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Haft III: Rechtsmittel/gewünschter Verteidigerwechsel, oder: Keine rechtsstaatswidrige Verzögerung

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Und als letzte Entscheidung dann noch der OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 01.06.2023 – 7 Ws 114/23. Das OLG befasst sich mit der Frage der rechtssstaatswidrige Verfahrensverzögerung bei der Unterbringung. Vom LG ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB nicht zur Bewährung ausgesetzt und auch nicht für erledigt erklärt worden. Dagegen die Beschwerde, die keinen Erfolg hatte:

„Die Unterbringung des Beschwerdeführers ist – auch unter Berücksichtigung der Unterbringungsdauer – weiterhin verhältnismäßig. Weder kann die bedingte Entlassung des Beschwerdeführers verantwortet werden (§ 67d Abs. 2 S.1 StGB) noch ist die Maßregel für erledigt zu erklären (§ 67 d Abs. 6 S. 1 StGB).

…..

Die Strafvollstreckungskammer hat zutreffend festgestellt, dass die Überprüfungsfrist des § 67e StPO vorliegend um sechs Monate und zehn Tage überschritten wurde. Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ist allerdings nicht eingetreten (vgl. zum Maßstab: Oberlandesgericht Frankfurt am Main, 3. Strafsenat, Beschluss vom 18. Juli 2019 – 3 Ws 456+457/19).

Die Strafvollstreckungskammer hat zunächst mit Beschluss vom 26. September 2022 über die Fortdauer der Unterbringung entschieden. Auf die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers hat der 3. Strafsenat diesen Beschluss mit Beschluss vom 29. November 2022 aufgehoben, da die nach § 463 Abs. 3 S. 1 StPO i.V.m. § 454 Abs. 1 S. 3 StPO vorgeschriebene mündliche Anhörung des Untergebrachten nicht vor der vollbesetzten Kammer erfolgt war. Der im Zusammenhang mit der Durchführung des (ersten) Beschwerdeverfahrens bis zur Entscheidung des 3. Strafsenats am 29. November 2022 eingetretene Zeitablauf begründet keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung. Denn der für das Rechtsmittelverfahren selbst benötigte Zeitablauf ergibt sich aus der Ausgestaltung des Rechtsmittelsystems und kann deshalb für sich allein nicht als rechtsstaatswidrig angesehen werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2004 – 2 BvR 1471/03). Anders kann dies zu beurteilen sein, wenn die Zurückverweisung Folge eines Verfahrensverstoßes ist, der im Licht der rechtsstaatlichen Gesamtverfahrensordnung schlechterdings nicht nachvollziehbar und als unvertretbarer Akt objektiver Willkür erscheint (vgl. BGH, Urteil vom 8. März 2006 – 2 StR 565/05). Dies ist vorliegend nicht der Fall.

Auch der weitere Zeitablauf nach der Entscheidung des 3. Strafsenats vom 29. November 2022 bis zur erneuten Entscheidung durch die Kammer am 29. März 2023 lässt keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung besorgen. Denn es führt nicht jede Verzögerung des Geschäftsablaufs in Unterbringungssachen, die zu einer Überschreitung der einschlägigen Fristvorgaben führt, automatisch auch zu einer Grundrechtsverletzung, weil es zu solchen Verzögerungen auch bei sorgfältiger Führung des Verfahrens kommen kann (BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2016 – 2 BvR 1103/16). Das Freiheitsgrundrecht des Untergebrachten kann aber dann verletzt sein, wenn die Fristüberschreitung auf einer nicht mehr vertretbaren Fehlhaltung gegenüber dem das Freiheitsgrundrecht sichernden Verfahrensrecht beruht (BVerfG, Beschluss vom 13. August 2018 – 2 BvR 2071/16; Beschluss vom 10. Oktober 2016 – 2 BvR 1103/16). Die Verfahrensführung der Kammer lässt eine nicht mehr vertretbare Fehlhaltung gegenüber dem das Freiheitsgrundrecht sichernden Verfahrensrecht nicht erkennen. Vielmehr hat die Vorsitzende das Verfahren – insbesondere nach Rückkehr der Akten aus der Beschwerdeinstanz – stets ausreichend gefördert. So hat sie umgehend nach Rückkehr der Akten mit Verfügung vom 13. Dezember 2022 eine ergänzende Stellungnahme der Klinik angefordert, mit Verfügung vom 10. Januar 2023 die Klinik hieran erinnert. Die persönliche Anhörung und Beschlussfassung ist dann zwar nicht zeitnah nach Eingang der Stellungnahme der Klinik vom 25. Januar 2023 erfolgt, sondern erst am 29. März 2023. Diese weitere zeitliche Verzögerung ist indes dem von dem Untergebrachten gewünschten Verteidigerwechsel geschuldet. Die Aufhebung der Bestellung des bisherigen Pflichtverteidigers und Beiordnung des neuen Pflichtverteidigers konnte erst mit Beschluss vom 27. Februar 2023 erfolgen, nachdem der neue Verteidiger – nach mehreren Erinnerungen seitens der Vorsitzenden – erklärt hatte, auf die Geltendmachung bereits entstandener und abgerechneter Gebühren zu verzichten. Sodann war dem neuen Pflichtverteidiger auf seinen Antrag hin noch Akteneinsicht zu gewähren, so dass die am 29. März 2023 erfolgte persönliche Anhörung und Beschlussfassung nicht veranlasst, auf eine nicht mehr vertretbare Fehlhaltung der Kammer gegenüber dem das Freiheitsgrundrecht des Untergebrachten sichernden Verfahrensrecht zu schließen.“

OWi II: Hier dann vier OLG-Beschlüsse zum Fahrverbot, oder: Zeitablauf, Gründe, Begründungstiefe

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Im zweiten Posting des Tages kommen dann hier einige Entscheidungen zum Fahrverbot, also § 25 StVG, aber nur die Leitsätze. Die Beschlüsse enthalten nichts weltbewegend Neues, sondern schreiben nur die bisherigen Rechtsprechung fort. Der u.a. Beschluss des BayObLG nimmt darüber hinaus noch zu zwei weiteren Fragen Stellung.

Hier sind dann:

Bei einem Zeitablauf von über zwei Jahren zwischen Tat und Urteil bedarf es besonderer Umstände für die Annahme, dass ein Fahrverbot noch unbedingt notwendig ist.

Ein Absehen von einem Fahrverbot nach § 25 StVG kommt auch dann in Betracht kommt, wenn dessen Verhängung aufgrund Zeitablaufs nicht mehr geboten erscheint, weil dessen Erziehungsfunktion die warnende Wirkung des Fahrverbots nicht mehr erfordert. Voraussetzung hierfür ist, dass die zu ahndende Tat lange (in der Regel mehr als zwei Jahre) zurückliegt, dass die für die lange Verfahrensdauer maßgeblichen Umstände außerhalb des Einflussbereiches des Betroffenen liegen und dieser sich in der Zwischenzeit verkehrsgerecht verhalten hat.

1. Für die Verhängung eines Fahrverbots wegen eines beharrlichen Verstoßes gegen die Pflichten eines Kraftfahrzeugführers gemäß § 25 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 StVG ist eine hinreichend aussagekräftige Darstellung der Vorahndungslage unerlässlich.
2. Zulässiges Verteidigungsverhalten eines Betroffenen, wie etwa das Bestreiten des Tatvor-wurfs, darf bei der Bemessung der Rechtsfolgen nicht zu seinem Nachteil gewertet werden.
3. Einem Betroffenen, der den Tatvorwurf bestreitet, darf bei der Bemessung der Bußgeldhöhe eine „uneinsichtige Haltung“ nicht angelastet werden.

 

Ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, d. h. das Verfahren ohne zwingenden Grund für eine nicht unerhebliche Dauer zum Stillstand gekommen ist, hängt von den Umständen des konkreten Einzelfalls ab. Insoweit verbietet sich eine an feste Zeitgrenzen gebundene generelle Bewertung der bloßen zeitlichen Abläufe. Eine Bearbeitungsdauer von neun Monaten für die Erstellung der Gegenerklärung der Generalstaatsanwaltschaft zur Rechtsbeschwerdebegründung des Verteidigers ist im Hinblick auf eine 82 Seiten lange Rechtsbeschwerdebegründung mit erheblicher Begründungstiefe nicht zu beanstanden. (Kompensation verneint).

Die letzte Entscheidung erstaunt. Das OLG Stuttgart behauptet ernsthaft, dass eine Bearbeitungszeit für eine Rechtsbeschwerde von neun Monaten „unter den gegebenen Umständen — auch im Hinblick auf die aufgeworfenen Rechtsfragen und die gebotene Würdigung der ihrerseits umfangreichen Ausführungen im amtsrichterlichen Urteil — ordnungsgemäß“ ist. Gut. Man kennt die „umfangreichen Ausführungen“ des AG nicht, die Rechtsbeschwerdebegründung war allerdings 82 Seiten lang, woran die GStA sicherlich zu „knacken“ hatte. Aber: So „begründungstief“, wie das OLG behauptet, kann das aber dann doch nicht gewesen sein, wenn das OLG auf die 82 Seiten kein Wort verschwendet, sondern nach § 349 Abs. 2 StPO verwirft.

Nur zur Klarstellung: Damit zweifele ich nicht die Qualität der Rechtsbeschwerdebegründung des Kollegen Gratz an, der mir den OLG-Beschluss geschickt hat, sondern die „Begründungstiefe“ des OLG Beschlusses, die an der Stelle m.E. nicht „passt“.

Strafzumessung II: Getrennt geführte Verfahren, oder: Keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung

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Die zweite Entscheidung, das BGH, Urt. v. 03.11.2022 – 3 StR 321/21 – befasst sich noch einmal mit der Frage der Auswirkungen einer Verfahrensverzögerung auf die Strafzumessung.

Das LG hat den Angeklagten unter Freispruch vom Vorwurf des zweifachen Mordes wegen vorsätzlichen unerlaubten Erwerbs zweier halbautomatischer Kurzladewaffen zum Verschießen von Patronenmunition in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz solcher Waffen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision wendet sich der Angeklagte gegen den Strafausspruch sowie gegen die unterbliebene Bestimmung eines Vollstreckungsabschlags wegen der in den Urteilsgründen vom LG festgestellten rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung. Das Rechtsmittel hatte keinen Erfolg:

„2. Die materiellrechtliche Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat im Umfang der Anfechtung keinen dem Angeklagten nachteiligen Rechtsfehler ergeben. Das gilt auch für die Entscheidung, die rechtsstaatswidrige Verzögerung des ursprünglich getrennt geführten Verfahrens wegen der der Verurteilung zugrundeliegenden Waffendelikte lediglich festzustellen und von einem Vollstreckungsabschlag abzusehen. Das Landgericht hat hierauf namentlich aufgrund der als nicht gewichtig beurteilten Auswirkungen der staatlich zu verantwortenden überlangen Verfahrensdauer auf den Angeklagten erkannt, der wegen dieses Vorwurfs keine Untersuchungshaft erlitten hatte, vielmehr unabhängig davon wegen des dringenden Verdachts des zweifachen Mordes inhaftiert war. Die Bewertung hält sich im Rahmen des dem Tatgericht insoweit eröffneten Spielraums (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124 Rn. 56; vom 2. März 2022 – 2 StR 541/21, StV 2022, 572 Rn. 9 mwN). Mit Blick auf die Zuschrift des Generalbundesanwalts, mit der er die Aufhebung des angefochtenen Urteils im Strafausspruch nach § 349 Abs. 4 StPO beantragt hatte, ist ergänzend zu bemerken:

Die Strafzumessung erweist sich nicht deshalb als rechtsfehlerhaft, weil in den Urteilsgründen nicht strafmildernd berücksichtigt worden ist, dass das Landgericht das als Tatmittel verwendete iPhone eingezogen hat. ….

Ebenso wenig begegnet es Bedenken, dass die Urteilsgründe die festgestellte rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung weder bei der Strafrahmenwahl noch bei der Straffestsetzung erwähnen. Vielmehr ist im Rahmen der Strafzumessung die Verletzung des Gebots zügiger Verfahrenserledigung als solche zutreffend außer Betracht geblieben (vgl. grundlegend BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124 Rn. 54 ff.; ferner BGH, Urteil vom 27. August 2009 – 3 StR 250/09, BGHSt 54, 135 Rn. 8; Meyer-Goßner/Appl, Die Urteile in Strafsachen, 30. Aufl., Rn. 490b). Die bestimmenden Strafzumessungsgesichtspunkte des großen zeitlichen Abstands zwischen Tat und Urteil sowie der Länge des Verfahrens (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juni 2017 – GSSt 2/17, BGHSt 62, 184 Rn. 29 mwN; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 745) hat die Schwurgerichtskammer hingegen ausdrücklich berücksichtigt (UA S. 50, 53).“

Entschädigung für Verfahrensverzögerung, oder: Vom Pilotverfahren abhängiges Ausgangsverfahren

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Und im zweiten Posting dann noch etwas zur Entschädigung wegen Verfahrensverzögerung, und zwar das OLG Braunschweig, Urt. v. 12.04.2022 – 4 EK 1/20.

Beklagt ist das Land Niedersachsen, und zwar wegen einer Entschädigung wegen unangemessener Verfahrensdauer betreffend neun vor dem Landgericht Göttingen geführter Verfahren. Beim LG Göttingen waren seit dem Jahr 2006 insgesamt mehr als 4.000 Kapitalanlage-Verfahren im Zusammenhang mit dem Unternehmensverbund „G. Gruppe“ anhängig, die zunächst allein von der 2. Zivilkammer bearbeitet wurden. Im Laufe des Jahres 2011 übertrug das Präsidium des LG die Hälfte der anhängigen Verfahren aus diesem Komplex auf die 14. Zivilkammer. In den Folgejahren wechselten die personelle Besetzung beider Kammern sowie die ihnen zugewiesenen Arbeitskraftanteile.

Beide Kammern bestimmten aus zwei „Serien“ – der „Hauptserie“ mit insgesamt über 4.000 Verfahren einerseits und der „L.-Serie“ mit insgesamt ca. 280 Verfahren andererseits – jeweils ein Muster- bzw. Pilot-Verfahren, die vorrangig – unter Durchführung von Beweisaufnahmen – gefördert werden sollten. Die hiervon abhängigen weiteren Verfahren wurden ausschließlich zum Zwecke der gemeinsamen Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens zu den jeweiligen Kammer-Pilotverfahren der 2. und 14. Zivilkammer kammerintern miteinander verbunden. Die 2. und die 14. Zivilkammer gingen hierbei abgestimmt einheitlich in der Weise vor, dass für die jeweiligen Pilotverfahren der Hauptserie einerseits und der L.-Serie andererseits nur ein – für alle Verfahren der jeweiligen Kammer einheitliches – schriftliches Gutachten desselben Sachverständigen eingeholt wurde.

Die 14. Zivilkammer bestimmte als Pilotverfahren der Hauptserie das Verfahren zum Aktenzeichen 14 (2) O 2179/07 und als Pilotverfahren der L.-Serie das Verfahren zum Aktenzeichen 14 (2) O 1135/11. Die 2. Zivilkammer designierte das Verfahren zum Aktenzeichen 2 O 1802/07 zum Pilotverfahren der Hauptserie und zum Pilotverfahren der L.-Serie das Verfahren zum Aktenzeichen 2 O 1136/11.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Verfahrensablaufs verweise ich auf den verlinkten Volltext. Beide genannten Pilotverfahren dauern erstinstanzlich noch an. Der Kläger ist der Auffassung, die Dauer der erstinstanzlichen Verfahren sei in jedem der zu betrachtenden Fälle unangemessen lang im Sinne des § 198 GVG. Die Verfahren seien nicht in angemessener Zeit verhandelt und abgeschlossen worden. Vielmehr sei das LG mehrere Jahre faktisch untätig geblieben und habe durch häufige Wechsel in der Kammerbesetzung imponiert. Rügen und Dienstaufsichtsbeschwerden seien erfolglos geblieben.

Der Kläger hält, dem gesetzlichen „Regelfall“ folgend, in jedem Ausgangsverfahren eine Entschädigung von je 100 EUR pro verzögertem Monat für angemessen. Er hat beantragt, das beklagte Land zu verurteilen, an ihn 67.400,00 EUR zu zahlen.

Das OLG hat die Klage abgewiesen. Hier die Leitsätze zu der umfangreichen Entscheidung:

1. Die durch entschädigungspflichtige Verzögerung in einem Pilotverfahren verursachten Nachteile manifestieren sich für den personenidentischen Kläger, der auch Partei im Pilotverfahren ist, ausschließlich in dem Pilotverfahren, wobei die Anzahl der hiervon abhängigen Verfahren bei der Bemessung der billigen Entschädigung in dem das Pilotverfahren betreffenden Entschädigungsverfahren zu berücksichtigen ist.

2. Etwaige Verzögerungen, die bei der Bearbeitung des Pilotverfahrens verursacht werden, zeitigen nur „passive“ Auswirkungen auf die jeweils abhängigen Verfahren, die zur Zeit der Bearbeitung des Pilotverfahrens faktisch ruhen. Wenn für den personenidentischen Entschädigungskläger, der zugleich Partei im Pilotverfahren ist, in den jeweils abhängigen Verfahren ausschließlich „passive“ Auswirkungen der Verzögerung der Pilotverfahren zum Tragen kommen, so sind diese deshalb objektiv allein dem zugehörigen Pilotverfahren zurechenbar. In dem Entschädigungsprozess des vom Pilotverfahren abhängigen Verfahrens ist in einem solchen Falle deshalb insoweit die Vermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG widerlegt.

3. Nur dann, wenn durch die (Nicht-) Bearbeitung des abhängigen Verfahrens selbst weitere Verzögerungen eintreten, kommt auch im Entschädigungsprozess des abhängigen Verfahrens die Entstehung eines weitergehenden immateriellen Nachteils in Betracht (Senat, Urteil vom 5. November 2021 – 4 EK 23/20 –, Rn. 499).

Corona I: Verfahrensverzögerung wegen Corona, oder: Gibt es eine Entschädigung?

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Heute dann zum Wochenstart zwei Entscheidungen, die mit Corona zu tun haben. Aber mal etwas anderes als Impfpass und Owis, nämlich: Verfahrensverzögerung und Fitness-Studio.

Zunächst hier das BFH, Urt. v. 27.10.2021 – X K 5/20, auf das ich erst jetzt durch eine PM des BFH aufmerksam geworden bin.

In dem vom BFH entschiedenen Verfahren ging es um eine Kage, die der Kläger 2018 gegen Umsatzsteuerbescheide erhoben hatte. Zwei Jahre nach Klageeingang hatte der Kläger eine Verzögerungsrüge wegen der Besorgnis erhoben, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird. Das Klageverfahren wurde dann acht Monate später – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung – mit Zustellung des Urteils beendet.

Nachfolgend hat der Kläger dann Klage auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer in Höhe von mindestens 600 EUR erhoben. Er begründete diese im Wesentlichen damit, dass der Entschädigungsanspruch zwar verschuldensunabhängig sei, sodass es nicht auf ein pflichtwidriges Verhalten bzw. Verschulden der mit der Sache befassten Richter ankomme. Somit könne die unangemessene Verfahrensdauer auch nicht mit dem Hinweis auf eine chronische Überlastung der Gerichte, länger bestehende Rückstände oder eine angespannte Personalsituation gerechtfertigt werden. Nach den Erwägungen des Gesetzgebers müssten aber die verfahrensverzögernden Umstände zumindest innerhalb des staatlichen bzw. dem Staat zurechenbaren Einflussbereichs liegen.

Der BFH hat die Klage abgewiesen. Die mehrmonatige Verzögerung des Ausgangsverfahrens beruhe auf Einschränkungen des finanzgerichtlichen Sitzungsbetriebs ab März 2020. Diese seien Folge der Corona-Pandemie und der zu ihrer Eindämmung ergriffenen Schutzmaßnahmen. Es handele sich nicht um ein spezifisch die Justiz betreffendes Problem, da andere öffentliche und private Einrichtungen und Betriebe ebenso betroffen (gewesen) seien. Die Corona-Pandemie sei – jedenfalls zu Beginn – als außergewöhnliches und in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschlands beispielloses Ereignis anzusehen, die weder in ihrem Eintritt noch in ihren Wirkungen vorhersehbar gewesen wäre. Von einem Organisationsverschulden der Justizbehörden im Hinblick auf die Vorsorge für die Aufrechterhaltung einer stets uneingeschränkten Rechtspflege könne daher ebenfalls nicht ausgegangen werden.

Hier die Leitsätze zu dem BFH-Urteil vom 27.10.2021:

  1. Nach den Erwägungen des Gesetzgebers setzt der (verschuldensunabhängige) Entschädigungsanspruch i.S. des § 198 GVG voraus, dass die Umstände, die zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer geführt haben, innerhalb des staatlichen bzw. dem Staat zurechenbaren Einflussbereichs liegen müssen.
  2. Eine zu Beginn der Corona-Pandemie hierdurch verursachte Verzögerung beim Sitzungsbetrieb führt nicht zur Unangemessenheit der gerichtlichen Verfahrensdauer i.S. des § 198 Abs. 1 GVG, da sie nicht dem staatlichen Verantwortungsbereich zuzuordnen ist.
  3. Bei der Corona-Pandemie und den zur Eindämmung getroffenen Schutzmaßnahmen handelt es sich nicht um ein spezifisch die Justiz betreffendes Problem, da sie ??was ihr Personal und die Verfahrensbeteiligten anbelangt?? ebenso betroffen ist wie andere öffentliche und private Einrichtungen und Betriebe.