Schlagwort-Archive: Revisionsgrund

Judex non calculat (?) und Belastung zählt nicht

Die mit der (richtigen bzw. der Einhaltung) der Urteilsfrist des § 275 StPO zusammenhängenden Fragen beschäftigen den BGH häufig (vgl. z.B. hier). Es handelt sich bei der Verletzung/Überschreitung der Frist ja auch um einen i.d.R. einfach festzustellenden absoluten Revisionsgrund (§ 338 Nr. 7 StPO), bei dem m.E. zudem die Rechtsprechung des BGH auch verhältnismäßig streng ist. Das zeigt mal wieder der BGH, Beschl. v. 13.07.2011 – 2 StR 88/11.

Die Urteilsfrist lief in dem Verfahren am 01.12.2010 ab, das Urteil wurde erst am 06.12.2010 zur Akte gebracht. Die Verzögerung ist dann offenbar mit zusätzlicher Belastung durch die Vorbereitung der Hauptverhandlung in einer anderen Haftsache und einer falschen Berechnung der Frist begründet worden – ob auch letzteres ergibt sich nicht so ganz klar aus dem Beschluss. Jedenfalls hat dem BGH die Begründung für die Verspätung nicht genügt. Er führt dazu aus:

Das Landgericht hat nach 19-tägiger Hauptverhandlung am 29. September 2010 das angefochtene Urteil verkündet. Gemäß § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO betrug daher die Frist, in der die Urteilsurkunde zu den Akten zu  bringen war, neun Wochen; sie endete demnach am 1. Dezember 2010. Zur Akte gelangt ist die Urteilsurkunde jedoch erst am 6. Dezember 2010.

Gemäß § 275 Abs. 1 Satz 4 StPO darf die Frist nur überschritten werden, wenn und solange das Gericht durch einen im Einzelfall nicht voraussehbaren unabwendbaren Umstand an ihrer Einhaltung gehindert worden ist. Ein solcher Umstand ist hier nicht ersichtlich und ergibt sich insbesondere auch nicht aus der dienstlichen Erklärung des Vorsitzenden der Strafkammer. Danach war die Strafkammer während der Dauer der Hauptverhandlung und des Laufs der Absetzungsfrist, deren Ende aufgrund eines Berechnungsfehlers versehentlich auf den 8. Dezember 2010 notiert worden war, noch mit zwei anderen eilbedürftigen Haftsachen befasst. Die geltend gemachten Umstände rechtfertigen eine Fristüberschreitung jedoch nicht. Bereits bei Beginn der Absetzungsfrist waren die zusätzlichen Belastungen, die mit beiden seit Juli 2010 zur Vorbereitung einer Hauptverhandlung zu bearbeitenden weiteren Haftsachen verbunden waren, vorhersehbar, wobei in dem in Frage stehenden Zeitraum ohnehin nur in einem der beiden Verfahren parallel die Hauptverhandlung geführt wurde. Nach ständiger Rechtsprechung liegen Belastungen durch anderweitige Hauptverhandlungen selbst dann außerhalb der zugelassenen Ausnahmen, wenn sie die Arbeitskraft der Richter infolge des Umfangs oder der Schwierigkeit des Verfahrens in besonderer Weise binden (vgl. BGH NJW 1988, 1094; NStZ 1992, 398; 2008, 55; Senat NStZ 2003, 564). Ebenso wenig kann eine falsche Berechnung der Urteilsabsetzungsfrist einen nicht voraussehbaren unabänderlichen Umstand im Sinne des § 275 Abs. 1 Satz 4 StPO begründen (vgl. BGH NStZ-RR  1997, 204; 2011, 211). Die Aufhebung des Urteils wegen des Verfahrensmangels erstreckt sich nicht auf die nicht revidierenden Mitangeklagten Me. und Ma.“

Die „nicht revidierenden Mitangeklagten Me. und Ma.“ werden sich vermutlich ärgern, dass sie nicht auch Revision eingelegt haben.

Augenscheinseinnahme geht nicht ohne der Angeklagten

In Zusammenhang mit der Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung nach § 247 StPO werden in der Praxis häufig Fehler gemacht. Das merkt man deutlich daran, dass Aufhebungen von landgerichtlichen Entscheidungen durch den BGH häufig auf gerade diesen Fehlern beruhen. Ein Klassiker ist die Entfernung des Angeklagten und die dann in seiner Abwesenheit durchgeführte Vernehmung des Zeugen, bei dem diesen dann ein Lichtbild gezeigt wird, das in Augenschein genommen wird.

Zu der Problematik hat jetzt vor kurzem noch einmal der BGH in seinem Beschl. v. 05.10.2010 – 1 StR 264/10 Stellung genommen. Danach gilt: Wird in einem Strafverfahren der Angeklagte vor Vernehmung eines Zeugen aus dem Sitzungszimmer entfernt und dann dem Zeugen ein Lichtbild zur Augenscheinseinnahme vorgelegt, zu dem dieser Aussagen macht, so ist dieses Lichtbild dem Angeklagten innerhalb der Verhandlung ebenfalls vorzulegen. Die Nichtvorlage des Lichtbildes begründet einen absoluten Revisionsgrund. Denn die Augenscheinseinnahme ist vom restriktiv auszulegenden Begriff der Vernehmung nicht umfasst, so dass bei Nichtvorlage des Bildes ein Teil der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt wurde.

Muss man als Verteidiger drauf achten und dann ggf. die Rüge nach § 338 Nr. 5 StPO erheben.

Ordnung muss sein, jedenfalls entschuldigt Unordnung nicht

Ein häufig übersehener absoluter Revisions-/Rechtsbeschwerdegrund ist die Versäumung/Überschreitung der Urteilsabsetzungsfrist (§§ 275, 337 Nr. 7 StPO). Um so schöner deshalb für den Mandanten, wenn der Verteidiger an der Stelle dann mal Glück hat und entdeckt, dass die Urteilsabsetzungsfrist überschritten war.

So beim AG Koblenz, wo das Urteil am 01.03.2010 verkündet, die schriftlichen Urteilsgründe aber erst am 18.05.2010 zur Akte und erst am 01.06.2010 zur Geschäftsstelle gelangt waren. Da hat dem Amtsrichter auch nicht die Berufung auf § 275 Abs. 1 Satz 4 StPO geholfen und der Hinweis darauf, dass die Akte „zeitweilig unauffindbar“ war. Das sei kein „nicht voraussehbarer und unabwendbarer Umstand“ im Sinne von § 275 Abs. 1 Satz 4 StPO hat das OLG Koblenz in seinem Beschl. v. 26.08.2010 – 2 SsBs 84/10 gesagt. Und noch gleich einen drauf gesetzt: „Zumindest unabwendbar ist ein solches Vorkommnis bei Beobachtung der gebotenen Sorgfalt nicht (vgl. OLG Celle, NJW 1982, 397; Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 275, Rdnr. 14)“.

Ordnung muss eben sein. Zudem ist mir nicht so ganz erklärlich, wieso eine Akte „zeitweilig unauffindbar“ sein kann. Die Suche muss hier zudem länger gedauert haben…

Ein-/Ansichten eines ehemaligen Revisionsrichters, oder: Die Hoffnung im Revisionsverfahren ist bereits gestorben

Mit Interesse verfolge ich als ehemaliger Revisionsrichter die derzeit entbrannte Diskussion in der Frage: Revision, ja oder nein. Während der Kollege Vetter auch „Das vergessene letzte Wort“ nicht unbedingt als Anlass sieht, Revision einzulegen, plädiert der Kollege Hoenig unter der Überschrift: Kritischer Verzicht auf die Hoffnung“ dafür, i.d.R. immer, wenn Hoffnung auf Urteilsaufhebung besteht, Revision einzulegen, auch wenn das erstinstanzliche Urteil „passt“. Es gibt sicherlich eine ganz Reihe guter Gründe, die für die eher abwägende Auffassung des Kollegen Vetter sprechen, aber auch ebenso gute, die für die etwas forsche Ansicht des Kollegen Hoenig ins Feld geführt werden können. Die Entscheidung wird im Zweifel – jetzt kommt eine Platidüde – von dem sog. Umständen den Einzelfalls abhängen. Dazu gehören die vom Kollegen Hoenig ins Feld geführten Umstände: Zeitgewinn, Verfahrensverzögerung, § 331 StPO (wenn die Staatsanwaltschaft nicht auch ins Rechtsmittel geht), aber auch die Frage, wie risikofreudig der Mandant ist, der im Falle der endgültigen Verurteilung die gesamten Kosten des Verfahrens, also auch die des erfolgreichen Rechtsmittels tragen muss.

Eins ist aber – und dazu habe ich bereits beim Kollegen Hoenig kurz kommentiert – zu bedenken. Den – wie der Kollege Hoenig meint – faktisch absoluten Revisionsgrund (im Beitrag des Kollegen Vetter den des vergessenen letzten Wortes) gibt es m.E. nicht mehr. Über allen Verfahrensrügen schwebt seit der Entscheidung des großen Senats für Strafsachen vom 23.04.2007 (BGHSt 51, 298) das Damoklesschwert der nachträglichen Änderung des Protokolls der Hauptverhandlung, die der BGH ja jetzt auch zulässt, wenn dadurch einer Verfahrensrüge der Boden entzogen wird. Man mag über die Rechtsprechung denken was man will (ich denke nichts Gutes); aber man darf nicht übersehen, dass sie bei den Tatsacheninstanzen angekommen ist. Das zeigt nicht zuletzt die Rechtsprechung des BGH, wo immer wieder auch diese Frage behandelt wird (oder auch nicht).

Exkurs: Das habe ich vor kurzem selbst erlebt: Ausschluss des Angeklagten in der Hauptverhandlung nach § 247 StPO, nach dem Hauptverhandlungsprotokoll und den Aufzeichnungen/Erinnerungen des Instanzverteidigers ohne begründeten Beschluss. Damit auch ein faktisch absoluter Revisionsgrund, der auch geltend gemacht wird. 3 Wochen später Nachricht der Kammer mit dienstlichen Äußerungen, dass ein Beschluss ergangen sei (und einer m.E. technisch nicht möglichen Erklärung, warum er nicht im Protokoll ist), dann Berichtigung und der BGH verwirft die Revision, ohne ein Wort zu der zumindest aus unserer Sicht nicht nachvollziehbaren Protokollberichtigung zu sagen (er hat auch sonst nichts gesagt; auch das muss man erst mal lernen :-)). Über die Weiterungen, die das Revisionsverfahren hatte, demnächst mehr…

Zur Sache: Die Frage des „faktisch absoluten Revisionsgrundes“ und seiner „Beseitigung“ darf man bei der Beratung des Mandanten neben allen anderen bedenkwerten Umständen nicht aus dem Auge verlieren. Den sog. Selbstläufer im Revisionsverfahren gibt es nicht mehr. Übersieht man das, kann es ein böses Erwachen geben (vgl. aber auch den „positiven Spielbericht“ des Kollegen Feltus).

Ich breche eine Lanze für den Revisionsverteidiger, oder: Manchmal sind 100 Seiten noch zu wenig

Der Kollege Nebgen hatte gestern in seinem Blog über einen ZAP-Beitrag von Egon Schneider zu „100 Seiten Revision“ berichtet. Zur Länge von Schriftsätzen ist dann hier kritisch Stellung genommen worden. Die Stellungnahme gipfelt darin, dass es heißt:

Sicher gibt es Fälle, wo auch 100 Seiten eigentlich kurz und knapp sind; z.B. wenn es in einem Bauprozess um 200 Positionen geht. Geht es aber nur um ein Ding: nämlich z.B.: ist dem Verurteilten im Prozess ordnungsgemäß ein Mord nachgewiesen worden? dann sind 100 Seiten einfach zu viel. ….Böse gesagt: im zitierten Beispiel reicht schon die Angabe der Länge des Schriftsatzes aus, um zur Auffassung zu kommen, dass der Bescheid des BGH den Nagel auf den Kopf trifft.“

Der Kollege Nebgen hat sich darauf noch einmal gemeldet und die Rechtsprechung des BGH beklagt, die zu diesen langen Revisionsbegründungen führt.

Ich kann dem nur zustimmen und damit eine Lanze für den Revisionsverteidiger brechen. Wenn man die Rechtsprechung des BGH zu § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO – und leider auch die der OLG – sieht/kennt, dann hat man als Revisionsverteidiger gar keine andere Möglichkeit, als wirklich alles, aber auch alles vorzutragen, was mit dem geltend gemachten Verfahrensverstoß in Zusammenhang steht und möglicherweise von Bedeutung sein kann, wenn man nicht Gefahr laufen will, dass die Rüge unzulässig ist/wird (vgl. dazu auch hier). Das ist nicht nur bei sog. Negativtatsachen der Fall, sondern z.B. auch, wenn es um Verfahrensverzögerung geht, wenn es um einen Verstoß gegen § 81a Abs. 2 StPO geht usw., usw. Da sind schnell ganze Bücher zusammengeschrieben und auch schnell, da ja auch alle Beschlüsse und sonstige Verfahrenstatsachen vorgetragen werden müssen, 100 Seiten erreicht und manchmal auch übertroffen.

Im Zivilrecht mag es richtig sein, dass „10 oder eher noch 5 Seiten, gefüllt mit knackigen Argumenten“ – wie der Kollege in seinem Blog meint – genügen mögen. Im Strafverfahren zwingt eben die Rechtsprechung der Revisionsgerichte , „ganze Romane“ vorzutragen. Wenn ein Bauprozess mit einem Mordverfahren verglichen wird, vergleicht man Birnen mit Äpfeln. Die Aussage

„Geht es aber nur um ein Ding: nämlich z.B.: ist dem Verurteilten im Prozess ordnungsgemäß ein Mord nachgewiesen worden? dann sind 100 Seiten einfach zu viel.“

ist m.E. in ihrer Allgemeinheit falsch.

Sorry, aber ich habe ja nun selbst 15 Jahre lang mit Revisionen gekämpft :-). Manchmal sind 100 Seiten sogar noch zu wenig. Das Einzige was den Verteidiger „beruhigen“ sollte: Der Revisionsrichter muss es alles lesen :-).