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KCanG I: Neue „nicht geringe Menge“ bei Cannabis?, oder: Der Gesetzgeber interessiert uns nicht

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Es war zu erwarten, dass es nicht lange dauern würde, bis die ersten Entscheidungen zum neuen KCanG vorliegen würden. Viele Fragen in den gesetzlichen Neuregelung sind ungeklärt und/oder offen. Ich werde über ergehende Entscheidungen hier natürlich berichten, ich habe dafür extra eine neue Kategorie eingerichtet.

Meine Bitte: Wer interessante Entscheidungen erstritten hat, soll mir die bitte zukommen lassen. Am besten als PDF, ich bereite sie dann auf und stelle sie ein. So kann mit der Zeit ein schöner (?) Überblick entstehen.

Und dann: Zu diesem neuen Thema habe ich dann heute gleich zwei Entscheidungen, die ich vorstelle möchte. Die erste kommt mit dem OLG Hamburg, Beschl. v. 09.04.2024 – 5 Ws 19/24vom OLG Hamburg. Ergangen ist die Entscheidung in einem Haftbeschwerdeverfahren. Der Angeklagte befindet sich aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des AG Hamburg vom 13.06.2023 seit diesem Tag in Untersuchungshaft in der Untersuchungshaftanstalt Hamburg. Mit dem Haftbefehl wird ihm auf der Grundlage des alten Rechts zur Last gelegt, mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemeinschaftlich unerlaubt Handel getrieben zu haben (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, § 25 Abs. 2 StGB). Das Amtsgericht Hamburg hat den Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 1 Nr. 2 StPO) bejaht.

Inzwischen ist der Angeklagte am 04.10.2023 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, § 25 Abs. 2 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt worde. Zugleich ist die Fortdauer der Untersuchungshaft aus fortbestehenden Haftgründen nach Maßgabe der Verurteilung angeordnet worden. Nach den Feststellungen des AG handelte der Beschwerdeführer mit 72,01 g Marihuana mit einer Gesamtmenge von 10,21g THC. Strafschärfend ist die festgestellte gewerbsmäßige Begehung berücksichtigt worden.

Das LG hat die Berufungen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten mit Urteil vom 18.03.2024 verworfen und zugleich den Haftbefehl aufrechterhalten. Der Angeklagte hat Revision eingelegt.

Mit seiner Haftbeschwerde wendet sich der Angeklagte gegen den Haftfortdauerbeschluss. Nach den Neuerungen durch Inkrafttreten des KCanG am 01.04.2024 sei eine deutlich geringere Strafe nach Durchführung des Revisionsverfahrens zu verhängen. Es sei nicht zu erwarten, dass der sich seit über neun Monaten in Untersuchungshaft befindende Angeklagte diesen Zeitraum überschreitenden Freiheitsstrafe verurteilt würde, weshalb die Haftfortdauer unverhältnismäßig sei. Die Haftbeschwerde hatte keinen Erfolg:

„Das haftbefehlsgegenständliche Geschehen erfüllt den Tatbestand des unerlaubten Handels mit Cannabis (§ 34 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 4 KCanG) sowie die für die Annahme eines besonders schweren Falles normierten Regelbeispiele der Gewerbsmäßigkeit (§ 34 Abs. 3 Nr. 1 KCanG) und des Handels mit einer „nicht geringen Menge“ (§ 34 Abs. 3 Nr. 4 KCanG).

aa) Bei Marihuana handelt es sich um ein Produkt der Cannabispflanze, das nach den Begriffsbestimmungen des KCanG als „Cannabis“ erfasst wird (§ 1 Nr. 4 KCanG).

bb) Das vorgeworfene Tatgeschehen stellt sich auch als „Handeltreiben“ im Sinne der Neuregelung dar. Die in § 34 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 4 KCanG gewählte Bezeichnung der Tathandlung als „Handeltreiben“ unterscheidet sich begrifflich nicht von derjenigen des § 29 1 S. 1 Nr. 1, 3. Var. BtMG; auch hinsichtlich des Verbotszwecks sind Unterschiede nicht ersichtlich. Vielmehr handelt es sich insoweit offensichtlich um eine Übernahme des Regelungsregimes des BtMG, so dass die Grundsätze, die von der Rechtsprechung zur Auslegung des Begriffs des Handeltreibens i.S.d. § 29 Abs. 1 S.1 Nr.1 BtMG entwickelt wurden, auf § 2 Abs. 1 Nr. 4 KCanG übertragen werden können (so auch die Regierungsbegründung, vgl. BT-Drs. 20/8794, S. 94).

cc) Entsprechendes gilt für das in § 34 Abs. 3 Nr. 1 KCanG normierte Regelbeispiel der Gewerbsmäßigkeit, so dass auch insoweit davon auszugehen ist, dass gerwerbsmäßig handelt, wer die Absicht hat, sich durch wiederholte Tatbegehung eine fortlaufende Einnahmequelle von einiger Dauer und einigem Umfang zu verschaffen (st. Rspr. zu § 29 3 S. 2 Nr. 1 BtMG, vgl. die Nachweise bei Patzak/Volkmer/Fabricius, BtMG, Rn. 1644 zu § 29 BtMG). Diese Voraussetzungen erfüllt das haftbefehlsgegenständliche Tatgeschehen, insbesondere im Hinblick auf die vorausgegangene Verurteilung wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln vom 22. März 2023 und die vorliegend festgestellten Tatmodalitäten, die beinhalten, dass der Beschwerdeführer und der Mitangeklagte Arslan das Marihuana in insgesamt 54 Gripbeuteln, verteilt auf verschiedene Depots, zum Verkauf bereit hielten.

dd) Zudem ist das in § 34 Abs. 3 Nr. 4 KCanG normierte Regelbeispiel des Handels mit Cannabis in „nicht geringer Menge“ vorliegend erfüllt. Der Gesetzgeber hat dabei von der Möglichkeit, den Begriff der „nicht geringen Menge“ cannabisspezifisch zu definieren, keinen Gebrauch gemacht und hat insbesondere keine Konkretisierung durch einen Grenzwert vorgenommen. Stattdessen hat er die Bestimmung eines solchen Wertes ausdrücklich der Rechtsprechung überlassen (vgl. BT-Drs. 20/8704, S. 132). Der Senat geht davon aus, dass der Grenzwert für die nicht geringe Menge Cannabis – wie zuvor unter dem Regelungsregime des BtMG – bei einer Cannabismenge vorliegt, deren Wirkstoffanteil bei mindestens 7,5 g THC liegt. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

(1) Auch unter Geltung des BtMG war die nähere Bestimmung der „nicht geringen Menge“ der Rechtsprechung überlassen. Diese Bestimmung hat der BGH in seinem Urteil vom 18. Juli 1984 – 3 StR 183/84 (NJW 1985, 1404) dahingehend vorgenommen, dass der Grenzwert bei einer Mindestwirkstoffmenge von 7,5 g THC erreicht ist. Auf einen Vorlagebeschluss des Schleswig-Holsteinischen OLG hat der BGH diese Grenzziehung mit Beschluss vom 20. Dezember 1995 – 3 StR 245/95 (NJW 1996, 794) bestätigt und gegen Einwände verteidigt. Diesen Entscheidungen lag die Erwägung zugrunde, dass der Grenzwert für die „nicht geringe Menge“ eines bestimmten Betäubungsmittels stets in Abhängigkeit von dessen konkreter Wirkungsweise und Intensität festzulegen ist. Maßgeblich ist danach zunächst die äußerst gefährliche, gar tödliche Dosis des Wirkstoffs. Lässt sich eine solche Dosis – wie bei Cannabis – sachverständig nicht oder nicht hinreichend sicher feststellen, so errechnet sich der Grenzwert ausgehend von der Menge einer durchschnittlichen Konsumeinheit eines nicht an den Genuss der Droge gewöhnten Konsumenten als ein Vielfaches dieses Wertes, wobei das Maß der Vervielfachung nach Maßgabe der Gefährlichkeit des Stoffes, insbesondere seines Abhängigkeiten auslösenden oder sonst gesundheitsschädigenden Potentials zu bestimmen ist. Der BGH ist insoweit – sachverständig beraten – davon ausgegangen, dass eine durchschnittliche Konsumeinheit Cannabis bei einer THC-Menge von 15 mg anzusetzen ist. Als Maß der Vervielfachung dieses Wertes hat der BGH in den vorgenannten Entscheidungen den Faktor 500 gewählt, wobei der Wahl dieses Faktors ein Abgleich mit der – als weitaus höher angenommenen und mit dem Faktor 150 bemessenen – Gefährlichkeit von Heroin zugrunde liegt (vgl. im Einzelnen BGH, Urteil vom 18. Juli 1984 – 3 StR 183/84, unter I.1.d) der Urteilsgründe). Dies führt zu einer Menge von 500 x 15 mg, mithin 7,5 g. Soweit der BGH sich zur Bemessung des Faktors der Vervielfachung auf Fragen der Gefährlichkeit gestützt hat, ist er im Anschluss an den Beschluss des BVerfG vom 9. März 1994 – 2 BvL 43/92 (BVerfGE 90, 145 ff.) von Folgendem ausgegangen (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Dezember 1995 – 3 StR 245/95, Rn. 16 bis 18):

„Danach wird eine körperliche Abhängigkeit von Cannabis wohl nicht hervorgerufen; die unmittelbaren gesundheitlichen Schäden bei mäßigem Genuss werden als eher gering angesehen. Jedoch wird die Möglichkeit einer psychischen Abhängigkeit kaum bestritten, wenn auch das Suchtpotential der Cannabisprodukte zu Verhaltensstörungen, Lethargie, Gleichgültigkeit, Angstgefühlen, Realitätsverlust und Depressionen führen; gerade das vermag die Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen nachhaltig zu stören. […] Hinzu kommen die durch Cannabisgebrauch für die Sicherheit des Straßenverkehrs entstehenden Gefahren. […] Neben typischen Rauschverläufen werden […] nach gesicherten Erkenntnisses der medizinischen Wissenschaft auch atypische Rauschverläufe beschrieben „mit psychopathologischen Störungen wie z.B. Angst, Panik, innere Unruhe, Verwirrtheit, Halluzinationen, Größenverzerrungen“, […] die also auch schon bei einem einzigen Rausch auftreten können“.

Dieser vom BGH vorgenommenen Grenzziehung für die „nicht geringe Menge“ Cannabis i.R.d. § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG ist die Instanzrechtsprechung praktisch ausnahmslos gefolgt, so dass bislang von einer insoweit gefestigten Rechtslage ausgegangen werden konnte.

(2) Der Senat sieht keinen Anlass, durch die Neuregelung in § 34 KCanG Veränderungen an dieser Grenzziehung vorzunehmen. Die Regelung in § 34 Abs. 3 Nr. 4 KCanG knüpft hinsichtlich des Wortlauts ohne jegliche Änderungen an die Regelung in § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG an. Auch das Ziel der Regelung entspricht derjenigen des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG. Die Intention des Gesetzes besteht ausweislich der Regierungsbegründung darin, eine kontrollierte und kontrollierbare Qualität der Cannabisprodukte zum Schutz von Konsumenten und so insgesamt einen verbesserten Gesundheitsschutz zu erreichen. Hierzu sollen der illegale Markt eingedämmt sowie die cannabisbezogene Aufklärung und Prävention gleichsam mit dem Kinder- und Jugendschutz gestärkt werden (vgl. BT-Drs. 20/8704, S. 1). Das Ziel der strafschärfenden Berücksichtigung des Handels mit einer nicht geringen Menge Cannabis liege darin, dass hierdurch „insbesondere gefördert wird, dass Cannabis in einem nicht geringen Ausmaß illegal in den Verkehr kommt bzw. in ihm bleibt“. Es geht mithin – wie im Falle des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG – um die Verhinderung eines erhöhten Gefahrenpotentials, das sich aus der Ansammlung einer erhöhten (und unkontrollierten) Drogenmenge ergibt (vgl. Patzak/Volkmer/Fabricius, BtMG, Rn. 35 zu § 29a BtMG m.w.N.).

Wohl lässt sich dem Gesetz entnehmen, dass der Gesetzgeber den Handel mit Cannabis in nicht geringer Menge nunmehr für weniger strafwürdig hält als vormals unter Geltung des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, denn dies folgt bereits daraus, dass die Mindeststrafe von vormals einem Jahr auf nunmehr drei Monate Freiheitsstrafe abgesenkt wurde. Daraus ergeben sich aber keine Folgerungen für die Frage, ab welcher Mengengrenze der Handel mit Cannabis der gegenüber dem Grundtatbestand verschärften Strafandrohung des § 34 Abs. 3 Nr. 4 KCanG unterliegen soll.

Soweit die Gesetzesbegründung die Erwartung an die Rechtsprechung formuliert, dass der konkrete Wert einer nicht geringen Menge „aufgrund der geänderten Risikobewertung zu entwickeln“ sein werde, und dass man „im Lichte der legalisierten Mengen an der bisherigen Definition der nicht geringen Menge nicht mehr festhalten“ könne, der Grenzwert also im Ergebnis „deutlich höher liegen [müsse] als in der Vergangenheit“ (BT-Drs. 20/8704, S. 132), folgt der Senat dem nicht. Die Regierungsbegründung verhält sich nicht klar dazu, worin die „geänderte Risikobewertung“ von Cannabis liegt. Wie oben ausgeführt, beruht die vom BGH vorgenommene Festlegung der Grenze auf 7,5 g THC auf einer bestimmten, auch sachverständig vermittelten Einschätzung der Menge einer Konsumeinheit und der Gefährlichkeit von Cannabis. Dass sich an diesen wissenschaftlichen Grundlagen der Einschätzung etwas geändert hätte, ist weder dem KCanG selbst, noch den zur Auslegung heranzuziehenden Gesetzesmaterialien zu entnehmen. Auf die (unveränderten) Gesundheitsrisiken weist die Regierungsbegründung schließlich auch hin (BT-Drs. 20/8704, S. 68):

„Wie bei anderen psychoaktiven Substanzen auch, ist der Konsum von Cannabis mit gesundheitlichen Risiken, wie beispielsweise cannabisinduzierte Psychosen, verbunden. […] Beim Konsum von Cannabis sind junge Altersgruppen besonderen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Solange die Gehirnentwicklung noch nicht vollständig abgeschlossen ist, kann die Gedächtnisleistung nachhaltig beeinträchtigt werden. Dies gilt insbesondere bei einem früh einsetzenden regelmäßigen Konsum und bei einem Konsum von Cannabis mit einem hohen THC-Gehalt. Zudem bringt regelmäßiger Konsum im jungen Alter besondere gesundheitliche Risiken mit sich“.

Auch „im Lichte der legalisierten Mengen“ (BT-Drs. 20/8704, S. 132) muss der durch den BGH zum BtMG wirkstoffbezogen festgelegte Grenzwert von 7,5 g THC für die „nicht geringe Menge“ an Cannabis nicht geändert, gar erhöht werden, um die mit dem KCanG bezweckte Entkriminalisierung des Besitzes von Cannabis – bis zu einer Menge von 25 g bzw. 50 g Cannabis (§ 3, § 1 Nr. 16 KCanG) – zu erreichen. Soweit argumentiert wird, dass die Grenze zur nicht geringen Menge einen Abstand zu den erlaubten Besitzmengen (§ 34 Abs. 1 Nr. 1 KCanG) wahren müsse, ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber die vorbenannten Besitzmengen gerade nicht wirkstoffbezogen festgelegt hat. In Anbetracht der vorkommenden Variationsbreite beim Wirkstoffgehalt werden in der Praxis regelmäßig (strafbare) Besitzmengen vorkommen, deren THC-Gehalt den Grenzwert von 7,5 g THC unterschreiten, so dass gegen die hier vorgenommene Grenzziehung nicht eingewandt werden kann, dass der Besitz einer gerade eben strafbaren Menge Cannabis – also geringfügig mehr als 60 g – stets auch das Regelbeispiel des § 34 Abs. 3 Nr. 4 KCanG verwirklicht.

Das KCanG bezweckt zudem lediglich, den Konsumenten zu privilegieren. Demgegenüber bleibt das Handeltreiben mit Cannabis strafbar, ohne dass es hierfür einer Mindestmenge bedarf.

Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass sich die zitierte Erwartung des Gesetzgebers, dass eine Neufestlegung des Grenzwerts geboten sei, die zudem zu einem deutlich höheren Wert führen müsse, keinen hinreichenden Niederschlag im Gesetzeswortlaut gefunden hat. Sie findet sich weder bei der Formulierung des Regelbeispiels des Handels mit einer „nicht geringen Menge“ wieder, noch hat der Gesetzgeber die Kriterien für die Festlegung des Grenzwerts neubestimmt, oder gar einen Grenzwert selbst vorgegeben. Vor diesem Hintergrund erschiene jede Neufestsetzung des Grenzwerts unter Ansatz eines höheren Multiplikators willkürlich. Eine Erhöhung des Grenzwertes liefe dem Ziel, den Markt für illegal gehandelte Cannabisprodukte einzudämmen, zuwider.

4. Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Fluchtgefahr ist gegeben, wenn bei Würdigung der Umstände des Falles aufgrund bestimmter Tatsachen eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich – zumindest für eine gewisse Zeit – dem Strafverfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde am Verfahren teilnehmen. So liegt es hier. Bereits in der Straferwartung liegt ein erheblicher Anreiz zur Flucht für den Beschwerdeführer, dem mit Blick auf den gemäß § 34 Abs. 3 KCanG eröffneten Strafrahmen von drei Monaten bis zu fünf Jahren (weiterhin) eine Straftat von einigem Gewicht vorgeworfen wird. Dabei wirkt sich erschwerend aus, dass dem Beschwerdeführer die Verwirklichung zweier Regelbeispiele zur Last gelegt wird. Er hat mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen, zumal er erst am 22. März 2023 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Kokain) in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten mit Aussetzung zur Bewährung verurteilt worden ist. Die in dem vorgenannten Verfahren erlittene, knapp viermonatige Untersuchungshaft hat den Beschwerdeführer zudem offenbar nicht nachhaltig beeindruckt. Der Fluchtanreiz erhöht sich zudem dadurch, dass der Beschwerdeführer hinsichtlich der Vorverurteilung den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung zu befürchten hat.

Dem aus der Straferwartung folgenden Fluchtanreiz stehen keine hinreichend belastbaren fluchthemmenden Umstände entgegen. Der recht junge Beschwerdeführer ist ledig, kinderlos und verfügt über keine nennenswerten sozialen Bindungen. Er lebt ohne festen Wohnsitz in Deutschland. Das Asylverfahren ist eingestellt worden. Nach Auslaufen der Aufenthaltsgestattung bis zum 8. Juni 2023 hat das Amt für Migration auch erst aufgrund der erbetenen Auskunftserteilung an das Landgericht eine Duldung bis zum 27. Mai 2024 erteilt. Ein Interesse an der Legalisierung seines Aufenthaltes hat der Beschwerdeführer eigeninitiativ nicht gezeigt. Im Falle der Haftentlassung ist daher auch eher mit seinem Untertauchen zu rechnen.

5. Vor diesem Hintergrund kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden (§ 116 StPO).

6. Die Fortdauer der – mittlerweile seit nahezu zehn Monaten vollzogenen – Untersuchungshaft steht nach alledem auch nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 S. 1 StPO). Insbesondere liegt nicht nahe, dass die Dauer der Untersuchungshaft die zu erwartende – unbedingte – Freiheitsstrafe annährend erreicht oder übersteigt.“

Dazu nur kurz zwei Fragen:

1. Man hätte es auch kürzer machen können bzw. man fragt sich, warum das OLG so viel schreibt. Warum hat man es sich nicht einfach gemacht und nur geschrieben: „Was der Gesetzgeber will und möchte, interessiert uns nicht. Es bleibt bei der Festlegung der „geringen Menge“ alles beim Alten.“

Man wird sehen, was der BGH macht, denn auf ihn und seine Entscheidung wird es ankommen. Bis dahin wird es in der Frage ein fröhliches „Hauen und Stechen“ geben.

2. Genau so schlimm finde ich den labidaren Satz des OLG zur Verhältnismäßigkeit. Festgesetzt ist eine Freiheitsstrafe von 16 Monaten, die sich, da nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, nicht mehr erhöhen kann (Stichwort: Verschlechterungsverbot). Davon sind rund 10 Monate bereits in U-Haft „vollstreckt“. Es bleibt also noch eine Reststrafe von maximal sechs Monaten. Und da meint das OLG tatsächlich: „nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe“. Wirklich? Irgendwie scheint mir da jedes maß verloren gegangen zu sein. Ich bin froh, dass ich Mitglied in einem solchen Senat nicht bin und auch nicht war.

Im Übrigen ist klar, was mit der Revision des Angeklagten passieren wird. Man wird sie verwerfen.

Haft II: Verhältnismäßige einstweilige Unterbringung?, oder: Betreuungsrechtliche Unterbringung

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In der zweiten Haftentscheidung geht es um die einstweilige Unterbringung (§ 126a StPO) eines Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft hatte die beantragt, das LG hat abgelehnt. Die dagegen gerichteten Beschwerde hat das OLG Hamm mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 06.02.2024 – 5 Ws 14/24 – zurückgewiesen. Nach seiner Auffassung wäre die einstweilige Unterbringung des Angeklagten, bei dem bereits eine länger andauernde betreuungsrechtliche Unterbringung (§ 1831 BGB) existiert, unverhältnismäßig:

„3. Allerdings fehlt es für die Anordnung der einstweiligen Unterbringung an der Verhältnismäßigkeit, da der Schutz der Allgemeinheit vor der Beschuldigten derzeit durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden kann. Grundsätzlich bedarf es nach höchstrichterlicher Rechtsprechung vor einer einstweiligen Unterbringung einer näheren Prüfung, ob einer verbliebenen Gefährlichkeit nicht durch eine Betreuung nebst Unterbringung entgegengewirkt werden kann (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8. 12. 2011 ? 2 BvR 2181/11 = NJW 2012, 513, beckonline). Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus kommt nur dann als letztes Mittel in Betracht, wenn (therapeutische und sichernde) Maßnahmen außerhalb des Maßregelvollzugs keinen ausreichend zuverlässigen Schutz vor der Gefährlichkeit des Täters bieten. Ist der Betroffene bereits auf anderer Rechtsgrundlage untergebracht, ist zudem erforderlich, dass andere organisatorische Möglichkeiten der außerstrafrechtlichen Maßnahmen zur Einschränkung der Gefährlichkeit ausgeschöpft werden. Strafrechtliche Maßnahmen können erst als letztes Mittel in Betracht kommen (vgl. BGH, Urteil vom 04.08.1998 – 5 StR 223/98 = NStZ-RR 1998, 359, beckonline). Bei schon vorliegender Heimunterbringung sind vor einer Unterbringung im Maßregelvollzug zunächst andere organisatorische und außerstrafrechtliche Mittel auszuschöpfen (vgl. Fischer, a.a.O., § 63, Rn. 49). Es muss geprüft werden, ob eine (einstweilige) Unterbringung im Maßregelvollzug unterbleiben kann, weil andere, weniger einschneidende organisatorische Vorkehrungen innerhalb der geschlossenen Pflegeeinrichtung einen genügenden Schutz für andere Heimbewohner bieten und die ausgehende Gefahr für Mitpatienten in vertretbarer Weise abgemildert werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 04.08.1998 – 5 StR 223/98 = NStZ-RR 1998, 359, beckonline).

Unter Berücksichtigung der Gesamtumstände ist es derzeit noch unverhältnismäßig, die Beschuldigte einstweilen forensisch unterzubringen; im Einzelnen:

a) Zunächst ist hier zu berücksichtigen, dass die erheblichen Anlasstaten vom 20.10.2022 bereits über ein Jahr zurückliegen und seit der Anlasstat vom 04.04.2023 keine weiteren Taten mehr aktenkundig geworden sind. Dieser zeitliche Horizont gepaart mit dem Umstand, dass der Beschuldigten auch während des 10-jährigen Zeitraums der geschlossenen Heimunterbringung vor der ersten Anlasstat keine schweren Gewaltdelikte vorgeworfen wurden, spricht dafür, dass derzeit die von ihr ausgehende Gefahr sich mehr im Bereich der Eigen- als der Fremdgefährdung bewegt. Das deckt sich im Übrigen auch mit den Einschätzungen der Mitarbeiterinnen des LWL Wohnheims gegenüber dem Sachverständigen Z. in dem forensischen Gutachten vom 15.09.2023 (dort S. 11). Die derzeit von der Beschuldigten ausgehende Gefahr dürfte auch dadurch abgemildert sein, dass sie nach den aktenkundigen Angaben von Mitarbeiterinnen des Wohnverbundes seit den vorgeworfenen Taten mehrfach in – wenn auch eigengefährdenden – Krisensituationen eigeninitiativ nach (zusätzlicher) sedierender Medikation gefragt bzw. sich freiwillig in den Kriseninterventionsraum begeben hat.

b) Des Weiteren mutet die Einschätzung des LWL Wohnverbundes in R. (zuletzt in der Stellungnahme vom 19.12.2023) widersprüchlich an, da der Beschuldigten auf der einen Seite eine massive Fremdgefährdung bescheinigt wird, auf der anderen Seite aber wöchentlich vier (wohl unbegleitete) Stadtausgänge genehmigt werden. In die Prognose für die aktuelle Fremdgefährdung dürfte insoweit auch einzubeziehen sein, dass es bei den Stadtausgängen offenbar zu keinerlei fremdaggressiven Zwischenfällen kommt.

c) Auch die zeitliche Befristung der betreuungsrechtlichen Unterbringung der Beschuldigten macht die Anordnung der Unterbringung nach § 126a StPO hier nicht erforderlich (vgl. zu anderen Fallkonstellationen im Rahmen des PsychKG NRW OLG Hamm Beschl. v. 9.6.2020 – 4 Ws 95/20, BeckRS 2020, 13095 33, beckonline; LG Kleve, Beschluss vom 07.07.2011 – 120 Qs-306 Js 392/11/65/11; LG Kleve Beschl. v. 7.7.2011 – 120 Qs-306 Js 392/11/65/11, BeckRS 2011, 20279, beckonline). Hier ist zu berücksichtigen, dass die derzeitige Unterbringung auf der Grundlage von § 1831 BGB bis zum 07.12.2024 befristet ist und somit vom Zeithorizont her die Gemeingefährlichkeit der Beschuldigten für einen Zeitraum abmildert, der länger wäre als beim einstweiligen Unterbringungsbefehl nach § 126a StPO unter Berücksichtigung der Fristen der §§ 121, 122 StPO.

d) Der Senat verkennt nicht, dass die zivilrechtliche Unterbringung nach § 1831 BGB auf der Grundlage des Beschlusses des Amtsgerichts Marsberg vom 07.12.2023 keine Handhabe bietet, die Beschuldigte bei Fremdgefährdung in einem Kriseninterventionsraum abzuschirmen, da dieser entsprechend den Vorgaben von § 1831 BGB nur bei Eigengefährdung eingreift. Indes ist zu berücksichtigen, dass für den Fall einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen Mitbewohnern neben einer Fremdgefährdung der Beschuldigten regelmäßig auch eine Eigengefährdung vorliegen dürfte, sodass der genannte Beschluss als Ermächtigungsgrundlage für einen Freiheitsentzug im Kriseninterventionsraum dienen könnte. Zudem ist – davon geht der Senat mangels anderer Angaben aus – nicht einmal versucht worden, auf der Grundlage des PsychKG NRW für die Fälle der Fremdgefährdung eine Ermächtigung i.S.v. § 20 Abs. i Nr. 2 und 4 PsychKG NRW für eine Unterbringung in einem Kriseninterventionsraum bzw. eine Fixierung zu erreichen. Trotz § 1 Abs. 3 PsychKG NRW erscheint ein solcher Antrag zulässig, da er über den Anwendungsbereich von § 1831 BGB hinaus zur Abwehr einer Fremdgefahr gedacht wäre (vgl. zur Anwendung der öffentlichrechtlichen Vorschriften bei Fremdgefahr neben der Selbstgefahr: BeckOK BGB/Müller-Engels, 68. Ed. 1.11.2023, BGB § 1831 28; LG Hildesheim, Beschluss vom 14. Januar 1994 – 5 T 720/93 -, Rn. 6 – 8, juris).“

StPO I: Durchsuchungsgrundlage anonymer Hinweis, oder: Abwarten bis zur richterlichen Entscheidung

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Und heute dann dreimal StPO, und zwar fünf Entscheidungen, zwei aus dem Ermittlungsverfahren, zwei aus dem Bereich der Hauptverhandlung und eine zum Urteil.

Ich beginne mit den beiden Entscheidungen aus dem Ermittlungsverfahren. Beide betreffen die Durchsuchung. Zu beiden stelle ich aber nur die Leitsätze vor, da die Fragen schon häufiger Gegenstand der Berichterstattung waren. Hier sind dann:

1. Eine anonyme Anzeige über ein Hinweisgebersystem kann eine für die Anordnung einer Durchsuchung gemäß § 102 StPO ausreichende Verdachtsgrundlage bieten.
2. Eine derartige Anzeige muss von beträchtlicher sachlicher Qualität sein oder es muss mit ihr zusammen schlüssiges Tatsachenmaterial vorgelegt worden sein.
3. In diesen Fällen müssen die Eingriffsvoraussetzungen des § 102 StPO besonders sorgfältig geprüft werden.

1. Eine noch nicht erlassene Durchsuchungsanordnung kann zeitlich vor ihr liegende Rechtseingriffe nicht rechtfertigen. Grundlage der Maßnahmen ist eine indes eigene Anordnung der Ermittlungspersonen, die diese im Rahmen der Eilzuständigkeit aus §§ 103, 105 Abs. 1 S. 1 HS 2 StPO gegenüber dem Beschwerdeführer getroffen haben.
2. Es entspricht ggf. dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, eine Durchsuchung zunächst nicht durchzuführen, sondern sich bis zu einer richterlichen Entscheidung auf weniger eingreifende Sicherungsmaßnahmen in eigener Kompetenz zu beschränken.
3. Auf diese Weise kann die Beachtung des Richtervorbehalts aus § 105 Abs. 1 S. 1 StPO trotz gegebener Gefahr im Verzug gewahrt bleiben.

Verkehr III: Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, oder: Nicht mehr nach (mehr) als 6 Monaten

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Und im dritten Posting dann noch eine Entscheidungen zur Entziehung der Fahrerlaubnis nach unerlaubtem Entfernen vom Unfallort. Hier aber keine speziellle „§-142-er-Problematik“, sondern eine allgemeine Verhältnismäßigkeitsfrage,

In dem Verfahren wird dem Angeklagten mit der Anklage vom 19.05.2023 eine am 26.10.2022 begangene fahrlässige Körperverletzung im Straßenverkehr und anschließendes unerlaubtes Entfernen zur Last geleg. Die StA hat erstmals mit der Anklage Antrag auf vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis gestellt.

Den hat das AG dann jetzt mit AG Bautzen, Beschl. v. 25.01.2024 – 40 Ds 620 Js 31577/22 – zugleich mit der Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt:

„Der Antrag der Staatsanwaltschaft Görlitz auf vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis war abzulehnen. Die Vorschrift des § 111a StPO bietet im Wege einer vorläufigen Maßnahme die Möglichkeit, die Allgemeinheit vor den Gefahren durch ungeeignete Kraftfahrer bereits vor einer Endentscheidung zu schützen. Zwar steht einer entsprechenden Beschlussfassung des Ge¬richts nicht im Wege, dass die Staatsanwaltschaft die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis erst längere Zeit nach Tatbegehung beantragt hat (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO 65. A, 111a, RZ 1, 3).

In dem hier vorliegenden Fall ist der Antrag auf vorläufige Entziehung erst 6 Monate nach dem Unfallereignis beantragt worden. Seit dem Unfall am 26.10.2022 sind keine weiteren verkehrs-rechtsrelevanten Vorkommnisse verursacht durch den Angeklagten bekannt geworden. Der Angeklagte ist Berufskraftfahrer und auf die Fahrerlaubnis angewiesen. Für eine vorläufige Entziehung ist daher kein Raum (Beschluss LG Görlitz 3 Qs 162/23).

Nach allem war der Antrag daher – zum derzeitigen Zeitpunkt – abzulehnen.“

Verhältnismäßigkeit einer Abschleppmaßnahme, oder: „Du hättest mich ja zunächst mal anrufen können.“

Die zweite Entscheidung kommt dann aus dem Verkehrsverwaltungsrecht, und zwar geht es in dem VG Düsseldorf, Urt. v. 25.09.2023 – 14 K 2723/22 – noch einmal um die Rechtmäßigkeit einer Abschleppmaßnahme.

Die Klägerin ist Halterin einer Containerchassis/Auflieger. Die beklagte Gemeinde erhielt am 13.02.2022 von der Kreispolizeibehörde die Mitteilung, dass bei dieser mehrere Beschwerden wegen eines auf der Y.-straße/ Ecke M.-straße verbotswidrig abgestellten Chassis eingegangen sind.

Eine unmittelbar entsandte Mitarbeiterin der Beklagten fand den Auflieger vor Ort entgegen der Fahrtrichtung auf der Straße kurz vor einer Kurve geparkt vor. Er stand somit nicht am rechten Fahrbahnrand. Der fließende Verkehr fuhr dadurch nicht auf den hinteren Teil des Chassis zu, an dem sich die Rückleuchten und Reflektoren befinden, sondern auf die unbeleuchtete Verbindungsstange. In unmittelbarer Umgebung des Chassis befand sich kein Verantwortlicher.

Der Auflieger wurde auf Veranlassung der Beklagten am Tag der Kenntniserlangung gegen 15:00 Uhr durch einen Abschleppdienst abgeschleppt und zum Firmengelände gebracht. Von dort wurde er dann von der Klägerin am 15.02.2022 gegen Zahlung der Abschleppkosten in Höhe von 440,30 EUR beim Abschleppunternehmer abgeholt.

Die Beklagte hat von der Klägerin für den Abschleppvorgang eine Verwaltungsgebühr in Höhe von 50,00 EUR gefordert. Dagegen die Klage, zu deren Begründungim Wesentlichen ausgeführt wird, das sofortige Abschleppen ohne vorherige Halterabfrage und Kontaktaufnahme zur Halterin sei unverhältnismäßig gewesen. Die Halterin hätte sofort ohne zeitliche Verzögerung ermittelt werden können. Am Unterfahrschutz des Chassis sei auf jeder Seite eine deutlich sichtbare Werbung mit der Büro Telefonnummer der Klägerin angebracht. Hinten am Heck des Chassis stehe zusätzlich eine Stellenanzeige mit Angabe der Handynummer des Geschäftsführers der Klägerin.

Die Klage hatte keinen Erfolg. Das VG führtzur Verhältnismäßigkeit aus:

„Die durchgeführte Abschleppmaßnahme war verhältnismäßig (§ 15 OBG NRW). Das Abschleppen war zur Abwehr der bereits eingetretenen und noch andauernden Störung durch das rechtswidrig abgestellte Chassis geeignet.

Es war auch erforderlich, da andere, die Klägerin weniger beeinträchtigende, ebenso effektive Mittel zur Beseitigung des Rechtsverstoßes nicht zur Verfügung standen. Insbesondere konnte die Klägerin den Auflieger nicht selbst entfernen. Zwischen den Beteiligten ist unbestritten, dass sich im maßgeblichen Zeitpunkt der Gefahrenbeseitigung in unmittelbarer Umgebung kein Verantwortlicher befand.

Die Beklagte war jedoch nicht dazu verpflichtet, vor Einleitung der Abschleppmaßnahme die Halterin des Chassis ausfindig zu machen. Denn sofern sich ein unbekannter Fahrer – wie im vorliegenden Fall – von dem verbotswidrig geparkten Fahrzeug entfernt und deshalb nicht unmittelbar wie jemand zur Verfügung steht, der sich in Ruf- oder Sichtweite seines Fahrzeugs aufhält, sind grundsätzlich keine Ermittlungen nach dem Verbleib des Verantwortlichen zu veranlassen, weil deren Erfolg zweifelhaft ist und zu nicht abzusehenden Verzögerungen führt.
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Februar 2002 – 3 B 149.01 -, Rn. 6 ff., juris; OVG Hamburg, Urteil vom 22. Mai 2005 – 3 Bf 25/02 -, Rn. 36, juris; VGH Bayern, Urteil vom 16. Januar 2001- 24 B 99.1571 -, Rn. 36, juris; VGH Hessen, Urteil vom 11.11.1997 – 11 UE 3450/95 -, Rn. 27, juris; VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 27. Juli 2009 – 14 K 1421/09 -; VG Köln, Urteil vom 11. Oktober 2007 – 20 K 2162/06 -, Rn. 22, juris; VG Düsseldorf, Beschluss vom 1. Dezember 2022 – 14 K 1640 -, Rn. 17 juris.

Entgegen der Auffassung der Klägerin lag auch kein besonders gelagerter Ausnahmefall vor. Die Klägerin war nicht sofort mühelos und ohne Zeitverzögerung auffindbar. Für die Annahme einer Nachforschungspflicht der Beklagten müssten erkennbare Umstände vorgelegen haben, die darauf hindeuteten, dass sich der Verantwortliche in unmittelbarer Nähe des verkehrswidrig abgestellten Fahrzeugs befindet oder innerhalb einer absehbaren Zeit dort erscheinen würde.
Vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 8. November 2016 – 14 K 8007/15 -, juris Rn. 49, 50.

Der Umstand, dass an dem Unterfahrschutz des Chassis Werbung der Klägerin angebracht war, begründet eine solche Nachforschungspflicht hingegen nicht. Denn eine Benachrichtigung des Verantwortlichen kann nur dann geboten sein, wenn er selbst den Ermittlungsaufwand reduziert, und gleichzeitig die Erfolgsaussichten dadurch vergrößert, dass er einen konkreten Hinweis auf seine Erreichbarkeit und seine Bereitschaft zum umgehenden Entfernen des verbotswidrig geparkten Fahrzeugs gibt.
Vgl. VGH Kassel, Urteil vom 11. November 1997, NVwZ-RR 1999 S. 23, 25; OVG Koblenz, Urteil vom 22. Mai 1990, NVwZ-RR 1991 S. 28; Urteil vom 11. Mai 1999, NJW 1999 S. 3573, 3574; OVG Hamburg, Urteil vom 28. März 2000, NJW 2001 S. 168, 169; Klenke, NWVBl 1994 S. 288, 290; Vahle, DVP 2001 S. 58, 63); OVG Hamburg, Urteil vom 14. August 2001 – 3 Bf 429/00 -, juris Rn. 31, 35.

Eine gut sichtbare Anbringung einer Handynummer stellt jedoch keinen konkreten Hinweis auf den Aufenthaltsort des Verantwortlichen dar. Dies gilt erst recht für eine Büro Festnetznummer, deren Erreichbarkeit regelmäßig an Sprechzeiten geknüpft ist. Der „Werbenachricht“ lässt sich darüber hinaus kein Bezug zu der konkreten (Abschlepp-) Situation entnehmen.

Anhand der Werbeanzeige war weder erkennbar, dass die Störung (auf Anruf) zeitnah beseitigt werden konnte noch dass hierzu die ernstliche Bereitschaft bestand. Die Beklagte musste den möglichen Hinweisen, die aus der Werbung hervorgingen, deshalb nicht nachgehen, da deren Informationsgehalt in Bezug auf die Abschleppmaßnahme zu unbestimmt war. Sie war damit weder zu einer telefonischen Kontaktaufnahme noch zu einer Internetrecherche hinsichtlich möglicher Aufenthaltsorte eines Verantwortlichen verpflichtet,
vgl. VG Düsseldorf vom 13. September 2022 – 14 K 7125/21 -, juris Rn. 23, 31.

Im Übrigen lässt sich dem entsprechenden Verwaltungsvorgang bei der Kreispolizeibehörde B. entnehmen, dass die Diebstahlsanzeige der Klägerin am 0. Februar 0000 und damit zeitlich nach der Durchführung der Abschleppmaßnahme erfolgte. Die Beklagte konnte und musste hiervon im Zeitpunkt des ordnungsbehördlichen Eingreifens keine Kenntnis haben.

Das Abschleppen des Chassis war auch angemessen. Die Nachteile, die für die Klägerin mit der Abschleppmaßnahme verbunden sind, stehen nicht außer Verhältnis zu dem bezweckten Erfolg. Das Chassis stellte eine konkrete Gefährdung für den fließenden Verkehr dar, da es unbeleuchtet und entgegen der Fahrtrichtung in einem Kurvenbereich stand und somit die Gefahr drohte, dass sich die herannahenden Fahrzeuge an der Verbindungsstange aufspießen. Außerdem hat die Beklagte zutreffend berücksichtigt, dass im Zeitpunkt des Abschleppvorgangs an einem frühen Nachmittag Anfang Februar die Dämmerung kurz bevorstand und sich die Gefahr, die von dem unbeleuchteten Chassis ausging, nochmals erheblich erhöht hat.

Da von dem verkehrswidrig abgestellten Chassis eine konkrete Gefahr ausging, konnte die Beklagte, ohne vorher aufwändige Ermittlungen anstellen zu müssen, diese Gefahr beseitigen.“