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Versäumung der Urteilsfrist, oder: Was der GBA alles wissen will

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Und dann noch eine Entscheidung, die etwas mit Zeit/Fristen zu tun hat, nämlich mit der Urteilsfrist des § 275 StPO. Die war bei einem Urteil des LG Bonn, das die Kammer an sich rechtzeitig abgesetzt hatte, versäumt, was dann zur Aufhebung durch den BGH, Beschl. v. 22.01.2019 – 2 StR 413/18 – geführt hat:

„Mit Recht beanstandet die Revision, dass das am 8. Juni 2018 nach neun Hauptverhandlungstagen verkündete Urteil erst am 1. August 2018 – und damit nach Ablauf der Urteilsabsetzungsfrist am 27. Juli 2018 – zu den Akten gebracht worden ist.

1. Entgegen der Zuschrift des Generalbundesanwalts vom 11. September 2018 ist die Verfahrensrüge in einer § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Weise erhoben. Der Beschwerdeführer hat den Tag der Urteilsverkündung und die Zahl der Hauptverhandlungstage mitgeteilt und vorgetragen, dass der auf der ersten Seite des Urteils angebrachte Eingangsstempel sowie die Übersendungsverfügung des Vorsitzenden vom 1. August 2018 datieren. Daraus hat er die Schlussfolgerung gezogen, dass das Urteil erst an diesem Tag auf der Geschäftsstelle eingegangen bzw. zu den Akten gebracht worden sei. Dass der Beschwerdeführer nicht vorgetragen hat, zu welchem Zeitpunkt das von allen Richtern unterschriebene Urteil auf den Weg zur Geschäftsstelle und damit zu den Akten gebracht wurde (vgl. BGH, Urteil vom 5. Juli 1979 – 4 StR 272/79, BGHSt 29, 43, 45; Stuckenberg in Löwe-Rosenberg/StPO, 26. Aufl., § 275 Rn. 6), steht der Zulässigkeit der Rüge nicht entgegen. Dabei handelt es sich nämlich um einen Umstand, der den Verfahrensakten nicht zu entnehmen war. Vom Beschwerdeführer kann im Rahmen der sich aus § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ergebenden Begründungspflicht jedoch nicht verlangt werden, Tatsachen anzugeben, die ihm nicht allgemein oder als Verfahrensbeteiligtem zugänglich sind (BGH, Urteil vom 1. Februar 1979 – 4 StR 657/78, BGHSt 28, 290, 291; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 344 Rn. 22).

2. Wie sich aus der vom Senat eingeholten dienstlichen Stellungnahme des Vorsitzenden ergibt, war das Urteil am 27. Juli 2018 fertig beraten und abgesetzt. Jedoch ging die Strafkammer aufgrund einer versehentlich fehlerhaften Fristberechnung davon aus, zur Weitergabe an die Geschäftsstelle eine Frist bis zum 3. August 2018 nutzen zu können. Deswegen wurde das fertige Urteil zu Beginn der 31. Kalenderwoche ausgedruckt, auf etwaige Rechtschreibfehler durchgesehen und erst am 1. August 2018 – also nach Ablauf der siebenwöchigen Urteilsabsetzungsfrist – von den Berufsrichtern unterzeichnet sowie der Geschäftsstelle übergeben.“

Ok, „versehentlich fehlerhafte Fristberechnung“. Kann passieren, darf aber natürlich an sich nicht. Das ist aber nicht der Grund, warum ich den Beschluss vorstelle. Sondern: Mir geht es um die Ausführungen des BGH zu dne Anforderungen an die Verfahrensrüge. Da weist der BGH den GBA, der – mal wieder – die Hürden (noch) höher gelegt hat, in die Schranken. Zu Recht. Denn wie bitte schön soll denn der Angeklagte wissen, „zu welchem Zeitpunkt das von allen Richtern unterschriebene Urteil auf den Weg zur Geschäftsstelle und damit zu den Akten gebracht wurde“?

Judex non calculat (?) und Belastung zählt nicht

Die mit der (richtigen bzw. der Einhaltung) der Urteilsfrist des § 275 StPO zusammenhängenden Fragen beschäftigen den BGH häufig (vgl. z.B. hier). Es handelt sich bei der Verletzung/Überschreitung der Frist ja auch um einen i.d.R. einfach festzustellenden absoluten Revisionsgrund (§ 338 Nr. 7 StPO), bei dem m.E. zudem die Rechtsprechung des BGH auch verhältnismäßig streng ist. Das zeigt mal wieder der BGH, Beschl. v. 13.07.2011 – 2 StR 88/11.

Die Urteilsfrist lief in dem Verfahren am 01.12.2010 ab, das Urteil wurde erst am 06.12.2010 zur Akte gebracht. Die Verzögerung ist dann offenbar mit zusätzlicher Belastung durch die Vorbereitung der Hauptverhandlung in einer anderen Haftsache und einer falschen Berechnung der Frist begründet worden – ob auch letzteres ergibt sich nicht so ganz klar aus dem Beschluss. Jedenfalls hat dem BGH die Begründung für die Verspätung nicht genügt. Er führt dazu aus:

Das Landgericht hat nach 19-tägiger Hauptverhandlung am 29. September 2010 das angefochtene Urteil verkündet. Gemäß § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO betrug daher die Frist, in der die Urteilsurkunde zu den Akten zu  bringen war, neun Wochen; sie endete demnach am 1. Dezember 2010. Zur Akte gelangt ist die Urteilsurkunde jedoch erst am 6. Dezember 2010.

Gemäß § 275 Abs. 1 Satz 4 StPO darf die Frist nur überschritten werden, wenn und solange das Gericht durch einen im Einzelfall nicht voraussehbaren unabwendbaren Umstand an ihrer Einhaltung gehindert worden ist. Ein solcher Umstand ist hier nicht ersichtlich und ergibt sich insbesondere auch nicht aus der dienstlichen Erklärung des Vorsitzenden der Strafkammer. Danach war die Strafkammer während der Dauer der Hauptverhandlung und des Laufs der Absetzungsfrist, deren Ende aufgrund eines Berechnungsfehlers versehentlich auf den 8. Dezember 2010 notiert worden war, noch mit zwei anderen eilbedürftigen Haftsachen befasst. Die geltend gemachten Umstände rechtfertigen eine Fristüberschreitung jedoch nicht. Bereits bei Beginn der Absetzungsfrist waren die zusätzlichen Belastungen, die mit beiden seit Juli 2010 zur Vorbereitung einer Hauptverhandlung zu bearbeitenden weiteren Haftsachen verbunden waren, vorhersehbar, wobei in dem in Frage stehenden Zeitraum ohnehin nur in einem der beiden Verfahren parallel die Hauptverhandlung geführt wurde. Nach ständiger Rechtsprechung liegen Belastungen durch anderweitige Hauptverhandlungen selbst dann außerhalb der zugelassenen Ausnahmen, wenn sie die Arbeitskraft der Richter infolge des Umfangs oder der Schwierigkeit des Verfahrens in besonderer Weise binden (vgl. BGH NJW 1988, 1094; NStZ 1992, 398; 2008, 55; Senat NStZ 2003, 564). Ebenso wenig kann eine falsche Berechnung der Urteilsabsetzungsfrist einen nicht voraussehbaren unabänderlichen Umstand im Sinne des § 275 Abs. 1 Satz 4 StPO begründen (vgl. BGH NStZ-RR  1997, 204; 2011, 211). Die Aufhebung des Urteils wegen des Verfahrensmangels erstreckt sich nicht auf die nicht revidierenden Mitangeklagten Me. und Ma.“

Die „nicht revidierenden Mitangeklagten Me. und Ma.“ werden sich vermutlich ärgern, dass sie nicht auch Revision eingelegt haben.