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Pflichti I: Rechtsmittelverzicht ohne Verteidiger?, oder: Betreuung und „Schwere der Tat“

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Und dann mal wieder ein Pflichtverteidigungstag.

Den eröffne ich mit dem OLG Celle, Beschl. v. 04.05.2023 – 2 Ws 135/23. Ein Klassiker. Nämlich: Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts, den der Angeklagte erklärt, ohne dass der an sich erforderliche notwendige Verteidiger anwesend ist.

Das AG hat den Angeklagten am 02.11.2022 wegen vorsätzlicher Körperverletzung iund Beleidigung  verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. In der Hauptverhandlung erklärten der nicht verteidigte Angeklagte sowie die Staatsanwaltschaft im Anschluss an die Urteilsverkündung einen Rechtsmittelverzicht.

Mit Schriftsatz vom 08.11.2022 legte der Angeklagte durch seine nunmehr bevollmächtigte Verteidigerin Berufung gegen das Urteil ein und macht geltend, der erklärte Rechtsmittelverzicht sei mangels Mitwirkung eines Verteidigers an der Hauptverhandlung unwirksam. Es habe ein Fall der notwendigen Verteidigung vorgelegen, da der Angeklagte bei Begehung der abgeurteilten Taten unter Bewährung gestanden habe, eine Begutachtung des Angeklagten zu den Voraussetzungen gem. §§ 20, 21 sowie § 64 StGB angezeigt gewesen wäre und der Angeklagte gerichtlich wie außergerichtlich von einer Betreuerin vertreten werde, deren Aufgabenkreis u.a. Rechts- / Antrags- und Behördenangelegenheiten umfasse.

Das LG hat die Berufung gem. § 322 StPO als unzulässig verworfen. Sie erachtet den erklärten Rechtsmittelverzicht für wirksam, denn der Angeklagte sei verhandlungsfähig gewesen und ein Fall der notwendigen Verteidigung habe nicht vorgelegen.

Dagegen die als „Revision“ bezeichneten Eingabe der Verteidigerin. Die hatte beim OLG Erfolg:

1. Die gem. § 300 StPO als die allein statthafte sofortige Beschwerde gem. § 322 Abs. 2 StPO auszulegende Eingabe der Verteidigerin des Angeklagten ist zulässig und in der Sache auch begründet.

Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten zu Unrecht als unzulässig verworfen, denn der von dem seinerzeit nicht anwaltlich vertretenen Angeklagten in der Hauptverhandlung vor dem Strafrichter erklärte und im Protokoll beurkundete Rechtsmittelverzicht war unwirksam. Der Rechtsmittelverzicht steht mithin der Zulässigkeit des von dem alsdann beauftragten Verteidiger fristgerecht eingelegten Rechtsmittels nicht entgegen.

Zwar ist im Hauptverhandlungsprotokoll vom 2. November 2022 vermerkt, dass die Rechtsmittelverzichtserklärung dem Angeklagten – wie in § 273 Abs. 3 S. 3 StPO vorgeschrieben – noch einmal vorgelesen wurde und die Genehmigung erfolgt ist, so dass die Sitzungsniederschrift gemäß § 274 Satz 1 StPO für den erklärten Verzicht beweiskräftig ist. Zudem kann ein erklärter Rechtsmittelverzicht als Prozesshandlung grundsätzlich nicht widerrufen, angefochten oder sonst zurückgenommen werden. In der Rechtsprechung ist jedoch anerkannt, dass in besonderen Fällen schwerwiegende Willensmängel bei der Erklärung des Rechtsmittelverzichts aus Gründen der Gerechtigkeit dazu führen, dass eine Verzichtserklärung von Anfang an unwirksam ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. 1. 2008 – 2 BvR 325/06, NStZ-RR 2008, 209 m. zahlr. w. N); denn im Hinblick auf die Unwiderruflichkeit des Rechtsmittelverzichts kann es mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar sein, wenn der Angeklagte nur aus formellen Gründen an den äußeren Wortsinn einer Erklärung gebunden wird, der mit seinem Willen nicht im Einklang steht (BVerfG a.a.O.).

Ein solcher Ausnahmefall wird u. a. dann angenommen, wenn entgegen § 140 StPO ein Verteidiger in der Hauptverhandlung nicht mitgewirkt hat und der Angeklagte unmittelbar nach der Urteilsverkündung auf Rechtsmittel verzichtet hat (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 2. Mai 2012 – 4 Ws 41/12 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 26. März 2009 – 5 Ws 91/09 –, juris; BGH, Beschluss vom 5. 2. 2002 – 5 StR 617/01, NJW 2002, 1436, Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 302, Rn. 25a). Der von einem Angeklagten in derartiger Weise abgegebene Rechtsmittelverzicht wird als unwirksam angesehen, weil sich der Angeklagte nicht mit einem Verteidiger beraten konnte, der ihn vor übereilten Erklärungen hätte abhalten können (vgl. KG Berlin a.a.O., OLG Hamm a.a.O., BGH a.a.O.)

So liegt der Fall hier, denn entgegen der Auffassung des Landgerichts Bückeburg war ersichtlich ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben.

Soweit das Landgericht ausführt, ein Fall von § 140 Abs. 2 StPO liege nicht vor, da der Angeklagte angesichts der schriftlichen Urteilsgründe des Amtsgerichts Bückeburg und der darin nicht nur formelhaft begründeten Bewährungsentscheidung nicht mit einem Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Oldenburg vom 10. September 2020 (Az.: 85 Ds 7/20) zu rechnen habe, geht der Einwand fehl.

Denn allein maßgeblich für die Frage, ob ein Fall von § 140 Abs. 2 StPO gegeben ist, ist der Zeitpunkt der Hauptverhandlung und der dort abgegebenen Rechtsmittelverzichtserklärung. Hier war dem Angeklagten schon deshalb ein Verteidiger beizuordnen, weil gravierende Zweifel daran bestehen, dass er in der Lage war, sich selbst zu verteidigen. Denn nach der Rechtsprechung ist in Fällen, bei denen dem Angeklagten – wie hier – ein Betreuer mit dem Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden“ bestellt wurde, regelmäßig ein Fall von § 140 Abs. 2 StPO gegeben (KG, Beschluss vom 20.12.2021, Az.: (2) 161 Ss 153/21 (35/21), BeckRS 2021, 43952; OLG Hamm, Beschluss vom 14. 8. 2003 – 2 Ss 439/03, NJW 2003, 3286; LG Magdeburg, Beschluss vom 21. Juli 2022 – 25 Qs 53/22 –, juris; LG Berlin, Beschluss vom 14. Dezember 2015 – 534 Qs 142/15 –, juris; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 140, Rn. 30). Vorliegend trat kumulativ hinzu, dass sich die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage der Voraussetzungen von §§ 20, 21 sowie § 64 StGB förmlich aufdrängte, denn das Amtsgericht stellt im Urteil vom 2. November 2022 selbst fest, dass der Angeklagte vor den abgeurteilten Taten 3,5 Liter Bier sowie eine halbe Flasche Wodka konsumiert hatte, hochgradig alkoholabhängig ist, zahlreiche Male strafrechtlich wegen Körperverletzungsdelikten sowie wegen Trunkenheitsfahrten verurteilt wurde und noch bis zum 1. Februar 2022 eine stationäre Alkoholtherapie absolviert hatte. Mithin drohte dem Angeklagten im Falle einer Verurteilung wegen der im hiesigen Verfahren angeklagten Taten nicht nur ein Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten 9-monatigen Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Oldenburg vom 10. September 2020, sondern auch die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB und damit ein weiterer sonstiger schwerwiegender Nachteil, der bei der Prüfung der Voraussetzungen von § 140 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen war (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21; MüKoStGB/van Gemmeren, 3. Aufl. 2016, StGB § 64 Rn. 105; LG Kleve, Beschluss vom 14. November 2014 – 120 Qs 96/14 –, juris).

Nach alledem war der Strafrichter des Amtsgerichts Bückeburg aus Gründen der prozessualen Fürsorgepflicht gehalten, dem Angeklagten von Amts wegen einen Verteidiger beizuordnen, der ihm in der Hauptverhandlung beistehen und mit dem er sich hätte beraten können. Der unmittelbar nach Urteilsverkündung von dem Angeklagten erklärte Rechtsmittelverzicht kann bei Würdigung der Gesamtumstände in der Person des Angeklagten nicht als rechtswirksam erachtet werden. Da der im Protokoll beurkundete Rechtsmittelverzicht mithin der Zulässigkeit des fristgerecht eingelegten Rechtsmittels nicht entgegensteht, war der angefochtene Beschluss aufzuheben.“

Wenn man es liest, kann man nur den Kopf schütteln, und zwar doppelt. Nämlich einmal über die Verteidigerin, die sich – gelinde ausgedrückt – im Rechtsmittelrecht nicht so gut auszukennen scheint und ihre Eingabe als „Revision“ bezeichnet hat. Aber man muss m.E. den Kopf noch mehr über AG und LG schütteln. Da sieht man es als nicht notwendig an, einem Angeklagten, der – wenn der Vortrag der Vereteidigerin stimmt – bei Begehung der abgeurteilten Taten unter Bewährung gestanden hat, dessen Begutachtung zu den Voraussetzungen gem. §§ 20, 21 StGB sowie § 64 StGB ggf. angezeigt gewesen wäre und der  gerichtlich wie außergerichtlich von einer Betreuerin vertreten wird, deren Aufgabenkreis u.a. Rechts-/Antrags- und Behördenangelegenheiten umfasst, ohne Verteidiger? Ohne weitere Worte.

OWi I: Rechtsmittelverzicht im Protokoll der HV, oder: Keine Befugnis zum Verzicht in der Untervollmacht

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Und dann heute drei OWi-Entscheidungen. Nichts Bedeutendes, aber immerhin…

Ich starte mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 08.05.2023 – 1 ORbs 166/23. Das AG hat den Betroffenen am 16.11.2022 wegen einer Geschwindigkeotsüberschreitung verurteilt Der Betroffene war von seiner Verpflichtung zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung offensichtlich entbunden worden, wobei sich ein entsprechender Beschluss nicht bei den Akten befunden hat. Die Verteidigerin des Betroffenen hatte mit Schriftsatz vom 14.11.2022 Rechtsanwalt („Name 01“), „zur Wahrnehmung des Hauptverhandlungstermins am 16.11.2022 Terminvollmacht“ erteilt, ohne diese weiter zu spezifizieren. In dem Hauptverhandlungsprotokoll ist das Feld „Rechtsmittelbelehrung wurde erteilt“ angekreuzt, daneben steht die handschriftliche Ergänzung „RM-Verzicht“.

Der Betroffene hat gegen die Entscheidung des AG Rechtsbeschwerde eingelegt. Die Bußgeldrichterin hat den Betroffenen und dessen Verteidigerin darauf hingewiesen, dass in der Hauptverhandlung ein Rechtsmittelverzicht erklärt worden sei, worauf die Verteidigerin erwidert hat, dass die erteilte Terminvollmacht an den unterbevollmächtigten Rechtsanwalt weder eine Beschränkung des Einspruchs noch einen Rechtsmittelverzicht umfasste; Ziel des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid sei die Vermeidung des Fahrverbotes, nicht die Reduzierung der Geldbuße.

Das AG hat die Rechtsbeschwerde des Betroffenen als unzulässig verworfen, da in der Hauptverhandlung  durch den unterbevollmächtigten Rechtsanwalt Rechtsmittelverzicht erklärt worden sei, was die Einlegung eines Rechtsmittels ausschließe. Dagegen beantragt der Betroffene die Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts nach § 346 Abs. 2 StPO iVm. § 79 Abs. 3 OWiG. Der Antrag hatte Erfolg:

„2. In der Sache ist der Antrag begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses des Amtsgerichts Neuruppin vom 14. Dezember 2022.

a) Die Verwerfungsbefugnis des Tatrichters dient der Verfahrensbeschleunigung. Sie ist auf die in § 346 Abs. 1 StPO genannten Fälle beschränkt, also auf die verspätete Einlegung der Rechtsbeschwerde nach § 341 StPO iVm. § 79 Abs. 3 OWiG, auf die Versäumung der Frist des § 345 Abs. 1 StPO iVm. § 79 Abs. 3 OWiG sowie auf die Nichteinhaltung der Formvorschriften des § 345 Abs. 2 StPO iVm. § 79 Abs. 3 OWiG. Jede weitere Zulässigkeitsprüfung ist dem Tatrichter untersagt (vgl. BGH NJW 2007, 165), was insbesondere auch für die Frage eines zuvor erklärten Rechtsmittelverzichtes gilt (vgl. BGH NJW 1984, 1974, 1975; BGH NStZ 1984, 181; BGH NStZ 1984, 329).

b) Des Weiteren erweist sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen als zulässig. Denn während die der Verteidigerin erteilte Vollmacht vom 3. Dezember 2021 sich ausdrücklich auch auf die Rücknahme und den Verzicht eines Rechtsmittels erstreckt, war dies bei der für die Hauptverhandlung am 16. November 2022 erteilte Untervollmacht gerade nicht der Fall. Die Verteidigerin hatte dem für die Hauptverhandlung unterbevollmächtigen Rechtsanwalt („Name 01“) nicht die Befugnis zum Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels übertragen (vgl. Terminvollmacht vom 14. November 2022), so dass der in der Hauptverhandlung durch den unterbevollmächtigen Rechtsanwalt erklärte Rechtsmittelverzicht keine Wirksamkeit entfalten konnte.

Nach alledem unterliegt der Beschluss des Amtsgerichts Neuruppin vom 14. Dezember 2022 der Aufhebung.“

StPO II: Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts, oder: Ausdrückliche Ermächtigung gegeben?

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Und als zweite Entscheidung stelle ich den OLG Brandenburg, Beschl. v. 09.05.2022 – 1 Ws 7/22 – vor. Thematik: Rechtsmittelverzicht.

Das AG hat den Angeklagten am 20.09.2021 wegen Widerstands gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen, in Tateinheit mit Nötigung verurteilt worden. An allen Verhandlungstagen ist für den Angeklagten Assessor pp. als Verteidiger aufgetreten.

Ausweislich des Sitzungsprotokolls der gerichtlichen Hauptverhandlung haben der Verteidiger des Angeklagten und der Vertreter der Staatsanwaltschaft im Anschluss an die Hauptverhandlung Rechtsmittelverzicht erklärt. Dieser ist wie folgt protokolliert:

„Der Verteidiger erklärt:
Wir verzichten auf Rechtsmittel.
Auf mehrmalige Frage des Gerichts sowie der Staatsanwaltschaft gibt der Verteidiger an:
Das ist so mit dem Angeklagten abgesprochen.
Auf Frage des Gerichts:
Ja, das ist abgesprochen. Das ist alles rechtens so und ich freue mich darüber, dass es so ein mildes Urteil geworden ist.
Daraufhin erklären der Verteidiger und der Vertreter der Staatsanwalt jeder für sich:
Auf die Einlegung eines Rechtsmittels gegen das soeben verkündete Urteil wird verzichtet.
v. u. g.“

Mit Schriftsatz seines neuen Verteidigers vom 22.09.2021, eingegangen am 23.09.2021, legte der Angeklagte Rechtsmittel gegen das Urteil ein. Mit weiterem Verteidigerschriftsatz vom 06.10.2021 teilte der Angeklagte mit, er selbst habe keinen Rechtsmittelverzicht erklärt und auch seinem (damaligen) Verteidiger keine Ermächtigung zum Rechtsmittelverzicht erteilt. Er habe nach der Urteilsverkündung den Sitzungssaal verlassen und sei bei Abgabe der Rechtsmittelverzichtserklärung nicht anwesend gewesen.

Mit Verteidigerschriftsatz vom 17.11.2021 bezeichnete der Angeklagte sein Rechtsmittel dann  als Berufung. Das LG hat die Berufung des Angeklagtenals unzulässig verworfen, da ein wirksamer Rechtsmittelverzicht erklärt worden sei. In der Begründung wird ausgeführt, eine Ermächtigung des Verteidigers durch den Angeklagten sei hierfür nicht erforderlich gewesen. Dagegen die sofortige Beschwerde. Das OLG hat im Freibeweisverfahren dienstliche Äußerungen und Stellungnahmen zum Verfahrensgang nach Urteilsverkündung eingeholt.

Die erkennende Amtsrichterin hat mitgeteilt, der Assessor pp. sei vom ersten Sitzungstag an als genehmigter Verteidiger gemäß § 138 Abs. 2 Satz 1 StPO angesehen worden. Die insoweit unterschiedlichen und widersprüchlichen Bezeichnungen in den Sitzungsprotokollen seien leider bei der Durchsicht übersehen worden. Am ersten Sitzungstag habe Assessor pp. dem Gericht gegenüber versichert, vom Angeklagten mit seiner Verteidigung beauftragt worden zu sein und über zwei juristische Staatsexamen zu verfügen. Eine Nachfrage des Gerichts zu einer eventuellen Verbindung zu Rechtsanwalt P…. sei unbeantwortet geblieben. Bedenken gegen Assessor pp. als Verteidiger im Sinne des § 138 Abs. 2 StPO bestanden weder auf Seiten der Staatsanwaltschaft noch auf Seiten des Gerichts. Daher sei Assessor pp. gemäß § 138 Abs. 2 StPO als Verteidiger genehmigt worden.

Nachdem der Angeklagte bereits während der mündlichen Mitteilung der wesentlichen Urteilsgründe begonnen habe, sie zu beschimpfen, und die Urteilsbegründung auch unterbrochen habe, sei er nach Beendigung der Urteilsbegründung aufgesprungen und habe erklärt, dass das alles gelogen sowie ein Komplott gegen ihn sei. Darüber hinaus habe er Beschimpfungen ausgesprochen. Sie habe sodann versucht, dem Angeklagten eine Rechtsmittelbelehrung zu erteilen, was indes nicht gelungen sei, da der Angeklagte nicht zugehört und weiter vor sich hin geschimpft habe. Nach ihrer Erinnerung habe der Angeklagte geäußert, dass er zum Justizminister gehen und sich beim „Präsidenten“ beschweren werde und „dass ich damit nicht durchkommen werde“.

Unterdessen sei der Geräuschpegel wegen unter den Zuschauern und dem Angeklagten entstandener Gespräche im Saal erheblich angestiegen, sodass sie nicht den Eindruck gehabt habe, dass der Angeklagte die Rechtsmittelbelehrung verstanden hätte. Deshalb habe sie den Verteidiger gefragt, ob er auf die Erteilung einer Rechtsmittelbelehrung verzichte und dass dann später mit dem Angeklagten bespreche.

Der Angeklagte habe weiter vor sich hin geschimpft, sodass sie ihn gebeten habe, sich zu beruhigen oder den Sitzungssaal zu verlassen.

Der Angeklagte habe daraufhin den Saal verlassen. Nach der Erklärung des Verteidigers, dass auf die Erteilung einer Rechtsmittelbelehrung verzichtet werde, habe dieser ohne weitere Nachfrage angegeben, dass auch auf die Einlegung eines Rechtsmittels gegen das soeben verkündete Urteil verzichtet werde. Aufgrund der vorangegangenen Reaktion des Angeklagten sei seitens des Gerichts sowie der Staatsanwaltschaft gefragt worden, ob der Verteidiger sich sicher sei, da der Angeklagte nicht mit dem Urteil einverstanden zu sein schien. Hierauf habe der Verteidiger sinngemäß erklärt, dass dies vorab vor dem Hintergrund des erwarteten Prozessausgangs besprochen worden sei, da mit einer unkontrollierten und impulsiven Reaktion des Angeklagten zu rechnen gewesen sei. Auf nochmalige Nachfrage habe der Verteidiger erneut bestätigt, dass der Rechtsmittelverzicht mit dem Angeklagten vor Beginn des Sitzungstages in Erwartung einer entsprechenden Verurteilung abgesprochen sei. Daraufhin sei die Verzichtserklärung entsprechend in das Sitzungsprotokoll aufgenommen, erneut vorgelesen und sodann vom Verteidiger genehmigt worden.

Dieser von ihr geschilderte Ablauf wird durch die Stellungnahmen der Protokollführerin und des Vertreters der Staatsanwaltschaft bestätigt.

Die sofortige Beschwerde hatte Erfolg.

„Das Landgericht hat die Rechtsmittelverzichtserklärung in der Hauptverhandlung vom 20. September 2021 zu Unrecht als wirksam angesehen mit der Folge, dass die Verwerfung der Berufung als unzulässig keinen Bestand haben kann.

Ein wirksamer Rechtsmittelverzicht von Seiten des Angeklagten ist nicht erfolgt.

Da der Assessor pp. einen Nachweis für die behauptete Untervollmacht nicht beigebracht hat und eine Unterbevollmächtigung von Rechtsanwalt P… bestritten wurde, ist zunächst davon auszugehen, dass er als genehmigter Verteidiger für den Angeklagten aufgetreten ist.

Zwar ist die Genehmigung durch das Gericht nicht förmlich erteilt worden. Die Zulassung als Wahlverteidiger kann aber ausnahmsweise stillschweigend erfolgen, wenn die Handlungen, aus denen sich diese schlüssig ergeben soll, klar erkennen lassen, dass das Gericht den Willen zur Genehmigung der Bestellung hatte. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die betreffende Person zur Hauptverhandlung geladen worden und dort ohne Einwände des Gerichts wie ein Verteidiger aufgetreten ist (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 24. August 2000 – 2a Ss (OWi) 242/00 – (OWi) 85/00 II -). Die Amtsrichterin hat zudem angegeben, der Assessor pp. sei vom ersten Sitzungstag an als genehmigter Verteidiger gemäß § 138 Abs. 2 Satz 1 StPO angesehen worden.

Der von Assessor pp. erklärte Rechtsmittelverzicht war indes nicht wirksam.

Gemäß § 302 Abs.2 StPO bedarf der Verteidiger zur Zurücknahme eines Rechtsmittels einer ausdrücklichen Ermächtigung; gleiches gilt auch für den Fall des Rechtsmittelverzichts (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. § 302 Rn.30).

Bereits das Reichsgericht hat zu dieser Frage wie folgt ausgeführt:

“In § 302 StPO wird im ersten Absatz neben der Zurücknahme des Rechtsmittels auch der Verzicht auf die Einlegung noch vor Ablauf der Einlegungsfrist für zulässig erklärt. Wenn dann im zweiten Absatz bestimmt wird, dass der Verteidiger zur Zurücknahme einer ausdrücklichen Ermächtigung bedarf, so darf aus der Nichterwähnung des Verzichts nicht geschlossen werden, dass er zur Abgabe einer Verzichtserklärung nur der allgemeinen Bevollmächtigung, nicht einer besonderen Ermächtigung bedürfe. Das würde der Stellung des Verteidigers, wie sie in der Strafprozessordnung gestaltet worden ist, nicht entsprechen. Der Verteidiger ist grundsätzlich nicht der Vertreter des Angeklagten, sondern dieser bedient sich seines Beistands (StPO. § 137); nur ausnahmsweise wird er von dem Verteidiger vertreten (StPO. § 234), der sonst nicht ohne seine ausdrückliche oder stillschweigende Genehmigung mit bindender Wirkung für ihn auf Verteidigungsmittel usw. verzichten kann (RGRspr. Bd. 1 S. 335, Bd.6 S.295, Bd. 10 S.368; RGSt. Bd. 18 S. 138, 141, Bd. 44 S.285).

Wie vom Reichsgericht (RGSt. Bd. 54 S. 210) dargelegt ist, dass der Verteidiger nicht kraft seiner allgemeinen Verteidigervollmacht befugt ist, für den Angeklagten dessen Entbindung vom Erscheinen in der Hauptverhandlung nach § 233 StPO zu beantragen, so ermächtigt sie ihn auch nicht zur Erklärung eines Verzichts auf Rechtsmittel.

Dazu bedarf er, ebenso wie zur Zurücknahme eines Rechtsmittels, einer ausdrücklichen Ermächtigung. Wenn das letzte in § 302 Abs. 2 StPO, besonders hervorgehoben ist, so hat das seinen Grund in der Vorschrift des § 297; es soll nur klargestellt werden, dass nicht wie hier nur der ausdrückliche Wille des Beschuldigten nicht entgegenstehen darf, es soll damit aber nicht gesagt werden, dass die ausdrückliche Ermächtigung nur bei der Zurücknahme von Rechtsmitteln, nicht auch beim Verzicht auf sie erforderlich sei.” (RGSt 64, 164)

Diese Ausführungen beanspruchen noch heute Gültigkeit (vgl. BGH, Beschluss vom 04. Oktober 1951 – 4 StR 500/51 -; BGHSt 3, 46; BGHSt 10, 320, 321 Bayerisches ObLG, NStZ 1995, 142; bei Anwesenheit des Angeklagten: OLG Zweibrücken, NStZ 1987, 573; OLG Hamburg, NJW 1965, 1821)

Zwar ist eine bestimmte Form der Ermächtigung nicht vorgeschrieben, so dass diese auch mündlich erklärt werden kann. Ob sie erteilt worden ist, kann im Wege des Freibeweisverfahrens geklärt werden (vgl. Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 28. Juli 1994 – 3 ObOWi 63/94 –).

Eine solche Ermächtigung, die vom Angeklagten bestritten wird, konnte im Ergebnis der eingeholten Stellungnahmen nicht festgestellt werden. Zum einen kann diese Ermächtigung nicht aus der (bestrittenen) Vollmacht geschlossen werden, da jedenfalls eine Unterbevollmächtigung nicht erfolgt ist. Zum anderen trägt der als Verteidiger zugelassene Assessor pp. widersprüchlich vor, wenn er am Ende der Hauptverhandlung gegenüber dem Gericht erklärt hat, er habe den Verzicht mit dem Angeklagten vor Beginn der Hauptverhandlung besprochen, gegenüber dem Senat indes ohne Bezugnahme auf diese „angebliche“ Besprechung behauptet, der Angeklagte habe ihm gegenüber nach Urteilsverkündung dem Vorschlag auf Rechtsmittelverzicht zugestimmt.

Darüber hinaus kann ein Angeklagter eine einmal dem Verteidiger erteilte Ermächtigung jederzeit bis zum Eingang der Verzichtserklärung bei Gericht formlos widerrufen, wovon vorliegend auszugehen sein dürfte, nachdem der Angeklagte noch im Sitzungssaal durch sein Verhalten deutlich zum Ausdruck gebracht hat, mit dem Urteil nicht einverstanden zu sein.

Der angefochtene Beschluss war daher aufzuheben; das Berufungsverfahren ist nunmehr fortzusetzen.

 

Pflichti III: „Wahlpflichtverteidiger“ fehlt in der HV, oder: Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts?

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Und zum Schluss der heutigen „Pflichtverteidigungsreihe“ dann noch der OLG Hamm, Beschl. v. 16. 02. 2021 – III – 5 RVs 3/21. Thematik: Rechtsmittelverzicht in Abwesenheit des „Wahlpflichtverteidigers“.

Das AG hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln verurteilt. In der Hauptverhandlung war der vom Angeklagten gewählte Pflichtverteidiger nicht anwesend. Das AG  hat daher – gegen den ausdrücklich erklärten Willen des Angeklagten – diesem einen Sicherungsverteidiger beigeordnet. Nach Urteilsverkündung und Rechtsmittelbelehrung erklärt der Angeklagte dann, dass er auf die Einlegung eines Rechtsmittels gegen das Urteil verzichtet. Später dann die Sprungrevision, die Erfolg hatte:

„1. Die form- und fristgerecht erhobene Revision des Angeklagten ist trotz des von ihm erklärten Rechtsmittelverzichts (§ 302 Abs. 1 StPO) zulässig, da dieser wegen der Art und Weise seines Zustandekommens unwirksam ist. .

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Rechtsmittelverzicht wegen der Art und Weise seines Zustandekommens unwirksam, wenn er auf einer vom Gericht zu verantwortenden unzulässigen Einwirkung mit: solchen Beeinflussungsmitteln beruht, die nicht von § 136a StPO verboten sind (BGH, Beschluss vom 24.07.2019 – 3 StR 214/19, Rn. 22, 23, juris; BGH, Urteil vorn 21.04.1999 – 5 StR 714/98, juris). Eine derartige Einwirkung kommt insbesondere, dann in Betracht, wenn dem Angeklagten vom Gericht, eine Erklärung über den Rechtsmittelverzicht abverlangt wird, ohne ihm zunächst Gelegenheit zu geben, sich dazu erst nach einer Beratung mit -seinem Verteidiger zu äußern, der Rechtsmittelverzicht mithin praktisch unter Umgehung oder Ausschaltung des Verteidigers erwirkt wird (BGH, Beschluss vom 24.07.2019 – 3-StR 214/19 -,Rn. 30 – 31, juris; BGH, Urteil vom 17:09.1963 – 1 StR 301/63,.juris).

Ausgehend von diesem Maßstab ist vorliegend eine unzulässige Beeinflussung seitens des Gerichts anzunehmen. Ausweislich der dienstlichen Stellungnahme des erstinstanzlichen Richters ist der Angeklagte nach Urteilsverkündung und Rechtsmittelbelehrung ausdrücklich von ihm danach befragt worden, ob er auf Rechtsmittel verzichten wollte. Gelegenheit, diese Fragestellung vor Abgabe der betreffenden Erklärung mit, dem von ihm gewählten, und im Hauptverhandlungstermin nicht anwesenden Pflichtverteidiger zu erörtern, ist ihm hierbei nicht eingeräumt worden. Der Angeklagte konnte vielmehr ausschließlich Rücksprache, mit dem weiteren Verteidiger nehmen. Diese Beratungsmöglichkeit ist indes nicht ausreichend, da die Bestellung von pp. zum sogenannten Sicherungsverteidiger (§ 144 StPO) nicht nur gegen den ausdrücklich erklärten Willen des Angeklagten; sondern auch verfahrensfehlerhaft erfolgte. Bleibt – wie vorliegend – der Verteidiger im Falle der notwendigen Verteidigung in der Hauptverhandlung aus, ist dem Angeklagten vor der Bestellung eines neuen Verteidigers Gelegenheit zu geben, einen Vorschlag zu unterbreiten. Dieses Vorschlagsrecht dient dem Recht des Angeklagten auf den Verteidiger seines Vertrauens-sowie der effektiven Verteidigung und gilt-unabhängig davon, ob – wie vorliegend – die Bestellung auf § 144, StPO oder – wie an sich zutreffend – auf § 145 StPO gestützt wird (Thomas/Kämpfer, in: MünchKomm, 1. Aufl. 2014, § 145 StPO Rn. 8; Krawczyk, in: BeckscherOK, Stand: 01.10:2020, § 145 StPO Rn. 6). Einer Entscheidung, ob überhaupt die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Bestellung eines neuen Verteidigers gegeben wären, bedurfte es daher nicht. Denn bei beiden Vorgehensweisen besteht aus den genannten Gründen zunächst ein Auswahlrecht des Angeklagten (Thomas/Kämpfer, in: MünchKomm, a.a.O., § 145 StPO Rn. 8). Da dieses Auswahlrecht seitens des Gerichts übergangen wurde, ist dem Angeklagten die Möglichkeit genommen worden, die Frage des Rechtsmittelverzichts mit dem Verteidiger seines Vertrauens zu beraten. Die unzureichende Beratungsmöglichkeit ist daher-durch die Justiz zu vertreten, so dass ein Rechtsmittelverzicht nicht vorliegt.

2. Die Revision ist ferner begründet, weil der Angeklagte durch die gegen seinen Willen erfolgte Beiordnung des Sicherungsverteidigers Rechtsanwalt pp.in erheblicher Weise in seinen Verteidigungsrechten (§ 338 Nr. 8 StPO) eingeschränkt worden ist.

a) Die diesbezügliche Verfahrensrüge des Angeklagten genügt den Begründungsanforderungen des § 344 Abs.-2 Satz 2 StPO und ist damit zulässig erhoben.

b) Sie hat ferner auch in der Sache Erfolg. Hierbei kann erneut offenbleiben, ob die tatbestandlichen Vorrausetzungen der §§ 144, 145 StPO für die Bestellung eines weiteren Verteidigers gegeben waren. Denn durch die Missachtung des Auswahlrechtes des Angeklagten wäre dieser nicht hinreichend verteidigt. Insofern wird auf die Ausführungen zur Unzulässigkeit des Rechtsmittelverzichts verwiesen.“

Rechtsmittel II: Rechtsmittelverzicht, oder: Unwirksamer Verzicht wegen vorangegangener Verständigung?

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Der BGH, Beschl. v. 24.07.2019 – 3 StR 214/19 – befasst sich (mal wieder) mit der Frage der Wirksamkeit eine Rechtsmittelverzichts in Zusammenhang mit einer behaupteten Verständigung (§ 257c StPO).

Nach dem Sitzungsprotokoll haben der Angeklagte und sein Verteidiger, Rechtsanwalt D., im Anschluss an die Urteilsverkündung nach Rechtsmittelbelehrung gem. § 35 a StPO und nach zwei IUnterbrechungen der Hauptverhandlung ebenso wie der Sitzungsvertreter der StA, erklärt, auf die Einlegung von Rechtsmitteln gegen das Urteil zu verzichten. Die im Sitzungsprotokoll vermerkte Verzichtserklärung ist allen Verfahrensbeteiligten vorgelesen und von diesen genehmigt worden (§ 273 Abs. 3 Satz 3StPO).

Vom Angeklagten ist dann später über seinen Revisionsverteidiger die Unwirksamkeit dieses Rechtsmittelverzichts geltend gemacht worden. Der BGH hat ihn aber als wirksam angesehen – die Begründung ist ein bisschen umfangreicher:

„b) Der Rechtsmittelverzicht ist wirksam.

aa) Der Beschwerdeführer stützt seine gegenteilige Auffassung unter Bezugnahme auf eine entsprechende anwaltliche Versicherung seines Instanzverteidigers auf folgenden, von ihm behaupteten Verfahrensablauf:

Nach der Urteilsverkündung am 17. Dezember 2018 habe „die Kammer“ auf Nachfrage des Instanzverteidigers, Rechtsanwalt D. , „was jetzt mit dem Haftbefehl“ sei, zunächst die Frage gestellt, „ob irgendwelche Erklärungen abzugeben“ seien, „das würde der Kammer die Entscheidung erleichtern“. Es sei klar gewesen, dass damit nur der Rechtsmittelverzicht gemeint gewesen sein könne. Nachdem der Verteidiger „dies verneint“ habe, habe die Strafkammer einen Außervollzugsetzungsbeschluss verkündet, der mit einer Kaution in Höhe von 10.000 € verbunden gewesen sei. Weil der Angeklagte nicht in der Lage gewesen sei, eine Kaution in dieser Höhe zu leisten, aber das Weihnachtsfest in Freiheit mit seinen Kindern habe verbringen wollen, habe sich der Verteidiger in das Beratungszimmer begeben und gefragt, ob die Aufhebung des Haftbefehls im Gegenzug zum Rechtsmittelverzicht in Frage käme. Dies sei vom Vorsitzenden für den Fall bejaht worden, dass die Staatsanwaltschaft ihre Zustimmung erklären würde. Der Verteidiger habe sodann bei dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, Oberstaatsanwalt L. , nachgefragt, ob dieser einer Aufhebung des Haftbefehls im Gegenzug zum Rechtsmittelverzicht zustimmen würde. Dieser habe gesagt, dass er „nach Rechtsmittelverzicht“ einen entsprechenden Antrag stellen werde. Dieses Ergebnis habe der Verteidiger der Strafkammer mitgeteilt. Diese sei sodann wieder im Sitzungssaal erschienen und habe den vom Angeklagten, von dem Verteidiger und von dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft erklärten Rechtsmittelverzicht entgegengenommen. Daraufhin sei der Haftbefehl aufgehoben worden.

Der Revisionsverteidiger des Angeklagten ist der Ansicht, dass der Rechtsmittelverzicht gemäß § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO unwirksam sei, weil es sich bei den von ihm behaupteten Vereinbarungen „der Sache nach“ um eine Verständigung im Sinne des § 257c StPO gehandelt habe. Außerdem sieht er darin, dass die Aufhebung des Haftbefehls von dem zuvor erklärten Rechtsmittelverzicht abhängig gemacht worden sei, ein willkürliches Vorgehen der Strafkammer. In Anbetracht dessen habe der Angeklagte den Verzicht nicht freiwillig erklärt. Im Übrigen habe die Strafkammer dem Angeklagten dadurch, dass sie ihm die Aufhebung des Haftbefehls im Gegenzug nach vorausgegangenem Rechtsmittelverzicht zugesagt habe, einen gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteil versprochen. Denn mit dem Eintritt der Rechtskraft des Urteils werde der Haftbefehl gegenstandslos und die Untersuchungshaft gehe ohne weiteres in Strafhaft über. Insoweit habe die Strafkammer den Angeklagten über die rechtliche Möglichkeit einer Aufhebung des Haftbefehls getäuscht.

bb) Diese gegen die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts erhobenen Einwände greifen nicht durch.

(1) Bereits die Schilderung des Verfahrensgeschehens durch den Beschwerdeführer erweist sich als unzutreffend.

(a) Sie steht im Widerspruch zum Sitzungsprotokoll. Diesem lässt sich schon nicht entnehmen, dass es zwischen der Verkündung des Urteils und derjenigen des Haftverschonungsbeschlusses zu Erörterungen über einen etwaigen Rechtsmittelverzicht gekommen ist. Ausweislich des Protokolls wurde der Beschluss über die Außervollzugsetzung des Haftbefehls vielmehr unmittelbar im Anschluss an die Urteilsverkündung und die Rechtsmittelbelehrung verkündet. Wenngleich danach nicht ausgeschlossen ist, dass die vom Beschwerdeführer behaupteten Äußerungen abgegeben wurden, weil dem Protokoll insoweit nicht die Beweiskraft des § 274 Satz 1 StPO zukommt, so wird sein Vorbringen durch die Sitzungsniederschrift jedenfalls nicht gestützt.

Die Behauptung, dass der Haftbefehl aufgrund einer entsprechenden Absprache zwischen den Verfahrensbeteiligten im Anschluss an den Rechtsmittelverzicht aufgehoben worden sei, wird durch das Sitzungsprotokoll widerlegt; sie widerspricht dem darin in Bezug auf diese Verfahrensvorgänge dokumentierten Geschehen. Danach wurde die Hauptverhandlung nach der Verkündung des Außervollzugsetzungsbeschlusses um 13:42 Uhr unterbrochen und um 13:45 Uhr fortgesetzt. Anschließend beantragte der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft die Aufhebung des Haftbefehls. Daraufhin wurde die Hauptverhandlung in der Zeit von 13:47 Uhr bis 13:52 Uhr erneut unterbrochen. Im Anschluss daran wurde der Beschluss verkündet, durch den der Haftbefehl aufgehoben wurde. Schließlich erklärten der Angeklagte, sein Verteidiger und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft den Rechtsmittelverzicht. Die Sitzungsniederschrift, die gemäß § 274 Satz 1 StPO im Hinblick auf die Abfolge prozessualer Ereignisse in Bezug auf die gemäß § 273 Abs. 3 Satz 3 StPO protokollierte Erklärung des Rechtsmittelverzichts beweiskräftig ist, belegt mithin, dass der Angeklagte nicht schon vor der Aufhebung des Haftbefehls auf Rechtsmittel verzichtete, sondern erst danach.

(b) Dieser protokollierte Verhandlungsablauf entspricht sowohl den zu dem Vorbringen des Beschwerdeführers abgegebenen Stellungnahmen des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft als auch den diesbezüglichen Ausführungen der erkennenden Berufsrichter.

Der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft hat in einer dienstlichen Stellungnahme in Abrede gestellt, erklärt zu haben, dass er nach einem Rechtsmittelverzicht die Aufhebung des Haftbefehls beantragen werde. Der Angeklagte habe erst nach der Aufhebung des Haftbefehls auf Rechtsmittel verzichtet. In seiner Revisionsgegenerklärung hat der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft ergänzend ausgeführt, dass es zu keinem Zeitpunkt zu einer Rücksprache bzw. Absprache zwischen der Strafkammer und ihm über die Aufhebung des Haftbefehls gekommen sei. Nach der Verkündung des Urteils und des Haftverschonungsbeschlusses hätten der Verteidiger und der Angeklagte im Sitzungssaal in Abwesenheit der Strafkammer miteinander gesprochen. Danach habe der Verteidiger ihm gegenüber – ohne dies zuzusichern – in Aussicht gestellt, dass der Angeklagte bereit sei, auf die Einlegung von Rechtsmitteln zu verzichten, wenn der Haftbefehl aufgehoben werde. Der Verteidiger habe ihn aufgefordert, in sich zu gehen und einen entsprechenden Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls zu stellen. Unter den gegebenen Umständen sei es ihm – trotz Bedenken – vertretbar erschienen, sodann den von dem Verteidiger erbetenen Antrag zu stellen.

Die an dem Urteil beteiligten Berufsrichter haben sich in einem Beschluss vom 11. März 2019, durch den ein Antrag des Verurteilten, die Strafvollstreckung aufzuschieben, abgelehnt worden ist, mit Blick auf das Vorbringen des Beschwerdeführers wie folgt zu dem Ablauf der Hauptverhandlung geäußert:

Es sei unzutreffend, dass der Verteidiger den Vorsitzenden im Anschluss an die Urteilsverkündung gefragt habe, „was jetzt mit dem Haftbefehl“ sei, woraufhin dieser entgegnet habe, ob denn „Erklärungen abgegeben“ würden, „was dem Gericht die Sache einfacher machen würde“. Unzutreffend sei auch die Behauptung, der Vorsitzende habe im Beratungszimmer gegenüber dem Verteidiger die Aufhebung des Haftbefehls nach erklärtem Rechtsmittelverzicht für den Fall zugesagt, dass der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft einen entsprechenden Antrag stelle. Eine Absprache, wonach die Strafkammer dem Angeklagten die Aufhebung des Haftbefehls im Gegenzug nach vorausgegangenem Rechtsmittelverzicht zugesagt habe, sei zu keinem Zeitpunkt getroffen worden. Tatsächlich habe es sich so verhalten, dass der Verteidiger nach der Verkündung des Urteils und des Außervollzugsetzungsbeschlusses das Beratungszimmer aufgesucht und vorgeschlagen habe, der Angeklagte wolle auf Rechtsmittel gegen das Urteil verzichten, wenn der Haftbefehl aufgehoben werde. Der Vorsitzende habe sich dazu nicht geäußert, sondern den Verteidiger an den Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft verwiesen. Dieser habe nach Fortsetzung der Hauptverhandlung die Aufhebung des Haftbefehls beantragt. Im Anschluss daran sei die Hauptverhandlung unterbrochen worden, weil die Strafkammer über den Aufhebungsantrag habe beraten müssen.

(c) Vor diesem Hintergrund entbehrt das Vorbringen des Beschwerdeführers einer tragfähigen Grundlage. Soweit er damit einen Nachweis der Protokollfälschung im Sinne des § 274 Satz 2 StPO erbringen wollte, dringt er im Hinblick auf die mit dem Sitzungsprotokoll sowie untereinander in Einklang stehenden Erklärungen des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft und der erkennenden Berufsrichter nicht durch. Danach kam es nicht zu der behaupteten synallagmatischen Verknüpfung von Rechtsmittelverzicht und anschließender Aufhebung des Haftbefehls. Das Verfahrensgeschehen stellt sich vielmehr wie folgt dar:

Der Angeklagte beriet sich nach der Verkündung des Urteils und des Außervollzugsetzungsbeschlusses mit seinem Verteidiger und veranlasste ihn anschließend aus eigenem Antrieb, gegenüber Staatsanwaltschaft und Gericht zu erklären, dass er im Falle einer Aufhebung des Haftbefehls bereit sei, auf Rechtsmittel zu verzichten. Der Staatsanwalt ließ sich mit Rücksicht auf diese Ankündigung dazu bewegen, die Aufhebung des Haftbefehls zu beantragen, und das Gericht hob den Haftbefehl ebenfalls im Hinblick auf den angekündigten Rechtsmittelverzicht auf. Schließlich erklärten der Angeklagte, sein Verteidiger und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, auf die Einlegung von Rechtsmitteln gegen das Urteil zu verzichten.

(2) In Anbetracht dieser Sachlage bestehen keine Zweifel an der Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts.

(a) Der Verzicht ist zunächst nicht gemäß § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO unwirksam. Danach ist ein Rechtsmittelverzicht ausgeschlossen, wenn dem Urteil eine Verständigung im Sinne des § 257c StPO vorausgegangen ist. Das war hier nicht der Fall.

Dies ergibt sich schon aus dem Sitzungsprotokoll. Darin ist gemäß § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO ausdrücklich vermerkt, dass eine Verständigung nach § 257c StPO nicht stattgefunden hat. Diese Feststellung zählt zu den wesentlichen Förmlichkeiten im Sinne des § 274 Satz 1 StPO und nimmt an der Beweiskraft des Sitzungsprotokolls teil (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 2010 – 2 StR 371/10, BGHSt 56, 3 Rn. 4). Gegen den die wesentlichen Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nach § 274 Satz 2 StPO nur der Nachweis der Fälschung zulässig, der hier nicht geführt ist.

Im Übrigen geht die Ansicht des Beschwerdeführers fehl, der Rechtsmittelverzicht sei gemäß § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO unwirksam, weil es sich bei der von ihm behaupteten Vereinbarung „der Sache nach“ um eine Verständigung im Sinne des § 257c StPO gehandelt habe, die auch nach Urteilsverkündung noch möglich gewesen sei. Sie ist schon mit dem Wortlaut des § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht vereinbar, wonach ein Verzicht ausgeschlossen ist, wenn dem Urteil eine Verständigung im Sinne von § 257c StPO „vorausgegangen“ ist. Weiter kommt eine Verständigung gemäß § 257c StPO als eine ihrer Natur nach das Schuldprinzip sowie den Aufklärungsgrundsatz betreffende Regelung (BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11, NJW 2013, 1058 Rn. 102 ff.) nur bis zum Schluss der Beweisaufnahme in Betracht (KK-Moldenhauer/Wenske, StPO, 8. Aufl., § 257c Rn. 10; BeckOK StPO/Eschelbach, § 257c Rn. 29), jedenfalls nicht mehr nach der Urteilsverkündung.

(b) Auch ein sonstiger Grund, aus dem der als Prozesserklärung grundsätzlich unwiderrufliche und unanfechtbare (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 21. April 1999 – 5 StR 714/98, BGHSt 45, 51, 53 mwN) Rechtsmittelverzicht ausnahmsweise unwirksam sein könnte, ist nicht ersichtlich…..“