellation den Untersuchungszweck und sei zum Vermeiden einer Beeinflussung von Zeugen daher geboten.

Das OLG hat die Entscheidung der Vorsitzenden der Jugendschutzkammer bestätigt:

„Die Entscheidung der Vorsitzenden der Jugendschutzkammer, der Nebenklägerin Akteneinsicht zu versagen, ist nicht zu beanstanden. Nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO kann die Akteneinsicht versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Nach überwiegender Auffassung ist dies insbesondere der Fall, wenn durch die Aktenkenntnis eines resp. einer Verletzten etwa bei Vorliegen einer Aussagegegen-Aussage-Konstellation eine Beeinträchtigung der gerichtlichen Sachaufklärung zu besorgen ist (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 62. Aufl., § 406e Rn. 12 m.w.N.). Die Entscheidung, ob Akteneinsicht verweigert wird, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint, erfolgt hierbei im pflichtgemäßen Ermessen, wobei der Gesetzgeber dem für die Entscheidung Zuständigen einen weiten Entscheidungsspielraum eröffnet hat (BGH HRRS 2005, Nr. 367) und es hierbei bereits genügen kann, dass nur schwache Anhaltspunkte für eine mögliche Gefährdung vorliegen (LR-Hilger, StPO 26. Aufl., § 406e Rn. 12 m.w.N.). Bei Vorliegen einer Aussagegegen-Aussage-Konstellation kann das Ermessen des Gerichts bereits auf Null reduziert sein (OLG Hamburg NStZ 2015,105 mit zust. Anmerkung von Radtke, NStZ 2015, 108; KK-StPO-Zabek, 8. Aufl., § 406e StPO Rn. 7). Die Gründe der angefochtenen Entscheidung zeigen, dass die Vorsitzende sich des anzulegenden Beurteilungsmaßstabs bewusst war und dass sie sich hierbei innerhalb des ihr zustehenden, weiten Ermessens- und Entscheidungsspielraums bewegt hat. Dass die Entscheidung der Vorsitzenden eher knapp begründet ist, könnte seine Rechtfertigung in der Regelung des § 406e Abs. 4 Satz 5 StPO finden.

Im Hinblick auf die Möglichkeit einer nur teilweisen Akteneinsicht hat die Vorsitzende im Rahmen ihrer Nichtabhilfeentscheidung zutreffend darauf hingewiesen, dass die vier mutmaßlich Geschädigten nach Aktenlage in Kontakt stehen und sich miteinander austauschen. Hierzu hat die Generalstaatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Zuschrift ausgeführt, dass auch eine Einsicht nur in bestimmte teile der Akten, die den Untersuchungszweck nicht gefährden würde, wegen der fehlenden Bereitschaft der Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin zur Abgabe einer Versicherung, mit der Beschwerdeführerin den Akteninhalt nicht zu erörtern, weder möglich noch in praktischer Hinsicht durchführbar sei. Dieser Einschätzung schließt der Senat sich an.“

Klassiker: Bewährung? So geht es über die Hürden…..

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Und dann noch eine Entscheidung des KG zu Bewährungsfragen. Nach dem gestern vorgestellten KG, Beschl. v. 03. 11. 2015 – (2) 161 Ss 233/15 (66/15) zur Frage der Berechnung des Ablaufs der Bewährungszeit (vgl. „Bewährungsversager“?, oder: Keine Verlängerung der Bewährungszeit zum Nachteil des Verurteilten), dann jetzt einen „Klassiker“. Nämlich noch einmal die Frage, welche Vorgaben für die Gewährung von Bewährung (§ 56 StGB) erfüllt sein müssen. Die beantwortet der KG, Beschl. v. 19.10.2015 – (3) 161 Ss 195/15 (107/15) – eben klassisch: Es ist keine sichere Gewähr und auch keine hohe Wahrscheinlichkeit für ein künftig straffreies Leben erforderlich, ausreichend ist, dass ein straffreies Verhalten wahrscheinlicher ist als neue Straftaten:

„2. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht dem Angeklagten die Strafaussetzung zur Bewährung versagt hat, weisen durchgreifende Rechtsfehler auf.

Bei der Beantwortung der Frage, ob der Angeklagte künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird (§ 56 Abs. 1 StGB), steht dem Tatrichter ein weiter Bewertungsspielraum zu, innerhalb dessen das Revisionsgericht jede Entscheidung bis zur Grenze des Vertretbaren hinzunehmen hat. Das Revisionsgericht kann nur eingreifen, wenn das Tatgericht Rechtsbegriffe verkannt oder sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt, d. h. unzutreffende Maßstäbe angewandt, nahe liegende Umstände übersehen oder festgestellte Umstände falsch gewichtet hat (Senat, Beschluss vom 29. August 2013 – (3) 121 Ss 168/13 (123/13) –; BGH, NStZ 2002, 312; Fischer, StGB, 62. Aufl. 2015, § 56 Rn. 11 m. w. N.). Gemessen daran hält die Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

Die Wendungen in dem angegriffenen Urteil, künftige Straftaten seien „nicht ausgeschlossen“ (VAS.6) bzw. ein straffreies Verhalten „nicht sicher zu erwarten“ (VAS. 7), sind jedenfalls bedenklich. § 56 Abs. 1 StGB verlangt keine sichere Gewähr für ein künftig straffreies Leben und auch keine hohe Wahrscheinlichkeit. Ausreichend ist, dass ein straffreies Verhalten wahrscheinlicher ist als neue Straftaten (BGH, NStZ-RR 2005, 38; NStZ 1997, 594). Ob das Landgericht einen davon abweichenden Maßstab anlegen wollte oder ob es sich nur um ein unschädliches Formulierungsversehen handelt, kann dahin stehen. Denn auch im Übrigen trägt die Begründung des Landgerichts die Versagung der Bewährung nicht.

Nach den Urteilsgründen hat der Angeklagte die letzte Tat, wegen der er im Jahr 2014 verurteilt wurde, im Februar 2013 begangen. Die seitdem verstrichene Zeit von mehr als zwei Jahren hat das Landgericht nicht als „Vorbewährung“ anerkannt, weil er ab dem Frühjahr 2013 also nach dem diesem Verfahren zugrunde liegenden Taten, bis zum Antritt einer Entzugsbehandlung mit anschließender Therapie im März 2015 massiv Cannabis konsumiert habe. Er habe dadurch gezeigt, dass er nicht fähig gewesen sei, sich rechtstreu zu verhalten und die gesetzlichen Bestimmungen des Betäubungsmittelrechts zu beachten. Ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz wird jedoch durch die Feststellungen nicht belegt. Der Konsum von Betäubungsmitteln ist als bloße Selbstgefährdung straflos. Allein der Konsum erlaubt ohne zusätzliche Feststellungen auch keinen Schluss auf einen strafbaren Besitz oder Erwerb von Betäubungsmitteln, da auch ein kostenloser Mitkonsum mit anderen Personen möglich ist (BGH, Beschluss vom 23. April 1999 – 3 StR 98/99 –, juris Rn. 4). Einen Zusammenhang zwischen dem Cannabiskonsum und anderen Straftaten hat das Landgericht ebenfalls nicht festgestellt. Bloße Elemente der Lebensführung, die in keinem erkennbaren Zusammenhang zur Tat stehen, dürfen aber nicht in die Prognoseentscheidung einbezogen werden (BGH, NStZ-RR 2007,  138 m. w. N.). Auf die Erfolgsaussichten der Therapie konnte es danach ebenfalls nicht maßgeblich ankommen.“

Den Maßstab muss man – als Verteidiger aber auch als Richter – im Auge behalten, wenn es um die Strafaussetzung zur Bewährung geht. Sonst „springt“ der Angeklagte ggf. nicht über die Hürde.

Auf den Altar des Opferschutzes, oder: Akteneinsicht für die Nebenklage

entnommen wikimedia.org Uploaded by Raymond

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Die mit der Akteneinsicht für den Verletzten/Nebenklage zusammenhängenden Fragen spielen derzeit in der Praxis eine erhebliche Rolle. Das OLG Hamburg hat sich damit in letzter Zeit in mehreren Entscheidungen auseinandergesetzt (vgl. Beschl. v. 24.10.2014 — 1 Ws 110/14 und v. 24.11. 2014 — 1 Ws 120/14 und OLG Hamburg, Beschl. v. 24.07.2015 – 1 Ws 88/15, zu dem letzten dann: Ausage-gegen-Aussage – dann gibt es keine Akteneinsicht für den Verletzten. Und sieht die Akteneinsicht für den Nebenkläger doch recht streng. Von einem Kollegen habe ich dazu den LG Leipzig, Beschl. v. 12.08.2015 – 1 Qs 195/15 – übersandt bekommen. Der ist in einem Verfahren mit dem Vorwurf der Vergewaltigung u. a. ergangen. Das LG Leispzig sieht die Frage der Akteneinsicht m.E. lockerer als das OLG Hamburg.

b) Die Nebenklägervertreterin hat ein Recht auf Akteneinsicht gemäß § 406e Abs. 1 S. 2 StPO i.V.m. § 395 StPO.

Es liegt kein Versagungsgrund im Sinne des § 406e Abs. 2 S. 1 StPO vor, da weder überwiegende schutzwürdige Interessen des Angeschuldigten entgegenstehen, noch der Untersuchungszweck gefährdet erscheint.

Bei der Beurteilung, ob der Untersuchungszweck bei einer Akteneinsicht durch einen Nebenklägervertreter gefährdet wäre, steht dem erkennenden Gericht ein weiter Ermessensspielraum zu (vgl. BGH, NJW 2005, S. 1519 f.).

Die Entscheidung des Amtsgerichts Leipzig, der Nebenklägervertreterin Akteneinsicht zu gewähren, bewegt sich noch im Rahmen dieses weiten Ermessensspielraumes.

Es sind auch keine Ermessensfehler erkennbar.

Das Amtsgericht Leipzig hat sich mit dem Versagungsgrund des § 406e Abs. 2 StPO auseinandergesetzt und kam unter Würdigung der vom Verteidiger zitierten Rechtsprechung des OLG Hamburg zu der vertretbaren Ermessensentscheidung, dass keine Ermessensreduzierung auf Null im vorliegenden Verfahren vorliege, da keine klassische Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vorliege, da weitere Beweismittel vorhanden seien.

Insoweit ist auch die Stellung des Nebenklägers im Verfahren zu berücksichtigen, der auch ohne die Darlegung eines berechtigten Interesses Akteneinsicht gemäß § 406e Abs. 1 S. 1 StPO über einen Rechtsanwalt beantragen kann und dem im gesamten Verfahren von der Erhebung der öffentlichen Klage an eine umfassende Beteiligungsbefugnis zusteht. Um diese Beteiligungsbefugnis wirksam ausüben zu können und seine Rechtsposition wahrnehmen zu können, hat der Nebenkläger grundsätzlich auch das Recht, Akteneinsicht gemäß § 406e Abs. 1 S. 1 StPO zu nehmen. Dieses besteht zwar nicht uneingeschränkt, insbesondere kann die Akteneinsicht versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint.

Die Formulierung als „Kann-Vorschrift“ eröffnet jedoch einen weiten Ermessensspielraum.

Insoweit ist dem Verteidiger zwar Recht zu geben, dass der Untersuchungszweck gefährdet erscheinen könnte, da der Aussage der Nebenklägerin im vorliegenden Verfahren trotz der vom Amtsgericht aufgeführten weiteren Beweismittel in gleicherweise entscheidende Bedeutung zukommen wird und bei einer Akteneinsicht der Nebenklägerin die Gefahr bestehen könnte, dass es zu einer Verfälschung der Aussage im dargelegten Umfang kommen könnte. Dieser möglichen Herabwertung des Beweiswertes einer Aussage der Nebenklägerin als Zeugin müssen sich das Amtsgericht Leipzig und auch die Nebenklägervertreterin bewusst sein. Insoweit bedeutet aber die Gewährung von Akteneinsicht an die Nebenklägervertreterin noch nicht zwingend, dass diese ihrer Mandantin Zugang zu den Akten gewährt. Diese Entscheidung wird die Nebenklägervertreterin in Bezug auf die mögliche Herabsetzung des Beweiswertes bei Akteneinsicht an ihre Mandantin nach Kenntnisnahme der Akte in eigener Verantwortung zu treffen haben.

Es würde jedoch eine zu große Einschränkung der Rechte eines Nebenklägers bedeuten, ihm in solchen Fällen, in denen seiner Aussage erheblichen auch möglicherweise entscheidender Beweiswert zukommt, grundsätzlich die Akteneinsicht zu versagen, da dies die Gefahr birgt, die Rechte des Nebenklägers in unzulässiger Weise auszuhöhlen.

Da – wie das Amtsgericht Leipzig zu Recht ausführt – im vorliegenden Verfahren weitere Beweismittel vorliegen, die bei der Würdigung der Zeugenaussage der Nebenklägerin zu berücksichtigen sein werden, ist eine Ermessensreduzierung auf Null in Bezug auf die vorliegende Konstellation aus den dargelegten Gründen nicht gegeben, so dass die Entscheidung des Amtsgerichts Leipzig sich noch im Rahmen des zulässigen Ermessens bewegt.“

Ich habe da so meine Zweifel, ob man das nicht im Interesse des Angeklagten anders – strenger – sehen muss. Aber – ich will es bewusst etwas provokativ formulieren: Auf dem „Altar des Opferschutzes“ werden die häufig geopfert.

Ausage-gegen-Aussage – dann gibt es keine Akteneinsicht für den Verletzten

© ernsthermann - Fotolia.com

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Heftig umstritten ist in Strafverfahren häufig die Frage der Akteneinsicht des Verletzten/Nebenklägers. Verteidiger tendieren – mit guten Gründen – dahin, dies eher restriktiv zu sehen, während „Opferanwälte“ – aus ihrer Sicht verständlich eher für ein „weites Akteneinsichtsrecht“ des Verletzten/Nebenklägers plädieren. Zu den Fragen hatte im vergangegen Jahr das OLG hamburg zwei Entscheidungen gemacht, die große Beachtung gefunden haben. Die Tendenz des OLG war m.E. eher restriktiv (vgl. Beschl. v. 24.10.2014 — 1 Ws 110/14 und v. 24.11. 2014 — 1 Ws 120/14).  Und die Tendenz setzt das OLG im OLG Hamburg, Beschl. v. 24.07.2015 – 1 Ws 88/15 – fort:

„aa) Der Untersuchungszweck im Sinne dieses gesetzlichen Versagungsgrundes ist gefährdet, wenn durch die Aktenkenntnis des Verletzten eine Beeinträchtigung der gerichtlichen Sachaufklärung (§ 244 Abs. 2 StPO) zu besorgen ist (vgl. nur BT-Drucks. 10/5305, S. 18). ….. Eine diesen Maßgaben verpflichtete Entscheidung führt hier wegen einer Reduzierung des gerichtlichen Ermessens auf Null zu einer weitgehenden Versagung der begehrten Akteneinsicht. Eine umfassende Einsicht in die Verfahrensakten ist dem Verletzten in aller Regel in solchen Konstellationen zu versagen, in denen seine Angaben zum Kerngeschehen von der Einlassung des Angeklagten abweichen und eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vorliegt.

bb) Die Beweiskonstellation von Aussage-gegen-Aussage erfährt ihr Gepräge durch eine Abweichung der Tatschilderung des Zeugen von der eines Angeklagten, ohne dass ergänzend auf weitere unmittelbar tatbezogene Beweismittel, etwa belastende Indizien wie Zeugenaussagen über Geräusche oder Verletzungsbilder zurückgegriffen werden kann (vgl. nur Sander, StV 2000, 45, 46; ders. in Löwe/Rosenberg, 26. Aufl., § 261 Rn. 83d m.w.N.; Schmandt, StraFo 2010, 446, 448 m.w.N.). Dieselbe Verfahrenskonstellation ist allerdings auch gegeben, wenn der Angeklagte selbst keine eigenen Angaben zum Tatvorwurf macht, sondern sich durch Schweigen verteidigt (vgl. etwa BGH, Urteil vom 6. Dezember 2012 — 4 StR 360/12, NStZ, 2013, 180, 181; ferner Sander, a.a.O.; Schmandt, a.a.O., m.w.N.).

cc) So liegt es hier zumindest betreffend das — den mit Blick auf die Spontanäußerungen des Angeklagten (vgl. BI. 3, 5, 6 und 55 d.A.) sowie angesichts von Zeugenaussagen (vgl. nur etwa die Aussage des Zeugen I , BI. 128 ff. d.A.) sowie durch das beim Angeklagten sichergestellte Tatwerkzeug hochwahrscheinlich vorgenommenen versuchten Tötungshandlungen vorangegangene — Tatvorgeschehen. Hierzu gibt es über die Angaben des Beschwerdeführers hinaus keine weiteren Zeugenaussagen oder sonstigen Beweismittel. Der Beschwerdeführer nimmt jeden Anlass für den Angeklagten zu einem körperlichen Übergriff in Abrede. Einen solchen legen allerdings die durch den Angeklagten abgesetzten Notrufe (vgl. BI. 32 d.A.) sowie Zeugenaussagen (vgl. etwa BI. 112 d.A.) und das dokumentierte Verletzungsbild beim Angeklagten nahe. Diesem kommt für die vom Tatgericht zu würdigenden etwaigen Rechtfertigungsgründe aber auch für die Strafbemessung (vgl. § 213 StGB) maßgebliche Bedeutung zu.“

M.E zutreffend.