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Schlecht erkennbare Durchfahrtsperre, oder: Mitverschulden wegen Verletzung des Sichtfahrgebotes

Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

Im samstäglichen „Kessel Buntes“ köchelt dann heute zunächst das BGH, Urt. v. 23.04.2020 – III ZR 251/17. Es geht um die Verletzung des Verkehrssicherungspflicht eines Jagdepächters gegenüber einem Radfahrer und um dessen Mitverschulden bei einem Sturz mit seinem Rad.  Wegen dieses Unfalls macht der Kläger gegen die Beklagten Schadensersatzansprüche geltend.

Der BGH geht von folgendem Sachverhalt aus:

„Der Kläger war bis zu dem Unfallgeschehen als Marineoffizier der Bundeswehr tätig. Am Nachmittag des 15. Juni 2012 unternahm er mit seinem Mountainbike eine Radtour. Über die ihm unbekannten Örtlichkeiten hatte er sich zuvor mittels einer Karten-App informiert. Gegen 17.00 Uhr bog er von einer Straße in einen zum Gebiet der zu 1 beklagten Gemeinde gehörenden unbefestigten Feldweg ab, der als Sackgasse in einem Waldstück endete. Nach ungefähr 50 m befand sich auf dem Feldweg eine Absperrung. Diese bestand aus zwei in der Mitte des Weges befindlichen vertikalen nach unten auf den Boden gerichteten Holzlatten, an denen das Verkehrszeichen 260 (Verbot für Kraftfahrzeuge) befestigt war und die durch zwei waagerecht verlaufende verzinkte Stacheldrähte in der Höhe von etwa 60 cm und 90 cm gehalten wurden. Diese waren ihrerseits seitlich des Feldweges an im Unterholz stehenden Holzpfosten befestigt. An einem dieser Pfosten konnten die Stacheldrähte gelöst werden, um die Absperrung zu öffnen. Diese war Ende der 1980er-Jahre mit Zustimmung der Beklagten zu 1 durch den damaligen Jagdpächter errichtet worden. Der ehemalige Bürgermeister der Beklagten zu 1 hatte bis in das Jahr 2013 circa zwei- bis dreimal pro Quartal nach der Absperrung gesehen. Die Beklagten zu 2 und 3 waren die am Unfalltag verantwortlichen Jagdpächter des Niederwildreviers und nutzten den Feldweg regelmäßig, um zu einer hinter der Absperrung gelegenen Wiese zu gelangen, wo sich ein mobiler Hochsitz/Jagdwagen befand.

Als der Kläger die über den Feldweg gespannten Stacheldrähte bemerkte, führte er eine Vollbremsung durch; die Einzelheiten sind zwischen den Parteien streitig. Es gelang ihm nicht, sein Fahrrad rechtzeitig vor der Absperrung zum Stehen zu bringen, sondern er stürzte – links des Verkehrszeichens – kopfüber in das Hindernis. Dort blieb er mit seiner Kleidung hängen und konnte sich nicht mehr bewegen. Gegen 19.20 Uhr bemerkte ihn der zufällig vorbeikommende Beklagte zu 2, der Rettungsdienst und Polizei alarmierte.

Durch den Sturz erlitt der Kläger einen Bruch des Halswirbels und als Folge dessen eine vollständige Querschnittslähmung unterhalb des vierten Halswirbels. Vom 22. Juni 2012 bis 15. April 2013 befand er sich in stationärer Behandlung in einem Querschnittgelähmten-Zentrum. Er ist seit dem Unfall dauerhaft hochgradig pflegebedürftig und bedarf lebenslang einer querschnittslähmungsspezifischen Weiterbehandlung mit kranken-, physio- und ergotherapeutischen Maßnahmen. Das Wehrdienstverhältnis endete zum 31. März 2014; seitdem ist der Kläger Versorgungsempfänger.

Der Kläger verlangt von den Beklagten als Gesamtschuldnern u.a. ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld von mindestens 500.000 €. Das LG hat die Klage abgewiesen. Auf die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers hat das OLG der Klage teilweise stattgegeben, ist dabei aber von einem Mitverschulden von 75 % des Klägers ausgegangen. Dagegen die Revision des Klägers, die Erfolg hatte und zur Zurückverweisung der Sache an das OLG geführt hat.

Wegen der Umfangs der Begründung des BGH beschränke ich mich hier auf den Leitsatz zum Mitverschulden des Klägers:

Das Sichtfahrgebot gebietet es nicht, dass der Fahrer seine Geschwindigkeit auf solche Objekte (hier quer über einen für die Nutzung durch Radfahrer zugelassenen Weg gespannter, nicht auffällig gekennzeichneter Stacheldraht) einrichtet, die sich zwar bereits im Sichtbereich befinden, mit denen der Fahrer – bei Anwendung eines strengen Maßstabs – jedoch unter keinem vertretbaren Gesichtspunkt rechnen muss. Dies betrifft etwa Hindernisse, die wegen ihrer besonderen Beschaffenheit ungewöhnlich schwer erkennbar sind oder deren Erkennbarkeit in atypischer Weise besonders erschwert ist und auf die nichts hindeutet. Die falsche Reaktion eines Verkehrsteilnehmers stellt keinen vorwerfbaren Obliegenheitsverstoß dar, wenn dieser in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht vorhersehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgerechte unter-nimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlichem Erschrecken objektiv falsch reagiert.

Das Sichtfahrgebot auf der BAB

© frogarts - Fotolia.com

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Nach einem Unfall auf eine BAB geht es um die Frage: Verstoß gegen das Sichtfahrgebot und unangepasste Geschwindigkeit?  Der Klägers hatte bei Dunkelheit und mit einer Fahrgeschwindigkeit von 80-100 km/h auf der Autobahn A 1 Reifen- und sonstige Fahrzeugteile, die zuvor von einem bulgarischen LKW aufgrund einer Reifepanne verloren bzw. abgerissen worden waren und die verstreut auf der Fahrbahn lagen, überfahren. Seine Versicherung „sperrte“ sich gegen die Unfallschadenregulierung. Das OLG sagt im OLG Köln, Beschl. v. 06.02.2014 – 19 U 158/13  – in Übereinstimmung mit dem LG: Sie muss zahlen:

1. Eine Mithaftung des Klägers zu 30 % wegen eines Verstoßes gegen das Sichtfahrgebot hat das Landgericht zu Recht verneint. Denn das Sichtfahrgebot gilt auch auf Autobahnen nicht für solche Hindernisse, die gemessen an den jeweils herrschenden Sichtbedingungen erst außergewöhnlich spät erkennbar sind (BGH, Urteil vom 15.05.1984, VI ZR 161/82; OLG Celle, Urteil vom 05.09.2007, 14 U 71/07 zitiert nach juris). Nach den unbestrittenen Ausführungen des Klägers überfuhr er bei Dunkelheit und mit einer Fahrgeschwindigkeit von 80-100 km/h auf der Autobahn A 1 Reifen- und sonstige Fahrzeugteile, die zuvor von einem bulgarischen LKW aufgrund einer Reifepanne verloren bzw. abgerissen worden waren und die verstreut auf der Fahrbahn lagen. Nach der vom Beklagten selbst vorgelegten polizeilichen Unfallmitteilung waren vor dem Kläger bereits mehrere Fahrzeuge über die Reifen- und Fahrzeugteile (Spanngurte/Ratschen) gefahren, wodurch diese sich über alle Fahrstreifen verteilt hatten. Bei dieser Situation handelt es sich bei den überfahrenen Gegenständen um relativ kleine (kleiner als ein ganzer Reifen), sich bei Dunkelheit kaum von der Fahrbahn abhebende Gegenstände, die besonders schwer erkennbar sind (vergleichbar mit Splitthaufen: BGH, VersR 1960, 636; Absperrstange eines Weidezauns: BGH, VersR 1972, 1057; Reifenprotektor von 20 cm Höhe: BayObLG VRS 22, 380; Reserverad: BGH, Urt. vom 15.05.1984, a.a.O. zitiert nach juris; Reifendecke: LG Bielefeld, Urteil vom 24.09.1990, 22 O 180/90; Reifenkarkasse: AG Sinzig, ZfSch 2011, 381). In dieser Konstellation spricht – anders als beim Auffahren auf ein größeres Hindernis, z.B. auf ein liegen gebliebenes Fahrzeug – nicht der Beweis des ersten Anscheins für einen Verstoß gegen das Sichtfahrgebot und damit eine unangepasste Geschwindigkeit des Klägers. Der Beklagte hat auch keine Umstände aufgezeigt, die im vorliegenden Fall ausnahmsweise doch für eine Erkennbarkeit der Reifenteile für den Kläger sprechen. Insofern fehlen auch für das vom Beklagten beantragte Sachverständigengutachten geeignete Anknüpfungstatsachen. Auf die entsprechenden Ausführungen im landgerichtlichen Urteil wird verwiesen.“

Die beklagte Versicherung ist dem Hinweis des OLG nicht gefolgt und hat die Berufung nicht zurückgenommen. Mit OLG Köln, Beschl. v. 06.02.2014 – 19 U 158/13 – ist die Berufung dann zurückgewiesen worden.