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Aufffahren auf die Autobahn, oder Vorfahrt gilt auch bei Stop-and-Go

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Und als dritte OWi-Entscheidung dann der OLG Hamm, Beschl. v. 03.05.2018 – 4 RBs 117/18 –  betreffend die Vorfahrtsregel des § 18 Abs. 3 StVO, nach der der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn Vorfahrt vor Fahrzeugen hat, die auf die Fahrbahn auffahren wollen. Die – so das OLG – gilt auch bei sog. „Stop-and-Go-Verkehr“. Erst wenn der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn in der Weise zum Stehen gekommen ist, dass mit einer erneuten Fahrbewegung in kürzerer Frist nicht zu rechnen ist, findet diese Vorfahrtsregelung keine Anwendung mehr. Fahrzeugführer, die in dieser Situation auf die Fahrbahn einer Autobahn auffahren, haben aber das Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO zu beachten:

Ausgangspunkt der Entscheidung sind folgende Feststellungen:

„Am pp. .2017 gegen 17:10 Uhr bestand auf der zweispurigen Bundesautobahn App. in Fahrtrichtung A Stau. Der Zeuge X befuhr mit einer Sattelzugmaschine den rechten Fahrstreifen. Der Betroffene wollte bei km pp. vom Beschleunigungsstreifen auf den rechten Fahrstreifen der App. mit dem PKW, Marke BMW 3C mit dem amtlichen Kennzeichen pp. auffahren. Der Betroffene war Führer des PKWs und wollte dieses zum Halter überführen. Unmittelbar vor ihm fuhr der Zeuge C, der vollständig auf den rechten Fahrstreifen gewechselt hat und aufgrund eines vor ihm stehenden Sattelzugs stehen bleiben musste. Aufgrund der Verkehrslage konnte der Betroffene nicht vollständig die Fahrspur wechseln und blieb schräg zwischen dem Beschleunigungsstreifen und der rechten Fahrspur stehen. Dabei stand das Fahrzeug auf dem Markierungsstreifen mit dem vorderen rechten und dem hinteren linken Rad.

Der Zeuge X fuhr an und übersah den Betroffenen. Es kam zu einer Kollision beider Fahrzeuge, wobei die Sattelzugmaschine des Zeugen X vorne rechts und das Fahrzeug des Betroffenen zwischen den Rädern an der linken Seite eingedrückt wurde. Es gab keinen Personenschaden.“

Dazu das OLG:

„Die bisherigen Feststellungen ergeben keinen Verstoß gegen § 18 Abs. 3 StVO. Zutreffend geht das Amtsgericht zwar davon aus, dass der auf eine Autobahn Auffahrende das Vorfahrtsrecht des fließenden Verkehrs zu beachten hat (OLG Hamm VersR 1994, 952), und zwar auch dann, wenn zähfließender Verkehr und staubedingt „Stop-and-Go-Verkehr“ herrscht (LG Essen, Beschl. v. 08.04.2013 – 1 5 S 48/13 – juris). Wie schon die Formulierung im Gesetz „Vorfahrt“ zeigt, muss aller-dings ein Mindestmaß an Bewegung im Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn der Autobahn geherrscht haben, da ansonsten nicht von „Fahrt“ gesprochen werden kann. Steht der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn hingegen, so gibt es keine „Vorfahrt“, die Vorrang haben könnte. Bei stehendem Verkehr auf der durch-gehenden Fahrbahn würde es auch keinen Sinn machen, den Auffahrenden dazu zwingen zu wollen, eine bestehende – hinreichend große – Lücke zwischen zwei stehenden Fahrzeugen nicht zu nutzen.

Das bedeutet allerdings nicht, dass schon bei jeglichem verkehrsbedingten Halt auf der durchgehenden Fahrbahn – und sei er auch zeitlich noch so kurz – bereits die Vorfahrtsregelung des § 18 Abs. 3 StVO keine Geltung mehr beanspruchen könnte. Erst wenn der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn in einer Weise zum Stehen gekommen ist, dass mit einer erneuten Fahrbewegung in kürzerer Frist nicht zu rechnen ist, ist das der Fall. Ansonsten würde die Regelung ausgehebelt. Der Senat bestätigt daher ausdrücklich die Rechtsprechung, dass § 18 Abs. 3 StVO auch bei sog. „Stop-and-Go-Verkehr“ gilt.

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts stand hier aber der LKW des Zeugen X. Konkrete Feststellungen zur Dauer dieser Standzeit enthält das Urteil nicht. Aus der Beweiswürdigung in der angefochtenen Entscheidung ergibt sich allerdings, dass der Zeuge X bekundet hatte, dass er etwa drei bis vier Minuten gestanden habe. Sollte tatsächlich eine solch lange Standzeit geherrscht haben, so konnte der Betroffene dessen Vorfahrt unter Zugrundelegung der o.g. Grundsätze nicht missachten. Vielmehr musste der Zeuge X beim Anfahren den vor ihm liegenden Fahrweg auf etwaige Hindernisse kontrollieren. Dabei macht es für § 18 Abs. 3 StVO keinen Unterschied, ob der Betroffene bereits ganz oder nur teilweise auf der Fahrbahn eingefädelt war.

Der neue Tatrichter wird aufzuklären haben, inwieweit sich das Fahrzeug des Zeugen X in einer Fahrbewegung befand, als der Betroffene mit seinem Fahrzeug von der Beschleunigungsspur auf die rechte durchgehende Fahrbahn wechselte. Die Angabe des Zeugen X, sein Abstandsmessgerät habe – als er stand – eine Entfernung von acht Metern zum vor ihm befindlichen LKW angezeigt, dürfte darauf hindeuten, dass der Betroffene sich in einer Fahrbewegung beider Fahrzeug in diese Lücke hat einfädeln wollen. Hätten beide Fahrzeuge zunächst gestanden, so wäre womöglich eine kürzere Abstandsmessung, nämlich vom Fahrzeug des Zeugen X zu dem des Betroffenen zu erwarten gewesen.

Der neuen Hauptverhandlung vorbehalten bleibt auch die Klärung, ob der Betroffene jedenfalls gegen § 1 Abs. 2 OWiG dadurch verstoßen hat, dass er so dicht vor dem (stehenden) Fahrzeug des Zeugen X auf den rechten Fahrstreifen auffuhr, dass dieser ihn wegen des sog. „toten Winkels“ eines LKW-Fahrers nicht ohne Weiteres wahrnehmen konnte.“

Reißverschlussverfahren II: Auffahren auf die BAB, oder: Stop-and-Go vs. Reißverschlussverfahren

entnommen wikimedia.org
Urheber Rabensteiner

Die zweite Entscheidung (zur ersten siehe hier Reißverschlussverfahren I: Spurwechsel, oder: Es gilt der Anscheinsbeweis zum OLG München, Urt. v. 21.04.2017 – 10 U 4565/16), die sich mit dem Reißverschlussverfahren beschäftigt, ist das AG Essen, Urt. v. 20.03.2017 – 14 C 188/16, über das ja auch schon der Kollege Gratz in seinem Blog berichtet hat.

In ihm geht es um die grundsätzliche Frage, ob das Reißverschlussverfahren beim Auffahren auf die Autobahn gilt. Das AG Essen hat das verneint, und zwar auch für den sog. Stop-and-Go-Verkehr. Es ging um einen Auffahrunfall, dessen konkreter Hergang streitig war. Das AG kommt zu folgender Einschätzung:

Der Klägerin steht gegen die Beklagten aufgrund des streitgegenständlichen Verkehrsunfallgeschehens kein Schadensersatzanspruch aus §§ 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs.1 Nr.1 VVG zu.

Der streitgegenständliche Unfall stellte sich für keinen der Unfallbeteiligten als höhere Gewalt oder als nachweislich unabwendbares Ereignis dar, so dass sich der Umfang der Haftung danach richtet, inwieweit der Unfall vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist (§ 17 StVG).

Die vorzunehmende Abwägung der Verursachungsbeiträge führt vorliegend dazu, dass die Klägerin den Unfall allein schuldhaft verursacht hat.

Der jeweilige Verursachungsbeitrag wird gebildet aus der Summe der Gefahren, die in der konkreten Unfallsituation von den beteiligten Kraftfahrzeugen ausgegangen sind, und die sich auf die Herbeiführung des Unfalls und die entstandenen Schäden ausgewirkt haben. Solche Gefahren ergeben sich zum einen aus der Beschaffenheit der beteiligten Fahrzeuge, den von ihnen gefahrenen Geschwindigkeiten, den zum Zeitpunkt des Unfalls durchgeführten Fahrmanövern sowie dem konkreten Fahrverhalten und dabei insbesondere aus etwaigen Fahrfehlern oder Verkehrsverstoßen. Dabei sind nur solche Umstände zu berücksichtigen, die unstreitig oder beweisen sind, wobei auch die Regeln des Anscheinsbeweises Anwendung finden.

Für Verschuldensvermutungen ist hierbei kein Raum. Daraus folgt nach allgemeinen Beweisgrundsätzen, das im Rahmen der nach § 17 StVG vorzunehmenden Abwägung jeweils der eine Halter die Umstände zu beweisen hat, die dem anderen zum Verschulden gereichen.

Auf Seiten der Klägerin ist im Rahmen dieser Abwägung zunächst die Betriebsgefahr in die Abwägung einzustellen.

Hinzu kommt, dass die Klägerin auf die Autobahn aufgefahren ist und dabei gegen § 18 Abs. 3 StVO verstoßen hat. Hierfür streitet schon der Beweis des ersten Anscheins.

Ein auf eine Autobahn einfahrender Verkehrsteilnehmer hat gemäß § 18 Absatz 3 StVO dem Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn Vorfahrt zu gewähren. Er muss dazu den Verkehr auf der Autobahn beobachten und trägt das volle Risiko, wenn dieser auf seinen Vorrang vertraut. Kommt es in unmittelbarem räumlichen Zusammenhang mit einer Vorfahrtsverletzung zu einem Unfall, hat der Wartepflichtige den Anschein schuldhafter Vorfahrtsverletzung gegen sich (vgl. nur Hentschel/ 41.Aufl. 2011 (König, aaO, StVO § 8 Rdnr. 68, 69).

Dabei ist § 18 Abs. 3 StVO nicht auf das Einfädeln bei fließendem Verkehr auf der Autobahn beschränkt. Auch bei zähfließendem Verkehr oder Stop-and-go-Verkehr – wie hier – gilt beim Einfahren auf die Autobahn nicht das Reißverschlussverfahren. Vielmehr hat der Verkehr auf den durchgehenden Fahrbahnen Vorrang mit der Folge, dass bei einem Unfall zwischen einem Verkehrsteilnehmer, der vom Beschleunigungsstreifen auf die Autobahn einfährt, und einem Fahrzeug auf der rechten Fahrspur dieser Autobahn ein Anscheinsbeweis für ein alleiniges Verschulden des Einfädelnden spricht (OLG Köln, Urteil vom 24. 10. 2005 – 16 U 24/05, NZV 2006, 420; LG Essen 15 S 48/13, Beschluss vom 08.04.2013).

Nur wenn der Einfahrende nachweisen kann, dass der Vorfahrtsberechtigte die Möglichkeit gehabt hätte, unfallverhindernd abzubremsen, trifft diesen eine Mitschuld (vgl. auch Hentschel/König 41.Aufl. 2011, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl. 2011, § 18 StVO, Rdnr. 17 m.w. Nachw. zu den Pflichten beim Einfädeln oder KG NZV 2008, 244).

Eine solche Erkennbarkeit ihres Fahrstreifenwechsels für den Beklagten zu 1) hat die Klägerin jedoch nicht zur Überzeugung des Gerichts nachweisen können.

Zwar hat die Klägerin im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung (§ 141 ZPO) geschildert, dass sie in eine Lücke vor den Lkw des Beklagten zu 1) eingefahren sei und dort zwei Minuten 2-3 Meter vor dem Lkw gestanden habe.

Dem stehen jedoch bereits die glaubhaften Angaben des Zeugen … entgegen, wonach die Klägerin in eine sich vor dem Lkw des Beklagten zu 1) bildende Lücke hineingehuscht sei und dann wieder zum Stehen gekommen sei. Der bereits bei Vornahme des Fahrstreifenwechsels durch die Klägerin anfahrende Beklagte zu 1) sei sodann aufgefahren, wobei sich die Klägerin aus seiner Sicht im toten Winkel für den Beklagten zu 1) befunden habe.

Diese Angaben des Zeugen pp.. hält das Gericht insbesondere deshalb für glaubhaft, weil es sich bei diesem um einen am Verkehrsunfallgeschehen völlig unbeteiligten Zeugen handelte. Er schilderte das Geschehen nachvollziehbar schlüssig und blieb auch auf Nachfragen konstant in seiner Schilderung. Dabei waren auch einseitige Belastungstendenzen nicht erkennbar. Insbesondere räumte der Zeuge auch inzwischen bestehende Erinnerungslücken ein.

Dass der Fahrvorgang der Klägerin für den Beklagten zu 1) erkennbar gewesen ist, vermag das Gericht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme jedenfalls nicht festzustellen.

Eine Erkennbarkeit für den Beklagten zu 1) ergibt sich entgegen der Ansicht der Klägerin auch nicht aus dem bereits im Bußgeldverfahren eingeholten Sachverständigengutachten.

Danach konnte der Sachverständige zwar feststellen, dass die Klägerin mit ihrem Fahrzeug im Moment der Kollision stand. Dass dies aber längere Zeit der Fall gewesen wäre und damit eine Erkennbarkeit bestand vermochte der Sachverständige aber nicht festzustellen.

Im Übrigen muss danach der Pkw der Klägerin für den Beklagten zu 1) in der Annäherung nicht erkennbar gewesen sein und auch das Hineinfahren vor die Front des Lkw konnte dem Beklagten zu 1) verborgen bleiben. Denn das klägerische Fahrzeug war für den Beklagten zu 1) allein im Rampenspiegel verzerrt zu sehen.

Der Beklagte zu 1) war aber als Vorfahrtsberechtigter nicht dazu verpflichtet diesen Spiegel zu nutzen und den Verkehr auf der Einfädelungsspur ständig zu beobachten.“