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Rechtzeitiger Eingang von Rechtsmittel(Begründung)?, oder: Entscheidend ist der Eingang beim Gericht

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Und als zweite – überall geltende – Entscheidung dann der BGH, Beschl. v. 08.11.2023 – VIII ZB 59/23 – zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Falle der Nichtberücksichtigung einer zwar rechtzeitig bei Gericht eingegangenen, aber nicht zur Verfahrensakte gelangten Berufungsbegründungsschrift. Auch da ist das, was der BGH ausführt nicht  völlig neu. Ähnliches hat er schon im BGH, Beschl. v. 19.05.2022 – V ZB 66/21 – gesagt.

Folgender Sachverhalt: In einem mietrechtlichen Räumung- und Zahlungsverfahren hat das AG der Klage stattgegeben. Dagegen die Berufung des Beklagten. Das LG hat dann die Berufung des Beklagten wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verworfen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, eine Berufungsbegründung liege auch nach dem Verstreichen der – bis zum 19.06.2023 verlängerten – Berufungsbegründungsfrist beim Berufungsgericht nicht vor.

Dagegen diue Rechtsbeschwerde des Beklagten, die beim BGH Erfolg hatte:

„1. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte und auch den Form- und Fristerfordernissen genügende Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Die angefochtene Entscheidung verletzt – wie die Rechtsbeschwerde zu Recht geltend gemacht hat – in entscheidungserheblicher Weise das Verfahrensgrundrecht des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Denn das Berufungsgericht hat gehörswidrig die von dem Beklagten innerhalb der (verlängerten) Berufungsbegründungsfrist eingereichte Berufungsbegründungsschrift nicht zur Kenntnis genommen.

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann die Berufung des Beklagten nicht als unzulässig verworfen werden. Denn das Berufungsgericht hat bei seiner Entscheidung die innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist bei ihm eingegangene Berufungsbegründungsschrift nicht berücksichtigt.

a) Ein Gericht verstößt gegen seine aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Pflicht, die Ausführungen eines Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, wenn es einen ordnungsgemäß bei Gericht eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt. Auf ein Verschulden des Gerichts kommt es dabei nicht an; das Gericht ist insgesamt für die Einhaltung des Gebots des rechtlichen Gehörs verantwortlich (vgl. BVerfGE 48, 394, 395 f.; 53, 219, 222 f.; siehe auch BGH, Beschluss vom 19. Mai 2022 – V ZB 66/21, NJW-RR 2022, 995 Rn. 8). Deshalb ändert es an der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG nichts, wenn den erkennenden Richtern der Schriftsatz im Zeitpunkt der Entscheidung nicht vorlag. Hierbei macht es keinen Unterschied, ob der Schriftsatz den Richtern nach Eingang bei Gericht nur nicht vorgelegt wurde oder erst gar nicht zur Verfahrensakte gelangt ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Mai 2022 – V ZB 66/21, aaO; vom 4. Juli 2018 – XII ZB 240/17, NJW 2018, 3786 Rn. 8 f. mwN).

b) Gemessen hieran hätte das Berufungsgericht, wie die Rechtsbeschwerde zutreffend rügt, das Vorbringen des Beklagten in dem Berufungsbegründungsschriftsatz vom 16. Juni 2023 berücksichtigen müssen. Denn dieser ist am 19. Juni 2023 und damit innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist beim Berufungsgericht eingegangen.

Für den rechtzeitigen Eingang einer Berufungsbegründungsschrift ist allein entscheidend, dass diese vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist an das zur Entscheidung berufene Gericht gelangt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 10. Juni 2003 – VIII ZB 126/02, NJW 2003, 3418 unter II 2; vom 17. März 2009 – VIII ZB 66/08, juris Rn. 5; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 19. März 2018 – 1 BvR 2313/17, juris Rn. 12 mwN [zum rechtzeitigen Eingang einer Duplik im Klageverfahren]; zum Eingang elektronischer Dokumente – wie hier – vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. August 2020 – VI ZB 79/19, NJW-RR 2020, 1519 Rn. 7; vom 11. Mai 2021 – VIII ZB 9/20, NJW 2021, 2201 Rn. 18 mwN; vom 30. November 2022 – IV ZB 17/22, NJW-RR 2023, 351 Rn. 8; zum Prüfvermerk siehe BGH, Beschlüsse vom 2. Februar 2022 – XII ZB 304/21, juris Rn. 7; vom 30. November 2022 – IV ZB 10/22, juris Rn. 9; jurisPK-ERV/H. Müller, 2. Aufl., §130a ZPO Rn. 329; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 20. Aufl., § 130a Rn. 11).

Ausgehend hiervon hat der Beklagte nach dem auf die von der Rechtsbeschwerde erhobene Verfahrensrüge hin zu beachtenden Sachverhalt (§ 577 Abs. 2 Satz 4, § 559 ZPO; siehe auch Senatsbeschluss vom 5. Juli 2022 – VIII ZB 33/21, NJW-RR 2022, 1436 Rn. 20 mwN) die Berufungsbegründungsfrist gewahrt. Nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts ist die Berufungsbegründungsfrist bis zum 19. Juni 2023 (wirksam) verlängert worden. Die – von dem Beklagtenvertreter per beA übersandte (vgl. § 130a Abs. 3 Satz 1 Alt. 2, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 ZPO) – Berufungsbegründungsschrift ist ausweislich des in den Gerichtsakten befindlichen und von der Rechtsbeschwerde in Bezug genommenen Prüfvermerks an diesem Tag („Eingangszeitpunkt: 19.06.2023, 16:27:17″) und damit rechtzeitig beim Berufungsgericht eingegangen. Dass das elektronische Dokument – offenbar infolge eines gerichtsinternen Versehens – erst am 19. Juli 2023 zur Gerichtsakte gelangt ist, ist dagegen für die Rechtzeitigkeit des Eingangs nicht von Bedeutung und steht aus den vorgenannten Gründen auch der Annahme eines Gehörsverstoßes nicht entgegen.

c) Der angefochtene Beschluss beruht auf diesem Gehörsverstoß (vgl. zu diesem Erfordernis Senatsbeschluss vom 5. Oktober 2021 – VIII ZB 68/20, juris Rn. 39 mwN). Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Berufungsgericht bei Kenntnisnahme des Inhalts der Berufungsbegründungsschrift von der Zulässigkeit der Berufung ausgegangen wäre.“

Achtung, Vorfrist für die Rechtsmittelbegründung, oder: Die Sorgfaltspflicht bei der Fristenkontrolle

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Und als letztes „Entscheidungsposting“ des Jahres hier etwas ganz Kurzes zum BGH, Beschl. v. 24.10.2023 – VI ZB 53/22betreffend die Sorgfaltspflicht des Rechtsanwalts hinsichtlich der sog. Vorfris. Ich beschränke michauf dne Leitsatz, der lautet:

Ein Rechtsanwalt hat durch geeignete organisatorische Vorkehrungen dafür Sorge zu tragen, dass Fristversäumnisse möglichst vermieden werden. Hierzu gehört die allgemeine Anordnung, bei Prozesshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies regelmäßig bei Rechtsmittelbegründungen der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufs noch eine grundsätzlich etwa einwöchige Vorfrist zu notieren. Die Eintragung einer Vorfrist bietet eine zusätzliche Fristensicherung. Sie kann die Fristwahrung in der Regel selbst dann gewährleisten, wenn die Eintragung einer Rechtsmittelbegründungsfrist versehentlich unterblieben ist.

 

Rechtsmittel II: Der sich selbst verteidigende Rechtsanwalt, oder: Rechtsmittelbegründung?

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Die zweite Entscheidung kommt vom KG. Das hatte im KG, Beschl. v. 12.03.2020 – 3 Ws (B) 55 – 56/20 – über folgenden verfahrensrechtlichen Sachverhalt zu entscheiden:

Gegen den Betroffenen war ein Bußgeldbescheid erlassen, gegen den der Betroffene Einspruch eingelegt hatte. Zu dem auf den Einspruch festgelegten Hauptverhandlungstermin am 06.11.2019 ist der Betroffene, der zugelassener Rechtsanwalt ist und nicht von seiner Präsenzpflicht entbunden war, trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt nicht erschienen.

Gegen das dem Betroffenen am 14.11.2019 zugestellte Urteil, mit dem das Gericht seinen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen hatte, hat der Betroffene einen von ihm selbst unterzeichneten Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gestellt und diesen mit Hinweis auf eine unzulässige Doppelahndung begründet. Das Amtsgericht hat mit Beschluss vom 27.12.2019 den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde zurückgewiesen, weil die Beschwerdeanträge nicht von einem Rechtsanwalt unterzeichnet worden seien. Der Betroffene hat einen Antrag auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts gestellt. Zur Begründung trägt er vor, dass er als zugelassener Rechtsanwalt die Beschwerdeanträge unterschrieben und damit dem Formerfordernis nach §§ 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG, 345 Abs. 2 StPO entsprochen habe.

Dazu das KG:

„1. Der Antrag auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist zulässig, insbesondere rechtzeitig und begründet. Der Beschluss des Amtsgerichts vom 27. Dezember 2019 war aufzuheben.

Der Betroffene hat – entgegen der Auffassung des Amtsgerichts – rechtzeitig den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gestellt und begründet. Denn das in Abwesenheit des Betroffenen ergangene Urteil vom 6. November 2019 ist ihm ausweislich der Zustellungsurkunde am 14. November 2019 zugestellt worden. Der Betroffene hat mit bei Gericht am 20. November 2019 eingegangenem Schreiben die Zulassung der Rechtsbeschwerde beantragt. Der Umstand, dass er den Antrag selbst begründet und unterschrieben hat, steht den Formerfordernissen nach §§ 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG, 345 Abs. 2 StPO nicht entgegen, weil es sich bei dem Betroffenen um einen zugelassenen Rechtsanwalt handelt (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 62. Aufl., § 345 Rn. 13).“

Ergangen ist die Entscheidung im Bußgeldverfahren. Gilt natürlich auch für das Strafverfahren.

In der Sache hatte die Rechtsbeschwerde dann keinen Erfolg. Darauf komme ich zurück.

Rechtsmittel I: Das „fehlerhafte Rechtsverständnis der Verteidigerin“, oder: „Herr lass Hirn vom Himmel regnen“.

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Heute ist Christi Himmelfahrt und damit dann auch Vatertag. Daher zunächst allen Väter und Großväter 🙂 herzliche Grüße und einen schönen Tag, ob mit oder ohne Bollerwagen. Wenn mit Bollerwagen: Immer daran denken: Abstand halten.

Und wegen des Vatertages fange ich hier heute etwas später an, aber: Normales Programm 🙂 , also drei Entscheidungen. Der Themenkreis heute: Rechtsmittel und was dazugehört.

Und den Opener macht der BGH, Beschl. v. 11.03.2020 – 4 StR 68/20. Es geht um die Revision eines Angeklagten gegen ein Urteil des LG Bielefeld, durch das der Angeklagte u.a. wegen schwerer räuberischer Erpressung iu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt worden. Das LG hat durch Beschluss vom 11.12.2019 die rechtzeitig eingelegte Revision des Angeklagten gemäß § 346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen, weil weder er selbst zu Protokoll der Geschäftsstelle noch seine Verteidigerin einen Revisionsantrag gestellt oder die Revision begründet haben. Gegen diesen – ihr am 17.12.2019 zugestellten – Beschluss hat die Verteidigerin des Angeklagten am 24.12.2019 die Entscheidung des Revisionsgerichts gemäß § 346 Abs. 2 StPO beantragt. Sie hat ferner zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Revisionsbegründung beantragt.

Der BGH hat den Wiedereinsetzungantrag als unzulässig zurückverwiesen:

„1. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision ist unzulässig.

a) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist auf Antrag demjenigen zu gewähren, der ohne Verschulden gehindert war, eine Frist einzuhalten (§ 44 Satz 1 StPO). Innerhalb der Antragsfrist von einer Woche ist die versäumte Handlung nachzuholen (§ 45 Abs. 2 Satz 2 StPO). Letzteres ist nicht erfolgt. Weder das Schreiben des Angeklagten vom 19. Dezember 2019 noch der Antrag der Verteidigerin vom 24. Dezember 2019 enthält eine Begründung der Revision in der durch § 345 Abs. 2 StPO vorgeschriebenen Form. Eine Revisionsbegründung ist auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht vorgelegt worden.

b) An der Verwerfung des Wiedereinsetzungsgesuchs ist der Senat nicht ausnahmsweise aus dem in Art. 6 Abs. 3 Buchst. c) EMRK gewährleisteten Recht eines Angeklagten auf tatsächliche und wirksame Verteidigung als besonderer Aspekt des nach Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Rechts auf ein faires Verfahren (EGMR, Slg. 1999-I Nr. 27 – Van Geyseghem/Belgien, NJW 1999, 2353) gehindert. Die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geforderten Maßnahmen zur Kompensierung des hier vorliegenden Verteidigerverschuldens wurden im vorliegenden Fall ergriffen.

aa) Die Verteidigerin hat nicht, wie es ihre Pflicht gewesen wäre (vgl. BVerfG, NJW 1983, 2762, 2765; BGH, Beschluss vom 18. Januar 2018 – 4 StR 610/17 Rn. 2), die Revision des Angeklagten form- und fristgerecht begründet und auch beim Stellen des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Nachholung dieser versäumten Handlung unterlassen. Dieses Unterlassen gründet ersichtlich auf einem fehlerhaften Rechtsverständnis der Verteidigerin über die Wirkung einer Pflichtverteidigerbestellung. Die Beiordnung als Pflichtverteidiger endet entgegen der im Wiedereinsetzungsgesuch geäußerten Auffassung der Verteidigerin nicht etwa mit Einlegung der Revision, sondern wirkt über die erste Instanz hinaus für das gesamte Verfahren und erfasst damit auch die Revisionsbegründung (so ausdrücklich nun § 143 Abs. 1 StPO in der Fassung des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019, BGBl. I S. 2128); ausgenommen war bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung vom 17. Dezember 2018 (BGBl. I, 2018; S. 2571) lediglich die Revisionshauptverhandlung (zur früheren Rechtslage: Willnow in KK-StPO, 8. Aufl., § 141 StPO Rn. 10).

bb) Versäumnisse eines Pflichtverteidigers können dem Staat allerdings nur ausnahmsweise angelastet werden, da die Führung der Verteidigung Sache des Angeklagten und seines Verteidigers ist, einerlei ob er staatlich bestellt oder vom Mandanten ausgewählt und bezahlt wird. Für Behörden und Gerichte besteht eine Verpflichtung zum Eingreifen nur, wenn das Versagen eines Pflichtverteidigers offenkundig ist oder wenn sie davon unterrichtet werden (EGMR, Urteil vom 10. Oktober 2002 – 38830/97 – Czekalla/Portugal, NJW 2003, 1229; EGMR, Urteil vom 22. März 2007 – 59519/00 . Staroszczyk/Polen, NJW 2008, 2317). So ist das Gericht an der Verwerfung eines Rechtsmittels nur gehindert und zum Eingreifen verpflichtet, wenn die eindeutige Missachtung einer reinen Formvorschrift durch den Pflichtverteidiger zur Folge hat, dass dem Betroffenen ein ihm an sich zustehendes Rechtsmittel genommen wird, ohne dass dies von einem höherrangigen Gericht bereinigt wird. Ein derartiges „offenkundiges Versagen“ macht nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte „positive Maßnahme seitens der zuständigen Behörden“ erforderlich, wozu beispielsweise die Aufforderung an die Pflichtverteidigerin gehört, ihren Schriftsatz zu ergänzen oder zu berichtigen (EGMR, Urteil vom 10. Oktober 2002 – 38830/97 . Czekalla/Portugal, NJW 2003, 1229, 1230).

cc) Letzteren Anforderungen genügt der Verfahrensgang. Dabei kann dahinstehen, ob es sich bei der von § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO ausdrücklich geforderten Nachholung der Revisionsbegründung als Zulässigkeitsvoraussetzung für die Wiedereinsetzung um eine „reine Formvorschrift“ im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte handelt. Jedenfalls ist dem Erfordernis einer positiven Maßnahme durch die zuständige Behörde zur Beseitigung des „Versagens“ vorliegend Genüge getan: Die der Verteidigerin und dem Angeklagten zugestellte Zuschrift des Generalbundesanwalts vom 7. Februar 2020 weist eindeutig auf das Fehlen der Revisionsbegründung als . einzigem . Hindernis für die Zulässigkeit des Wiedereinsetzungsgesuchs hin. Die erforderlichen Reaktionen hierauf sind nicht erfolgt.

dd) Es liegt auch keine Häufung außerordentlicher Umstände vor, die eine darüber hinaus gehende Flexibilität in der Rechtsgewährung fordert, um sicherzustellen, dass der Zugang zum Gericht nicht konventionswidrig eingeschränkt wird (EGMR, Urteil vom 1. September 2016 – 24062/13 – Marc Brauer/Deutschland, NVwZ 2018, 635, 637). Denn anders als in dem vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschiedenen Fall ist der Angeklagte hier nicht psychisch krank und auch nicht in einer persönlich schwierigen Lage, die durch die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und Postzustellungsprobleme gekennzeichnet war. Vorliegend befindet sich der Angeklagte in Untersuchungshaft und ist ersichtlich zur Kommunikation mit Justizbehörden in der Lage, was sein Schreiben vom 19. Dezember 2019 als Reaktion auf die Zustellung des Beschlusses gemäß § 346 Abs. 1 StPO belegt.“

Wenn man das liest, kann man m.E. nur rufen: Herr lass Hirn vom Himmel regnen. Aber nicht für den Senat, sondern für die Verteidigerin. Und bitte: Entschuldigung für dieses „Weihnachtsgeschenk“? M.E. nicht. Denn das hat mit dem neuen Rechts nichts zu tun, sondern war schon zum alten Recht unbestritten, dass die Pflichtverteidigerbestellung für das ganze Verfahren gilt. Ich verstehe nicht, warum solche Rechtsanwälte „verteidigen“?

Rechtsmittel I: Die unzulässige Revision der StA, oder: Man muss schon sagen, was man will

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Heute dann drei Entscheidungen zu Rechtsmittelfragen.

Den Auftakt macht der BGH, Beschl. v. 07.05.2019 – 1 StR 49/19. Das LG hatte die Angeklagte wegen Steuerhinterziehung verurteilt und gegen sie die Einziehung des Wertes von Taterträgen angeordnet. Eine Einziehungsanordnung gegen den Ehemann der Angeklagten, der als Einziehungsbeteiligter am Verfahren beteiligt war, hatte die Strafkammer nicht getroffen; in den Urteilsgründen hat sie die Voraussetzungen einer Einziehung nach § 73b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB verneint.

Dagegen die Revision der Staatsanwaltschaft, die der Revisionsbegründung zu Folge sich ausdrücklich auch gegen die unterbliebene Einziehungsanordnung gegen den Einziehungsbeteiligten wendet. Der BGH hat die Revision insoweit als unzulässig angesehen, soweit sie den Einziehungsbeteiligten betrifft. Es fehlte ihm insoweit an einer wirksamen Revisionseinlegung:

„Die Revisionseinlegungsschrift der Staatsanwaltschaft vom 18. September 2018 hat folgenden Inhalt:
„Verfahren gegen  C.
Vorwurf: Steuerhinterziehung
Gegen das Urteil des Landgerichts Lübeck – 6 Kls 11/17 – vom 14.09.2018 lege ich Revision ein.“
Anders als in der Anklageschrift ist der Einziehungsbeteiligte weder im Rubrum noch sonst erwähnt. Damit ist das Urteil jedoch hinsichtlich des Einziehungsbeteiligten nicht angegriffen.
Die Revisionseinlegungsschrift der Staatsanwaltschaft kann auch nicht dahin ausgelegt werden, dass das Urteil sowohl hinsichtlich der namentlich angeführten Angeklagten als auch bezüglich der gegen den Einziehungsbeteiligten unterbliebenen Einziehungsanordnung angefochten werden sollte. Im Interesse der Rechtsklarheit muss sich schon aus der Einlegungsschrift eindeutig ergeben, auf welche Verfahrensbeteiligte und welche Entscheidungsteile sich das Rechtsmittel bezieht (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Januar 2019 – 5 StR 499/18). Hierfür genügt es – bei den ohne weiteres zu unterstellenden Rechtskenntnissen des Erklärenden – jedenfalls nicht, lediglich das Urteil als solches anzufechten.“

Tja, man sollte schon sagen/schreiben, was man will.