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Strafzumessung, wenn es zu lange dauert, muss die Strafe geringer sein

© Dan Race Fotolia .com

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Ein nicht unwesentlicher Strafzumessungsgesichtspunkt ist ggf. die Verfahrensdauer, und zwar, wie der BGH, Beschl. v. 29.09.2015 – 2 StR 128/15 zeigt, in doppelter Hinsicht. Und zwar einmal der zeitliche Abstand zwischen Tat und Verurteilung und dann die eigentlichen Verfahrensdauer. Zu beiden Fragen hatte das LG Gießen bei einer Verurteilung wegen Untreue (§ 266 STGB) nicht Stellung genommen. Ergebnis: Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs:

„Der Strafausspruch hat keinen Bestand, denn die Ausführungen des Landgerichts lassen besorgen, dass es bei der für die Bemessung der Strafen erforderlichen Gesamtwürdigung aller für die Wertung der Taten und des Täters in Betracht kommender Umstände wesentliche mildernde Gesichtspunkte nicht berücksichtigt hat.

Die Strafkammer hatte schon nicht im Blick, dass zwischen den abgeur-teilten Taten und dem Urteil sieben bzw. neun Jahre vergangen sind und dass eine solch lange Zeitspanne zwischen Begehung der Tat und ihrer Aburteilung einen wesentlichen Strafmilderungsgrund darstellt (vgl. Senat, Urteil vom 20. Dezember 1995 – 2 StR 468/95, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Zeitablauf 1 mwN). Daneben hätte das Tatgericht hier strafmildernd zu bedenken gehabt, dass auch einer überdurchschnittlich langen Verfahrensdauer eine eigenständige strafmildernde Bedeutung zukommt, wenn sie für den Angeklagten mit be-sonderen Belastungen verbunden ist (BGH, Beschlüsse vom 16. Juni 2009 – 3 StR 173/09, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 20; vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 142). Ein großer zeitlicher Ab-stand zwischen Tat und Aburteilung sowie eine lange Verfahrensdauer und ihre nachteiligen Auswirkungen auf den Angeklagten stellen regelmäßig selbst dann gewichtige Milderungsgründe dar, wenn diese sachlich bedingt waren (BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2010 – 2 StR 344/10, NStZ 2011, 651 mwN).

Das Schweigen der Urteilsgründe hierzu legt nahe, dass das Tatgericht diese bestimmenden Milderungsgründe im Sinne des § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO in seiner Bedeutung verkannt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 16. März 2011 – 5 StR 585/10, NStZ-RR 2011, 171).“

5 Jahre 9 Monate U-Haft – das reicht – auch bei einem Mordvorwurf

© Elena Schweitzer - Fotolia.com

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Das Verfahren lange dauern, manchmal auch zu lange, das wissen wir alle. Und dass Verfahren beschleunigt zu führen sind, wissen wir, vor allem, wenn sich der Beschuldigte in U-Haft befindet, auch.Das scheint in einem Verfahren, das jetzt, zumindest was die Haftfrage angeht, beim OLG Köln mit dem OLG Köln, Beschl. v. 01.06.2015 – 2 Ws 299/15 – sein Ende gefunden hat, aus den Augen geraten sein.

Da befand sich der Beschuldigte in einem Verfahren mit dem Vorwurf des Mordes seit dem 05.08.2009 (!!!) in U-Haft. Es hat inzwischen zweimal eine erstinstanzliche Hauptverhandlung stattgefunden und zweimal war auch der BGH mit der Sache befasst. Derzeit liegt das Verfahren nach der zweiten Aufhebung durch den BGH beim LG Köln. Da passiert seit September 2014 zunächst nichts, Anfnag April 2015 wird dann tgerminiert auf 33 Verhandlungstagen zwischen dem 06.08.2015 und dem 26.11.2015. Nun hat es dem OLG Köln gereicht:  Die Fortdauer der Untersuchungshaft ist wegen einer Verletzung des Beschleunigungsgebotes inzwischen nicht mehr verhältnismäßig.

„Der Beschwerdeführer befindet sich – unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich vollstreckten Ersatzfreiheitsstrafe – rund 5 Jahre und 9 Monate in Untersuchungshaft. Eine rechtskräftige Verurteilung ist trotz zweier erstinstanzlicher Entscheidungen des Landgerichts Bonn, die im Revisionsverfahren durch Entscheidungen des Bundesgerichtshofs jeweils aufgehoben worden sind, bislang nicht erfolgt. Diese außergewöhnlich lange Dauer der Inhaftierung rechtfertigt für sich gesehen zwar nicht die generelle Annahme, dass eine weitere Vollstreckung der Untersuchungshaft unverhältnismäßig wäre, zumal es sich vorliegend um einen besonders aufwändigen und schwierigen Indizienprozess handelt. Andererseits war jedoch auch zu berücksichtigen, dass sich das Verfahren lediglich gegen zwei Angeklagte richtet und der Aktenumfang dem eines üblichen Schwurgerichtsverfahrens in etwa entspricht.

Die Prüfung des Verfahrensverlaufs ergibt, dass das Verfahren bis zum Erlass des Urteils des Landgerichts B. vom 10.07.2012 mit der gebotenen Beschleunigung gefördert worden ist. …

Hingegen war vorliegend auch festzustellen, dass das nach dem Urteil der 1. großen Strafkammer des Landgerichts B. vom 10.07.2012 folgende weitere Verfahren den Vorgaben des Beschleunigungsgebotes in Haftsachen nicht mehr vollständig gerecht geworden ist. Dies ergibt sich bereits daraus, dass seit Absetzung des vorgenannten Urteils ein Zeitraum von mehr als zwei Jahren und sieben Monaten vergangen ist, ohne dass ein rechtskräftiger Abschluss des Verfahrens vorliegt bzw. – derzeit – noch nicht einmal mit einer erneuten Hauptverhandlung begonnen ist.

Maßgebend für diesen Zeitraum ist zum einen die aus Sicht des Senats ungewöhnlich lange zeitliche Dauer des „zweiten“ Revisionsverfahrens. Die Verteidigung hat zutreffend darauf hingewiesen, das vom Eingang der Akten beim Bundesgerichtshof am 19.03.2013 bis zum Erlass des Urteils des Bundesgerichtshofs vom 05.06.2014 ein Zeitraum von 14 1/2 Monaten vergangen ist. Ergänzend bemerkt der Senat, dass bis zum Eingang der Verfahrensakten beim Landgericht K. im September 2014 eine Zeitspanne von weiteren drei Monate verstrichen ist.

Weiter war insoweit festzustellen, dass das Verfahren nach Eingang der Akten beim Landgericht K., offensichtlich bedingt durch die Belastung der zuständigen Strafkammer mit weiteren Haftsachen, was im Frühjahr diesen Jahres auch zu einer vom Präsidium vorgenommenen Ableitung von (anderen) Verfahren geführt hat, nicht mit der vorliegend gebotenen besonderen Beschleunigung gefördert worden ist. Entgegen einem von der zuständigen Strafkammer im angefochtenen Beschluss zunächst für möglich erachteten Prozessbeginn ab Anfang Januar 2015 hat die Vorsitzende der Strafkammer erst am 01.04.2015 Hauptverhandlungstermine – beginnend ab dem 06.08.2015 – bestimmt. Zwischen dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 05.06.2014 und der erneuten Hauptverhandlung liegt somit ein Zeitraum von 14 Monaten. …. Soweit die Strafkammer in der Nichtabhilfeentscheidung vom 29.04.2015 ausführt, dass ein frühzeitiger Beginn der Hauptverhandlung, insbesondere der zunächst in Aussicht genommene Beginn im Januar 2015, aufgrund vorrangig zu bearbeiten Haftsachen nicht zu realisieren war, hegt der Senat Zweifel, ob dies den vorliegend erhöhten Anforderungen des Beschleunigungsgrundsatzes ausreichend Rechnung trägt. Im Strafverfahren gilt nicht nur der Grundsatz, der vorrangigen Bearbeitung von Haftsachen gegenüber Nichthaftsachen, sondern auch von besonderen Haftsachen gegenüber anderen Haftsachen (vgl.: BVerfG B., v. 05.12.2005, a.a.O. Rn 82; OLG Düsseldorf Beschluss vom 25.03.1996 – 2 Ws 86/96 -). Der Senat, dem die Belastung der zuständigen Strafkammer mit Haftsachen aus der Befassung mit Entscheidungen nach §§ 121 f StPO vor Augen steht, ist nicht bekannt, dass neben der vorliegenden Haftsache, die im Hinblick auf die außergewöhnlich lange Dauer der Untersuchungshaft als „besondere Haftsache“ anzusehen ist, bei der zuständigen Schwurgerichtskammer weitere besondere Haftsachen anhängig sind. Soweit dies nicht der Fall gewesen sein sollte, was der Senat hier nicht abschließend aufklären musste, wäre dieses Verfahren vor anderen Haftsachen vorrangig zu bearbeiten und zeitnah zu terminieren gewesen. Trotz der unbestrittenen Schwierigkeit und Komplexität des Verfahrens erscheint es daher zweifelhaft, ob die erst ca. sechs Monate nach Eingang der Verfahrensakten vorgenommene und mit einem zeitlichen Vorlauf von rund vier Monaten erfolgte Terminierung den Vorgaben des Beschleunigungsgrundsatzes noch gerecht wird. Im Hinblick auf die besonders lange Dauer der Untersuchungshaft wäre das Landgericht gehalten gewesen, alles in seiner Macht stehende zu tun, um eine gerichtliche Entscheidung über die dem Beschwerdeführer vorgeworfene Tat so zeitnah wie irgend möglich herbeizuführen (BVerfGE 36, 264 (273)).
Der Senat konnte offen lassen, ob die aufgezeigten Gesichtspunkte, jeweils einzeln betrachtet, vor dem Hintergrund des erheblichen Tatvorwurfs sowie der Schwierigkeit des Verfahrens bereits zur Annahme einer Unverhältnismäßigkeit der Haftfortdauer ausgereicht hätten. Im Rahmen der vorgenommenen Gesamtwürdigung war jedoch festzustellen, dass die Förderung des Verfahrens seit der letzten Entscheidung durch das Landgericht B. im Juli 2012 nicht mehr den – an der ungewöhnlich langen Dauer der Untersuchungshaft zu messenden – erhöhten und zunehmend steigenden Anforderungen des Beschleunigungsgrundsatzes (vgl.: BVerfGE 19, 342 (347); 36, 264 (270)) entsprochen hat. Seit fast 2 Jahren und 10 Monaten hat eine Verfahrensförderung durch eine erneute Hauptverhandlung nicht mehr stattgefunden. Seit der (ersten) erstinstanzlichen Verurteilung durch das Landgericht B. vom 11.06.2010 sind sogar nahezu fünf Jahre vergangen, ohne dass das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen werden konnte. ….“

Ohne Kommentar: Außer: Einen kleinen Seitenhieb auf den BGH konnte sich das OLG dann doch wohl nicht verkneifen.

Wie lange darf die Vorbereitung der Hauptverhandlung dauern?

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Verfahrensverzögerungen und Verfahrensdauer spielen in Zusammenhang mit der Vollstreckungslösung des BGH und der darauf ggf. beruhenden Berücksichtigung einer zu langen Verfahrensdauer bei der allgemeinen Strafzumessung und der Kompensation in der Praxis mit zunehmender Belastung der Gerichte immer mehr eine Rolle. Deshalb sind obergerichtliche Entscheidungen, aus denen man ableiten kann, was der BGH als zu lang ansieht, von Bedeutung. Zur Gruppe dieser Entscheidungen gehört der BGH, Beschl. v. 27.07.2012 – 1 StR 218/12, der in einem Totschlagsverfahren ergangen ist.

Folgender Zeit-/Verfahrensablauf:

„Vorliegend geschah die den Angeklagten zur Last gelegte Tat am 8. Juli 2010. Die Ermittlungen waren mit dem Eingang des DNA-Gutachtens am 15. November 2010 abgeschlossen, worauf die Staatsanwaltschaft ohne jede Verzögerung am 13. Dezember 2010 Anklage zum Landgericht erhob. Auf die dort am 15. Dezember 2010 eingegangene Anklage wurde, ohne dass weitere Untersuchungshandlungen erkennbar sind, erst am 4. Oktober 2011 das Hauptverfahren eröffnet, wobei in der Zwischenzeit der Vorsitzende im Mai 2011 bei den Verfahrensbeteiligten nach geeigneten Verhandlungstagen nach-fragte. Nach dem Eröffnungsbeschluss wurde die Hauptverhandlung zügig vom 28. Oktober 2011 bis zur Urteilsverkündung am 24. November 2011 durchgeführt.“

Zur zeitlichen Bewertung führt der BGH aus:

„Somit liegt eine die normale Dauer für die erforderliche Vorbereitung der Hauptverhandlung nur geringfügig übersteigende Verfahrensdauer vor, welche allenfalls sechs Monate beträgt. Danach war es als Kompensation ausreichend, zumal durch die Verzögerung keine ersichtlichen Nachteile entstanden sein können, nur die gerichtliche Feststellung zu treffen, dass die Verfahrensdauer unangemessen war (BGH, GSSt, NStZ 2008, 234, 235; BeckOK-StPO/Graf, Ed. 14, § 199 GVG Rn. 10).

Die „Vorbereitung der Hauptverhandlung“ darf also „allenfalls sechs Monate“ dauern. Allerdings wird man m.E. ergänzen müssen: In diesem bzw. vergleichbaren Fällen, denn es kommt insoweit m.E. schon auf den Tatvorwurf an.

In der Sache hat der BGH dann aber nur eine Kompensation in der Form vorgenommen, dass er festgestellt hat, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Damit ist dann auch ausreichend wieder gut gemacht i.S. des § 199 Abs. 3 GVG.

Kleiner Grundkurs Verfahrensverzögerung, oder: Doppelt geht nicht

Der BGH, Beschl. v. 21.04.2011 – 3 StR 50/11 gibt einen kleinen Grundkurs im Umgehen mit der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung im Strafverfahren. Der BGH führt dazu aus:

„Für den Fall, dass die festgestellte überlange Verfahrensdauer – ganz oder teilweise – auf einem konventions- und rechtsstaatswidrigen Verhalten der Strafverfolgungsbehörden beruht, ist – von der Strafzumessung im engeren Sinne gesondert und hieran anschließend – zu prüfen, ob zur Entschädigung für diese Verfahrensverzögerung die – in den Urteilsgründen zum Ausdruck zu bringende – Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung genügt. Reicht diese zur Entschädigung des Angeklagten nicht aus, so hat das Gericht festzulegen, welcher bezifferte Teil der Strafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt und dies in der Urteilsformel auszusprechen. Allgemeine Kriterien für diese Festlegung lassen sich nicht aufstellen; entscheidend sind stets die Umstände des Einzelfalls, wie der Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, das Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane sowie die Auswirkungen all dessen auf den Angeklagten. Jedoch muss stets im Auge behalten werden, dass die Verfahrensdauer als solche sowie die hiermit verbundenen Belastungen des Angeklagten bereits mildernd in die Strafbemessung eingeflossen sind und es daher in diesem Punkt der Rechtsfolgenbestimmung nur noch um einen Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verursachung dieser Umstände geht.

b) Danach erweist sich die durch das Landgericht im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne vorgenommene zusätzliche Berücksichtigung der rechtsstaats- und konventionswidrigen Verfahrensverzögerung als rechtsfehlerhaft; denn das Landgerichts hat damit im Ergebnis das früher geltende Strafabschlagsmodell und die nunmehr gültige Vollstreckungslösung nebeneinander angewandt und damit der Sache nach die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zweifach kompensiert. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Vorgehensweise auf eine höhere Strafe erkannt hätte. …“

Verfahrensverzögerung: Doppelte Berücksichtigung bei der Strafzumessung

Der BGH, Beschl. v. 16.03.2011 – 5 StR 585/10 weist (noch einmal) auf einen Punkt hin, der bei der Strafzumessung manchmal übersehen wird, nämlich: Bei der Strafzumessung kann eine überlange Verfahrensdauer doppelt strafmildernd zu beachten sein, und zwar eben nicht nur bei der „allgemeinen Strafzumessung“, sondern auch hinsichtlich der Frage, ob nicht eine eigenständig bedeutsame Verfahrensverzögerung insgesamt eingetreten ist und ob die Verfahrensverzögerung als solche auch einen Verstoß gegen die EMRK dargestellt hat, was im Rahmen einer Kompensation im Wege der Vollstreckungslösung zu beachten ist.