Schlagwort-Archive: Sicherungshaftbefehl

U-Haft II: Vorführungsbefehl geht vor Sicherungs-HB, oder: Ein bisschen schnell geschossen

Bild von Alexas_Fotos auf Pixabay

In der zweiten Haftentscheidung geht es auch um die Verhältnismäßigkeit, und zwar um die eines Sicherungshaftbefehls (§ 230 Abs. 2 StPO).

Das AG hat einen Sitzungshaftbefehl gegen den Angeklagten, weil dieser zu einer Hauptverhandlungstermin trotz ordnungsgemäßer Ladung ohne erkennbaren Entschuldigungsgrund nicht erschienen war. Das LG hat auf die Beschwerde mit dem LG Leipzig, Beschl. v. 10.05.2022 – 8 Qs 26/22 – den Haftbefehl aufgehoben:

„Die Voraussetzungen für den Erlass eines Sitzungshaftbefehls gemäß § 230 Abs. 2 StPO waren insbesondere unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht gege-ben.

Nach § 230 Abs. 2 StPO kann gegen einen ausgebliebenen Angeklagten ein Haftbefehl erlassen oder die Vorführung angeordnet werden, wenn das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt und dies zur Durchführung der Hauptverhandlung geboten ist. Bei der Auswahl zwischen diesen beiden Zwangsmitteln ist das Gericht an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden.

Zwar ist der Angeklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung im anberaumten Hauptverhandlungstermin nicht erschienen. Die Ladung zum Hauptverhandlungstermin am 01.04.2022 konnte ordnungsgemäß unter der dem Gericht bekannten Wohnadresse zugestellt werden (vgl. ZU vom 12.03.2022 nach Bl. 111). Auch konnte das Gericht keine genügende Entschuldigung des Angeklagten feststellen. Der Erlass eines Sitzungshaftbefehls war aber unter den gegebenen Umständen schon aus dem Gesichtspunkt fehlender Verhältnismäßigkeit unzulässig.

Der Sitzungshaftbefehl war aber unter den gegebenen Umständen unverhältnismäßig, weil er den Beschwerdeführer nicht gerechtfertigt in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 16 Abs. 1 Satz 2 SächsVerf, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt.

1. Art. 16 Abs. 1 Satz 2 SächsVerf (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) garantiert die Freiheit der Person. Ein Eingriff in die persönliche Freiheit durch einen Sitzungshaftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO kann nur hingenommen werden, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und auf rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann. Die Bestimmung dient der Sicherung der Weiterführung und Beendigung eines begonnenen Strafverfahrens. Eine Maßnahme nach § 230 Abs. 2 StPO setzt nicht etwa dringenden Tatverdacht und Flucht oder Verdunklungsgefahr voraus, sondern nur die Feststellung, dass der Angeklagte in der Hauptverhandlung nicht erschienen und sein Ausbleiben nicht genügend entschuldigt ist. Als Mittel, die Anwesenheit des Angeklagten in einem neuen Verhandlungstermin sicherzustellen, sieht § 230 Abs. 2 StPO in erster Linie die Anordnung der Vorführung vor. Erst in zweiter Linie kann der weitaus stärker in die persönliche Freiheit eingreifende Haftbefehl in Frage kommen. Nur dies wird dem verfassungsrechtlichen Gebot gerecht, dass bei einer den Bürger belastenden Maßnahme Mittel und Zweck in angemessenem Verhältnis zueinander stehen müssen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 2006, BVerfGK 9, 406 [409]; SächsVerfGH, Beschluss vom 19. Juli 2012 – Vf. 36-IV-12 [HS]Nf. 37-IV-12 [e.A.]). Danach ist eine Verhaftung des Angeklagten mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu vereinbaren, wenn mit der erforderlichen Sicherheit bei verständiger Würdigung aller Umstände zu erwarten ist, dass der Angeklagte zum Termin erfolgreich vorgeführt werden kann (vgl. Becker in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 230 Rn. 25; OLG Düsseldorf, StV 2001, 332). Dies bedeutet, dass nicht jeder Zweifel an Realisierbarkeit einer Vorführung es schlechthin rechtfertigt, sogleich einen Sitzungshaftbefehl zu erlassen. Denn die gebotene Gesamtbetrachtung der Erforderlichkeit eines schwerwiegenden Grundrechtseingriffs kann ergeben, dass eine Maßnahme, die einen vergleichbaren Eignungsgrad nicht gänzlich erreicht, gleichwohl als milderes Mittel vorrangig auszuschöpfen ist, weil sie wesentlich weniger einschneidende Folgen nach sich zieht (vgl. Sachs, GG, 7. Aufl., Art. 20 Rn. 153 m. w. N.; Schultze-Fielitz in: Dreier, GG, 2. Aufl., Art. 20 Rn. 183; VerfGH Sachs Beschl. v. 26.3.2015 — Vf. 26-IV-14, BeckRS 2015, 52708, beck-online).

Aufgrund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person muss das Verfahren der Haftbeschwerde so ausgestaltet sein, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition besteht (vgl. zu Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG BVerfG, Be-schluss vom 30. August 2008 – 2 BvR 671/08 – juris Rn. 22). Im Grundsatz haben sich die mit Haftsachen betrauten Gerichte deshalb bei Haftentscheidungen mit den einzelnen Voraussetzungen eingehend auseinanderzusetzen und diese auf hinreichend gesicherter Tatsachenbasis zu begründen. Die Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Gericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten; sie müssen in sich schlüssig und nachvollziehbar sein. Von entsprechenden Darlegungen kann nur abgesehen werden, wenn die Nachrangigkeit des Freiheitsanspruchs offen zutage liegt und sich daher von selbst versteht (SächsVerfGH, Beschluss vom 19. Juli 2012 – Vf. 36-IV-12 (HS)Nf. 37-IV-12 (e. A.); Beschluss vom 28. Januar 2010 – Vf. 7-IV-10 [HS)Nf. 8-IV-10 [e. Al; VerfGH Sachs Beschl. v. 26.3.2015 — Vf. 26-IV-14, BeckRS 2015, 52708, beck-online).

Diesen Anforderungen trägt der mit der Haftbeschwerde angegriffene Sitzungshaftbefehl des Amtsgerichts Leipzig vom 01.04.2022 (ausgefertigt am 04.04.2022) nicht Rechnung. Die Entscheidung genügt jedenfalls der erforderlichen Begründungstiefe im Hinblick auf die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht; mit der Frage, weshalb das weniger einschneidende Mittel der Vorführungsanordnung hier nach den Umständen des Einzelfalls nicht ausreichend sein sollte, die Anwesenheit des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung zu gewährleisten, setzt sich das Amtsgericht nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise auseinander.

a) Soweit das Amtsgericht sinngemäß darauf verweist, dass ein Erscheinen des Beschwerdeführers mittels einer Vorführung nicht sicher zu erreichen sei, erwecken die Ausführungen bereits Zweifel, ob es sich habe davon leiten lassen, dass nach dem freiheitsgrundrechtlichen Erforderlichkeitsmaßstab nicht jegliche Gefahr eines solchen Fehlschlags den unmittelbaren Erlass eines Sitzungshaftbefehls unter Verzicht auf den vorrangigen Vorführungsversuch legitimiert. Weshalb bei der gebotenen Einzelfallbetrachtung der erforderlichen Erfolgswahrscheinlichkeit der Maßnahme hier ein gewisses Risiko des Misslingens der Vorführung nicht hinnehmbar sein sollte, wird nicht erörtert und ist auch nicht ersichtlich. Insbesondere lässt sich dem Sitzungshaftbefehl nicht entnehmen und es liegt auch sonst nicht auf der Hand, dass ein erfolgloser Vorführungsversuch besondere Nachteile nach sich ziehen würde, die es rechtfertigten, die Wahl dieses milderen Mittels von einer überdurchschnittlich hohen Wahrscheinlichkeit oder gar der Sicherheit des Erfolgseintritts abhängig zu machen.

b) Überdies begründet das Amtsgericht auch nicht verständlich und nachvollziehbar die an-hand seines eigenen Maßstabs getroffene Einschätzung, ein Erfolg der Vorführungsanordnung sei nicht möglich. Die amtsgerichtlichen Erwägungen beziehen sich insoweit allein auf unterschiedliche örtliche Zuständigkeiten der Polizei wegen der Lage des Wohnorts des Beschwerdeführers und des Gerichtsorts in verschiedenen Bundesländern und verweisen auf die hieraus resultierende grundsätzliche Unmöglichkeit einer direkten Vorführung des Beschwerdeführers. Aus welchen Gründen die bloße Notwendigkeit einer länderübergreifenden Abstimmung und gegebenenfalls Kooperation der Polizeibehörden hier die Realisierbarkeit der Maßnahme in Frage stellen sollte, erläutert die Entscheidung jedoch nicht und auch sonst nicht nachvollziehbar. Diesbezügliche Organisationsmängel dürfen sich ohnehin nicht zulasten des Beschwerdeführers auswirken.“

Amtsrichter und Pflichtverteidigerin 6 Monate untätig ==> Entschädigung nach dem StrEG, oder: Unfassbar.

© J.J.Brown – Fotolia.com

Ich eröffne die 47. KW. mit einem Beschluss des LG Görlitz, den mir in der vergangenen Woche der Kollege Israel aus Dresden übersandt hat mit der Anmerkung, dass es eine „bemerkenswerte“ Entscheidung sei. Dem stimme ich zu bezogen auf die (zutreffenden) Aussagen des LG. Nimmt man den zugrunde liegenden Sachverhalt, dann ist der Beschluss für mich nicht „nur „bemerkenswert“ sondern – ich weiß, manche Kommentatoren mögen diesen Ausdruch nicht – „unfassbar. Und zwar „unfassbar“ sowohl hinsichtlich der (Un)Tätigkeit des Amtsrichters alas aber auch hinsichtlich der der Pflichtverteidigerin.

Es geht nämlich in etwa um folgenden Sachverhalt:

Der Angeklagte war im Hauptverhandlungstermin vom o1.03. 2017 unentschuldigt nicht erschienen. Die zunächst angeordnete Vorführung des Angeklagten scheiterte, so dass auf Antrag der Staatsanwaltschaft bestimmungsgemäß ein Sitzungshaftbefehl gemäß § 230 Abs. 2 StPO erlassen wurde. Aufgrund des erlassenen Sitzungshaftbefehls wurde der Angeklagte am 07.04.2017 dem zuständigen Richter vorgeführt. Der Haftbefehl wurde in Vollzug gesetzt und dem Angeklagten gemäß § 140 Abs. 2 StPO eine Pflichtverteidigerin beigeordnet. Mit Verfügung vom 10.04.2017 wurden die Ermittlungsakten der Pflichtverteidigerin zur Akteneinsicht für drei Tage übersandt und die Wiedervorlage nach einer Woche angeordnet. Diese Verfügung wurde am 13.04.2017 ausgeführt. Die Akten gelangten aus der Akteneinsicht am 25.04.2017 wieder zurück zum Amtsgericht. Mit Verfügung vom 26.04.2017 verfügte der zuständige Richter „zur Terminierung“. In der Folgezeit unternahm die Pflichtverteidigerin nichts. Mit Schreiben vom 27.07.2017 stellte die Staatsanwaltschaft (!!) eine Sachstandsanfrage. Die Geschäftsstelle teilte daraufhin mit, dass ein für den 30.08.2017 abgestimmt gewesen sei, dieser aber aufgehoben werden müsse, da der zuständige Richter in der Woche vorn 28.08.2017 bis 1.09.2017 kurzfristig aus privaten Gründen Urlaub geplant habe.

Am 29.o9.2017 legte der inzwischen beauftragte Wahlverteidiger des Angeklagten Haftbeschwerde gegen Haftbefehl vom 01.03.2017 ein. Der wurde mit Verfügung vom 05.10.2017 von einem inzwischen anderen Richter – der ursprünglich war nach §§ 24 ff. StPO ausgeschieden – aufgehoben. Im neuen Hauptverhandlungstermin vom 26.09.2018 wurde der Angeklagte frei gesprochen. Ein Anspruch auf Entschädigung für die erlittene Sitzungshaft nach dem StrEG wurde verwehrt. Dagegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Angeklagten, die mit dem LG Görlitz, Beschl. v. 25.10.2018 – 13 Qs 124/18 – Erfolg hatte.

Das LG schließt sich in seiner Entscheidung zunächst der h.M. in Rechtsprechung und Literatur an und sagt: Auch ein zu Unrecht ergangener Sitzungshaftbefehl nach § 230 StPO und die dadurch verursachte Haft des Angeklagten sind grundsätzlich entschädigungspflichtig nach dem StrEG. Das wird m.E. überzeugend begründet. Ich weiß auch nicht, warum man darum streiten sollte/muss.

Und dann zu § 5 Abs. 3 StrEG:

„Dieser Entschädigungspflicht steht § 5 Abs. 3 StrEG nach Ablauf von drei Wochen nicht mehr entgegen.

Danach ist eine Entschädigung ausgeschlossen, wenn und soweit der Beschuldigte die Strafverfolgungsmaßnahme dadurch schuldhaft verursacht hat, dass er einer ordnungsgemäßen Ladung vor dem Richter nicht Folge geleistet oder einer Anweisung nach § 116 Abs. 1 Nr. 1 bis 3, Abs. 3 StPO zuwider gehandelt hat.

Zwar ist festzustellen, dass die am 1. März 2017 durch den zuständigen Richter angeordnete Sitzungshaft nach § 230 Abs. 2 StPO ordnungsgemäß angeordnet wurde. Der Angeklagte war trotz Ladung unentschuldigt dem Termin ferngeblieben und eine zunächst angeordnete Vorführung blieb erfolglos.

Aufgrund des bestehenden Sitzungshaftbefehls wurde der Angeklagte am 7. April 2017 dem zuständigen Richter vorgeführt und der Haftbefehl wurde in Vollzug gesetzt. An dieser Stelle ist wieder auf den Ansatz der Betrachtung, nämlich das grundgesetzlich geschützte Freiheitsrecht zu schauen. Ein Eingriff in dieses Freiheitsrecht bedarf zwingender Gründe und in allen Fällen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die Inhaftierung nach § 230 Abs. 2 StPO darf ihrem Sinn nach nur auf eine zeitlich eng begrenzte Dauer angeordnet werden. Bei länger andauernden Unterbrechungen der Hauptverhandlung muss gegebenenfalls ein Haftbefehl nach § 112 ff. StPO erlassen werden. Dient der Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO jedoch nur dem Zweck der Gewährleistung der Anwesenheit des Angeklagten in einem neuen oder einem Fortsetzungstermin, so ist der zuständige Richter gehalten, einen solchen Termin unverzüglich anzuberaumen, um der Verhältnismäßigkeit der Mittel gerecht werden zu können. Nur dann, wenn ihm dies in der gebotenen Eile nicht möglich sein sollte, wird der zunächst angeordnete Sitzungshaftbefehl gegebenenfalls in einen Haftbefehl nach §112 ff. StPO umzuwandeln oder aufzuheben sein.

In Rechtsprechung und Literatur sind bisher keine gesetzlichen Höchstfristen für die Dauer der sogenannten „Sitzungshaft“ gemäß § 230 Abs. 2 StPO, noch Grenzen im Spannungsfeld zwischen der Anordnung eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO und eines Haftbefehls nach § 112 ff. StPO bestimmt worden. Im vorliegenden Fall handelt es sich jedoch um ein einfach gelagertes Strafverfahren, welches zudem bereits durch Verfügung vom 17. Januar 2017 vorbereitet war. Außer dem Angeklagten sind fünf weitere Zeugen geladen worden. Aufgrund der Haftsituation und des einfachen und überschaubaren Strafverfahrens erscheint eine Neuterminierung nach Inhaftnahme des Angeklagten innerhalb von drei Wochen zwingend angezeigt. Tatsächlich hat der zuständige Richter jedoch keinerlei Anstalten einer zügigen Terminierung erkennen lassen. Vielmehr hat er lediglich nach Inhaftnahme des Angeklagten am 7. April 2017 zwar eine Pflichtverteidigerin bestellt und dieser Akteneinsicht für drei Tage gewährt, jedoch keinerlei Terminierungen vorgenommen. Lediglich am 26. April 2017 lässt sich eine Verfügung den Akten entnehmen, nach Rücklauf der Akten aus der Akteneinsicht bei der Pflichtverteidigerin, dass nunmehr die Geschäftsstelle terminieren soll. Auch auf ein Schreiben des Angeklagten aus der Justizvollzugsanstalt Anfang Mai 2017, mit dem Antrag ihm einen Pflichtverteidiger zu bestellen, ergeht lediglich eine Verfügung, dass er bereits eine Pflichtverteidigerin habe und die Wiedervorlage zum Termin erfolgen solle. Der Richter hat in Kenntnis der Haftsituation keinerlei Bemühen erkennen lassen, zügig zu terminieren, noch hat er seine Geschäftsstelle dazu angehalten, was aus dem Umstand hervorgeht, dass ein Termin für den 30. August 2017 abgesprochen war, dieser jedoch wegen eines privaten Kurzurlaubes des Richters wieder aufgehoben werden musste. Die Terminierung selbst lässt sich aus den Akten jedoch nicht nachvollziehen und war in Anbetracht der Inhaftierung am 07. April 2017 deutlich zu spät.

Es ist nicht Aufgabe der Geschäftsstelle die Haftsituation zu erfassen und entsprechend zu reagieren, sondern originäre richterliche Aufgabe.“

Wenn man es liest, mag man es kaum glauben: Hauptverhandlungstermin mit Erlass des Sitzungshaftbefehls am 01.03.2017. Vorführung und Vollzug der Haft ab 07.04.2017 und dann? Nichts bzw. Untätigkeit des zuständigen Richters, der sich offenbar um nichts gekümmert hat und einen von der Geschäftsstelle (!!) für den 30.08.2017 abgesprochenen Termin dann wegen eines kurzfristigen Privaturlaubs wieder absagt. Ergebnis dann endlich, nachdem sich der Wahlverteidiger eingeschaltet hat – auch die Pflichtverteidigerin hatte ja nichts getan: Am 05.10.2017 wird nach fast sechs Monaten (!) die Haft nach § 230 Abs. 2 StPO aufgehoben.

Alles in allem ein Trauerspiel – sowohl für den zunächst zuständigen Richter, der übrigens wegen Besorgnis der Befangenheit zu Recht abgelehnt worden ist – als auch für die Pflichtverteidigerin, die ihren Mandanten in der Sicherungshaft hat sitzen lassen, ohne in der Haftfrage tätig zu werden. Wie gesagt: Unfassbar.

Ach so: Und der Beschluss des LG ist richtig.

Aufgepasst beim Sicherungs-HB !! Mandant ordnungsgemäß im Ausland geladen?

Der Erlass des Sicherungshaftbefehls nach § 230 Abs. 1 StPO setzt eine ordnungsmäße Ladung des Angeklagten (§ 216 StPO) voraus. Wann die vorliegt, ist bei einem im Ausland lebenden Angeklagten gar nicht so einfach zu beantworten.

Dazu hat das KG vor einiger Zeit Stellung genommen. Der Leitsatz zu KG, Beschl. v. 10.11.2010 – 3 Ws 459/10 – 1 AR 1247/10 lautet:

„Der Erlass eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO setzt bei einem dauerhaft im Ausland lebenden Angeklagten voraus, dass seine Ladung zum Termin nicht nur gemäß § 216 Abs.1 Satz 1 StPO die Warnung auf die Folgen seines unentschuldigten Ausbleibens enthielt, sondern darüber hinaus den eindeutigen Hinweis, dass die Vollstreckung der angedrohten Zwangsmaßnahmen ausschließlich im Geltungsbereich der Strafprozessordnung erfolgt.“

Im Beschluss heißt es dann:

Unverzichtbarer Bestandteil jeder schriftlichen Ladung eines auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten ist die Warnung, dass im Falle seines unentschuldigten Ausbleibens seine Verhaftung oder Vorführung erfolgen wird. Lebt der Angeklagte dauerhaft im Ausland, wird diese Warnung in der obergerichtlichen Rechtsprechung teilweise als nach den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts unzulässig [vgl. OLG Brandenburg StRR 2007, 276; OLG Köln NStZ-RR 2006, 22; OLG Frankfurt NStZ-RR 1999, 18, 19], teilweise aber auch als zulässig angesehen, sofern sie den für den Zustellungsempfänger eindeutigen Hinweis enthält, dass die Vollstreckung der angedrohten Zwangsmaßnahmen ausschließlich im Geltungsbereich der Strafprozessordnung erfolgt [vgl. OLG Saarbrücken NStZ-RR 2010, 49; LG Saarbrücken, Beschluss vom 17. Juli 2010 2 Qs 22/10 – bei juris; OLG Rostock StRR 2008, 310].

Der Haftbefehl des Amtsgerichts kann nicht bestehen bleiben. Zwar ist nach § 230 Abs. 2 StPO die Verhaftung des der Hauptverhandlung ferngebliebenen Angeklagten anzuordnen, wenn dieser nicht genügend entschuldigt ist. Voraussetzung ist jedoch, dass er zum Termin ordnungsgemäß geladen wurde. Daran fehlt es hier. Dies beruht jedoch nicht darauf, dass der Verteidiger zur Entgegennahme der Ladung für den in Frankreich lebenden Angeklagten nicht bevollmächtigt gewesen ist. Der Angeklagte hat ihn vielmehr ausdrücklich hierzu bevollmächtigt und der Verteidiger hat dies durch die mit Schriftsatz vom 13. Januar 2010 überreichte Vollmacht vom 11. Dezember 2009 im Original nachgewiesen. Dass diese entgegen der Ansicht des Verteidigers durch eine auf den 15. Oktober 2009 datierte Vollmacht, die zudem nur in Ablichtung vorliegt, nicht eingeschränkt werden kann, ist offensichtlich und bedarf keiner näheren Begründung. Hinzu kommt, dass der Senat die Zweifel des Landgerichts an der Echtheit der Vollmacht vom 15. Oktober 2009 teilt, sodass fraglich ist, ob diese Vollmacht im Rechtsverkehr überhaupt Wirkung entfaltet. Letztlich kann dies jedoch dahinstehen, weil der in der an den Verteidiger bewirkten Ladung enthaltene Hinweis nach § 216 Abs. 1 StPO in dieser Form nicht hätte erteilt werden dürfen. Unverzichtbarer Bestandteil jeder schriftlichen Ladung eines auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten ist die Warnung, dass im Falle seines unentschuldigten Ausbleibens seine Verhaftung oder Vorführung erfolgen wird. Lebt der Angeklagte dauerhaft im Ausland, wird diese Warnung in der obergerichtlichen Rechtsprechung teilweise als nach den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts unzulässig [vgl. OLG Brandenburg StRR 2007, 276; OLG Köln NStZ-RR 2006, 22; OLG Frankfurt NStZ-RR 1999, 18, 19], teilweise aber auch als zulässig angesehen, sofern sie den für den Zustellungsempfänger eindeutigen Hinweis enthält, dass die Vollstreckung der angedrohten Zwangsmaßnahmen ausschließlich im Geltungsbereich der Strafprozessordnung erfolgt [vgl. OLG Saarbrücken NStZ-RR 2010, 49; LG Saarbrücken, Beschluss vom 17. Juli 2010 2 Qs 22/10 – bei juris; OLG Rostock StRR 2008, 310]. Letzterer Ansicht schließt sich der Senat an. Sie entspricht der in Nr. 116 Abs. 1 RiVASt geregelten Vorgehensweise…“

Schön, wenn man sieht, dass das KG auch den StRR zitiert :-).

Wochenspiegel für die 4. KW, oder wir blicken mal wieder über den Tellerrand

Wir berichten:

  1. Bei Kachelmann geht es weiter, vgl. hier, hier, hier und hier.
  2. Wirklich hemdsärmelig, vgl. hier.
  3. Auch Rechtsanwälte können verzweifeln, vgl. hier.
  4. Nochmals zum Abschalten von Jurablogs, hier.
  5. So kann man sich irren – als Mandant – vgl. hier.
  6. Unschön gebloggt, vgl. hier.
  7. Neue Art der Unfallregulierung, vgl. hier.
  8. Schon ein starkes Stück, Vollstreckung eines unbegründeten Sicherungshaftbefehls, hier.
  9. Interessant für alle die, die bisher nur einen FA-Kurs „absolviert“ haben, hier.
  10. Gedanken zum Fall Middelhoff, hier.

Kann man einen Untersuchungshaftbefehl umdeuten?

Interessante Frage, mit der sich das OLG Düsseldorf in seinem Beschl. v. 22.05.2010 – III-3 Ws 175/10 auseinanderzu setzen hatte.

Nämlich: Kann man einen Untersuchungshaftbefehl umdeuten in einen sog. Sicherungshaftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO. Das OLG bejaht das und sagt:  Erscheint ein Angeklagter zu einem gegen ihn angesetzten Termin zur Hauptverhandlung unter Vorlage von unzureichenden oder gefälschten Attesten nicht, so kann gegen ihn keine Untersuchungshaft angeordnet werden, wenn nicht einer der einschlägigen Haftgründe (§ 112 StPO) vorliegt. Fehlt es an einem Haftgrund, ist die Untersuchungshaft daher aufzuheben. Es sei dem Beschwerdegericht jedoch unbenommen, die zu Unrecht angeordnete Untersuchungshaft in eine Hauptverhandlungshaft umzuwandeln, um so das Erscheinen des Angeklagten zu sichern, wenn die übrigen Voraussetzungen hierfür vorliegen. Der Hauptverhandlungshaftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO stelle gegenüber dem Untersuchungshaftbefehl ein wesensgleiches Weniger dar und eine Umwandlung seidaher möglich, wenn kein milderes Mittel ersichtlich ist, um das Erscheinen des Angeklagten zu gewährleisten.