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Pflichti I: Kleines Potpourri der Beiordungsgründe, oder: Behinderungen, Nachtrunk, Haft und Sucht

Und dann vor dem morgigen Gebührentag heute erst noch einmal einige Pflichtverteidigungsentscheidungen. Herzlichen Dank allen, die Entscheidungen geschickt haben.

Ich beginne mit den Entscheidungen zum Grund der Bestellung. Dabei handelt es sich um:

Eine nicht ausreichende Wahrnehmung der Interessen durch einen Verletzten kann grundsätzlich auch dann vorliegen, wenn der Betroffene an einer Lese- oder Rechtschreibschwäche leidet.

Eine schwierige Sachlage im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO ist nicht allein mit dem Umstand zu begründen, dass ein Sachverständiger am Verfahren beteiligt ist. Die Notwendigkeit der sachverständigen Beurteilung eines behaupteten Nachtrunks ist kein Grund für die Bestellung eines Pflichtverteidigers.

1. Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn sich der Beschuldigte in anderer Sache in Haft befindet.

2. Die Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung liegen auch dann vor, wenn das Verfahren unverzüglich nach Eingang bei der Staatsanwaltschaft nach § 154 f StPO eingestellt worden ist.

Liegt beim Beschuldigten aktuell eine Suchtmittelerkrankung vor, welche zumindest zu einer erheblich eingeschränkten Schuldfähigkeit im Tatzeitpunkt führte, und ist die komplexe Thematik einer Unterbringung nach § 64 StGB gegeben, ist davon auszugehen, dass der Beschuldigte nicht in der Lage ist, sich ausreichend selbst zu verteidigen.

Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn ein sehbehinderter Beschuldigter mit einer einem GdB von 40 in Bezug auf seine Sehminderung die Bestellung eines Pflichtverteidigers beantragt.

Pflichti III: Bestellung in der Strafvollstreckung, oder: Bestellung im Bußgeldverfahren

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Und dann zum Schluss noch zwei Entscheidungen zu den Beiordungsgründen. Beide Entscheidungen betreffen nicht das „normale“ Erkenntnisverfahren, sondern einmal das Bußgeldverfahren und einmal die Strafvollstreckung, und zwar:

Liegt bei dem Verurteilten eine leichte Intelligenzminderung vor und ist ein Sachverständigengutachten zur Gefährlichkeit des Verurteilten erstattet, ist ihm im Strafvollstreckungsverfahren ein Pflichtverteidiger beizuordnen.

Dem Betroffenen ist auch im Bußgeldverfahren ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn die konkreten Umstände des Einzelfalls das erfordern. Das ist ausnahmsweise dann der Fall, wenn bereits eine erste Verurteilung des Betroffenen ist auf seine Rechtsbeschwerde vom OLG hin aufgehoben worden ist und die durchzuführende Hauptverhandlung sich maßgeblich an den Ausführungen des OLG zu orientieren hat, wobei die insoweit gebotene Auseinandersetzung mit den optischen Fehlerquellen einer Messung namentlich unter Berücksichtigung der Sichtverhältnisse und die juristische Bewertung der Messmethode von einem juristischen Laien nicht erwartet werden kann.

 

Pflichti: Kleine Sammlung zu Beiordnungsgründen, oder: Eröffnung Tatvorwurf, Rechtsfolge, Polizeizeugen

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So, es haben sich mal wieder einige Entscheidungen zu den §§ 140 ff. StPO – also Pflichtverteidigung – angesammmelt. Die stelle ich heute vor, allerdings nicht alle einzeln. Das würde den Rahmen sprengen. Ich habe daher versucht, die Entscheidungen thematisch zusammen zu fassen.

Ich starte hier dann mit den Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Ein Fall der notwendigen Verteidigung unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage kann aufgrund der zu erwartenden umfangreicheren Beweisaufnahme durch Vernehmung einer Vielzahl von Polizeizeugen anzunehmen sein.

Der Begriff der Eröffnung des Tatvorwurfs ist nicht so eng auszulegen, dass nur förmliche Mitteilungen über die Bekanntgabe eines Ermittlungsverfahrens im Sinne von §§ 136, 163a StPO hinreichend sind. Vielmehr genügt es für die Eröffnung des Tatvorwurfs, dass der Beschuldigte durch amtliche Mitteilung oder auf andere Weise als durch amtliche Mitteilung von dem Tatvorwurf gegen ihn in Kenntnis gesetzt worden ist.

Das Vorliegen eines Falles der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge ist im Regelfall anzunehmen, wenn eine mögliche Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe oder mehr im Raum steht. Bei der insoweit zu treffenden Prognose sind grundsätzlich alle gegen den Beschuldigten derzeit geführten Verfahren zu berücksichtigen, wobei die Grenze auch dann gelten soll, wenn sie nur wegen einer erforderlichen Gesamtstrafe erreicht wird. Hierbei handelt es sich allerdings keinesfalls um einen Automatismus. Vielmehr kommt es stets auf eine konkrete Einzelfallbewertung an.

Ist dem Beschuldigten der Tatvorwurf nicht von einer zuständigen Ermittlungsbehörde eröffnet worden, sondern ist ihm anderweitig bekannt geworden, dass ein Ermittlungsverfahren geführt wird, kann nicht von einer als Eröffnung des Tatvorwurfs im Sinne des § 141 StPO ausgegangen werden.

Zur (verneinten) Bestellung eines Pflichtverteidigers, wenn die Staatsanwaltschaft ggf. nur den Erlass eines Strafbefehls beantragt und damit ein Bewährungswiderruf wenig wahrscheinlich ist.

Pflichti III: Wirtschaftsstrafverfahren beim Strafrichter, oder: Schwierige Sachlage

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Und als letzte Entscheidung heute dann noch mal ein „Pflichtverteidigungsbeschluss“ zu den Beiordnungsgründen, und zwar der LG Regensburg, Beschl. v. 15.07.2020 -6 Qs 5/20.

Es geht um die Beiordnung in einem Wirtschaftsstrafverfahren beim Strafrichter. Dazu das LG:

„Gemäß § 140 Il S. 1 StPO ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers für den (nicht mehr verteidigten) Angeklagten erforderlich; wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- und/oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann. Weder die Schwere der Tat noch die Schwierigkeit der Rechtslage machen vorliegend eine, Pflichtverteidigerbestellung erforderlich. Das Vorliegen einer schwierigen Sachlage wird jedoch in der Rechtsprechung teilweise generell für Wirtschaftsstrafsachen vor dem Strafrichter mit der Begründung bejaht, dass auch in diesen Verfahren die Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis nicht umfassend vorbereitet werden kann  (Karlsruher Kommentar zur StPO, § 140, Rn 22 mwN). Nach wohl hM liegt eine schwierige Sachlage bei Verfahren vor dem Amtsgericht – Strafrichter – vor bei schwieriger Beweislage, wenn zum Beispiel ein Indizienbeweis zu führen ist, oder vor dem Wirtschaftsstrafrichter, wenn insbesondere Vorgänge der Betriebsführung; Buchhaltung und Bilanzierung zu prüfen sind (Meyer-Goßner/Schmitt, Kommentar zur StPO, 62. Auflage, § 140, Rdnr. 26a). Sowohl betreffend die pp GmbH wie auch. die pp GmbH hat sich die Staatsanwaltschaft jeweils zur Auswertung der Geschäftsunterlagen einer bei der Wirtschaftsabteilung beschäftigte Bilanzbuchhalterin bedient. Diese Auswertung ist im Strafbefehlsantrag auch als Beweismittel benannt. Von Seiten der Verteidigung im weiteren Verfahren übersandte Jahresabschlüsse wurden von der Staatsanwaltschaft ebenfalls der vorgenannten Bilanzbuchhalterin zur Überprüfung und Stellungnahme übersandt. Eine diesbezüglich aktualisierte Gegenüberstellung der liquiden Mittel zu fälligen Verbindlichkeiten für die pp. GmbH sowie die pp. GmbH wurden erstellt und zur Akte genommen. Die ergänzende Stellungnahme der Bilanzbuchhalterin hingegen wurde lediglich zur Handakte „genommen, inhaltlich vermutlich jedoch in die Verfügung vom 03.03.2020 eingearbeitet. Da damit in der mündlichen Verhandlung offensichtlich Vorgänge der Buchhaltung und auch Bilanzierung zur Beurteilung der bestehenden Zahlungsfähigkeit bzw.  Zahlungsunfähigkeit sowohl der GmbH wie auch der GmbH zu prüfen sein werden und eine sachgerechte Verteidigung ohne Akteneinsicht aufgrund der erstellten Auswertungen nicht möglich ist, ist selbst nach oben zitierter eingeschränkter Rechtsprechung von einer schwierigen Sachlage im Sinne der Generalklausel des § 140 II StPO auszugehen, sodass die beantragte Pflichtverteidigerbestellung im Ergebnis nicht versagt werden kam.“

Pflichti I: Schwierige Sachlage, oder: Beurteilung des Wertes eines wiederholten Wiedererkennens

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Heute dann ein „Pflichtverteidigungstag“.

Und den eröffnet der LG Magdeburg, Beschl. v. 19.07.2019 – 25 Qs 961 Js 82097/18 (63/19) –, den mir der Kollege Siebers aus Braunschweig vor einiger Zeit geschickt hat.

Der hatte in einem Verfahren mit dem Vorwurf der Körperverletzung seine Bestellung beantragt, die das AG aber abgelehnt hat. Begründung: Weder die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO noch die des § 140 Abs. 2 StPO seien gegeben. Es komme insbesondere auch nicht auf die vom Kollegen angeführte Vorschrift des § 27 JGG an, da die angeklagte Tat vor der Entscheidung gemäß § 27 JGG und damit nicht in der Bewährungszeit begangen worden sei.

Das LG Magdeburg hat das anders gesehen und den Kollegen bestellt. Allerdings auch nicht wegen § 27 JGG, sondern wegen einer Beweisproblematik:

„Dem Angeklagten ist aufgrund der Schwierigkeit der Sachlage ein Verteidiger gemäß § 140 Abs. 2 StPO zu bestellen. Nach Aktenlage wurde mit insgesamt vier Zeugen, darunter auch mit dem Geschädigten, jeweils eine Wahllichtbildvorlage durchgeführt. Zwei Zeugen haben den Angeklagten als Täter hierbei nicht wiedererkannt, ein weiterer Zeuge stellte bei drei Personen Ähnlichkeiten mit dem Täter fest, und lediglich der Geschädigte konnte den Angeklagten als Täter mit Sicherheit wiedererkennen. Aus der Aussage des Geschädigten ergibt sich jedoch, dass er vor Durchführung der Wahllichtbildvorlage einem Bekannten von dem Vorfall erzählt und ihm gegenüber den Täter beschrieben hat. Daraufhin habe dieser Bekannte ihm gegenüber geäußert, er kenne den von ihm so beschriebenen Täter vom Handballsport und habe daraufhin alte Mannschaftsbilder herausgesucht, und auf diesen Bildern habe er den Täter wiedererkannt.

Nach Aktenlage ist daher im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Beweise auch die Beurteilung des Wertes eines wiederholten Wiedererkennens im Rahmen einer Wahllichtbildvorlage aufgrund einer vorherigen Wiedererkennung auf Fotos , die dem Zeugen zuvor durch Dritte gezeigt worden sind, zu würdigen bzw. zu erörtern. Für diesen Fall hat die Kammer bereits in einer Entscheidung vom 20.06.2018 — Az.: 25 Qs 56/18 —, veröffentlicht in juris, entschieden, dass in diesem Fall die Voraussetzungen für eine Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO wegen der schwierigen Sachlage geboten ist.“