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Pflichti III: Bestellung des Wahlanwalts als Pflichtverteidiger, oder: Beschleunigung und Ortsferne

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Im dritten „Pflichtverteidigungsbeschluss“ geht es dann mal wieder um die Auswahl des Pflichtverteidigers bzw. um eine Umbeiordnung. Das AG hat ersichtlich den Wahlverteidiger, der seine Bestellung als Pflichtverteidiger beantragt hatte, nicht als Pflichtverteidiger gewollt. Als Begründung sind vorgegeben worden das Beschleunigungsgebot und die „weite“ Entfernung des Kanzleisitzes zum Gerichtsort. Das LG Dessau-Roßlau sieht das im LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 07.03.2019 – 6 Qs 294 Js 7232/18 (36/19) – doch ein wenig anders:

„Am 13.11.2018 wurde gegen die Angeklagten Anklage wegen Meineids erhoben. Der Angeklagten S. wurde vom Amtsgericht mit der Anklagezustellung die Möglichkeit gem. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO gegeben, binnen einer Woche einen bestimmten Rechtsanwalt zu benennen, da das Amtsgericht die Bestellung eines Pflichtverteidigers gern. § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO beabsichtigte. Die Zustellung erfolgte am 24.11.2018. Mit Schriftsatz vom 12.12.2018 meldete sich Rechtsanwalt J.R. Funck aus Braunschweig und beantragte seine Bestellung. Das Amtsgericht verwies darauf, dass eine Bestellung eines auswärtigen Rechtsanwalts nur dann in Betracht käme, wenn dargelegt werde, warum diesen ein besonderes Vertrauensverhältnis mit einem Angeklagten verbindet. Sodann fragte es am 14.01.2019 nach Terminen im Zeitraum Februar – April 2019 an. Rechtsanwalt J.R. Funck berief sich darauf, dass keine besondere Eilbedürftigkeit bestehe und bot freie Termine im Juli 2019 an. Das Amtsgericht gab der Angeklagten die Möglichkeit einen anderen Verteidiger zu benennen, da es eine Hauptverhandlung am 12., 19. und 26.03 2019 beabsichtigte. Unter Aufrechterhaltung seines Antrags auf Bestellung gab Rechtsanwalt J.R. Funck 5 weitere Rechtsanwälte an. Das Amtsgericht terminierte am 11.02.2019 wie angekündigt, ließ die Anklage zu und bestellte der Angeklagten Rechtsanwalt R. Dessau, als Pflichtverteidiger und wies den Antrag auf Bestellung von Rechtsanwalt J.R. Funck zurück. …..

Die Beschwerde ist begründet. Der Angeklagten ist gem. § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO Rechtsanwalt J.R. Funck als Pflichtverteidiger zu bestellen.

Ein Angeklagter hat keinen allgemeinen Anspruch auf Beiordnung eines gewünschten Anwalts. Ein von einem Angeklagten gewünschter Verteidiger kann jedoch nur dann nicht als Pflichtverteidiger bestellt werden, wenn ein wichtiger Grund entgegensteht. § 142 Abs. 1 S. 2 StPO. Dadurch wird das grundsätzlich insoweit dem Richter eröffnete Ermessen stark eingeschränkt. Ein derartiger Grund kann das Beschleunigungsgebot sein, das grundsätzlich bei allen Verfahren gilt. Bei Haftsachen ist es jedoch von erheblich stärkerer Bedeutung, Art. 5 III S. 2 MRK. Das Gebot muss regelmäßig mit dem Wunsch des Angeklagten nach einem Verteidiger seines Vertrauens abgewogen werden (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. 2018, § 142, Rn. 9a m.w.N.). Vorliegend handelt es sich um keine Haftsache. Das Beschleunigungsgebot ist daher nicht in dem Maße gewichtig wie bei einem oder mehreren inhaftierten Angeklagten.

Die Bestellung eines Wahlverteidigers setzt auch keine Ortsnähe mehr voraus. Dem Amtsgericht ist jedoch im Grundsatz insoweit recht zu geben, dass bei einer Ortsferne darzulegen ist, warum ihn mit dem Wahlverteidiger ein besonderes Vertrauensverhältnis verbindet (Meyer-Goßner / Schmitt, a.a.O., § 142, Rn. 12 m.w.N.). Dies hat die Angeklagte vorliegend nicht getan. Das vom Amtsgericht herangezogene Erfordernis gilt jedoch nur bei einer gewissen Entfernung zwischen Gericht und Kanzleisitz. Diese ist bei den ca. 150 km zwischen Braunschweig und Dessau nicht erreicht (vgl. OLG Zweibrücken StV 02, 238).

Bei der damit gebotenen Abwägung der zitierten ggf. gegenläufigen Interessen hat das Interesse eines Gerichts an der Beibehaltung der dort üblichen Terminierungspraxis keinen unmittelbaren Vorrang vor den anderen Interessen. Die hier gebotene Abwägung hat das Amtsgericht vorlegend nicht in dem gebotenen Maße vorgenommen. Sie wird nicht durch eine einseitige Berücksichtigung der Terminslage und -interessen des erkennenden Gerichts und Außerachtlassung der Interessen der Angeklagten erreicht, von dem gewünschten Rechtsanwalt verteidigt zu werden. Dies gilt insbesondere bei einem schweren Schuldvorwurf wie hier (vgl. BGHSt 43, 153, 156).“

Pflichtverteidiger aus dem Internet? – Ortsansässiger Fachanwalt reicht

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Um die Frage, ob der Bestellung eines auswärtigen Pflichtverteidiger ein i.S. des § 142 Abs. 2 Satz 2 StPO „wichtiger Grund“ entgegensteht, ist vor einiger Zeit mal wieder beim OLG Jena gestritten worden. Als „wichtiger Grund“ war vom LG Mülhausen die sog. Ortferne“ angeführt worden, dass der Kanzleisitz des in Aussicht genommenen Plfichtverteidigers lag 450 km vom LG entfernt.

Das OLG Jena sagt im OLG Jena, Beschl. v. 10.10.2014 – 1 Ws 453/14 – „zu weit“, worüber man m.E. in Zeiten der digitalen Kommunikation grundsätzlich streiten kann. Aber es kam/kommt hinzu: Das OLG stellt weiter darauf ab: Auch kein besonderes Vertrauensverhältnis des Beschuldigten zu dem in Aussicht genommenen Pflichtverteidiger, denn:

Hiervon ausgehend rechtfertigen auch im vorliegenden Fall die von dem Kammervorsitzenden dargelegten Umstände in ihrer Gesamtheit die Ablehnung der Beiordnung des von dem Angeschuldigten benannten Verteidigers Rechtsanwalt Dr. B. Insbesondere ist die Erwägung zutreffend, dass ein besonderes Vertrauensverhältnis des Angeschuldigten zu Rechtsanwalt Dr. B. weder plausibel dargelegt ist noch sonst angenommen werden kann. Dies gilt uneingeschränkt auch für den Zeitpunkt der Antragstellung vom 28./29.07.2014, auf welchen nach Auffassung des Senats abzustellen ist. Aus dem eigenen Vorbringen des Angeschuldigten ergibt sich vielmehr, dass er – nach am 25.07.2014 erfolgter Zustellung der Anklage mit der Aufforderung, einen Verteidiger zu benennen – durch eine Internet-Recherche auf die unter www…de auftretende Kanzlei S. & Partner und hier auf Rechtsanwalt Dr. B. aufmerksam geworden sei. Die Auswahl beruhte mithin offensichtlich auf einer bloßen, für den Angeschuldigten inhaltlich schwerlich überprüfbaren und insgesamt kanzleibezogenen Werbeaussage. Das Mandatsverhältnis wurde ausweislich der vorgelegten Vollmachtsurkunde am 25.07.2014, dem Tag der Zustellung der Anklage, begründet. Zu diesem Zeitpunkt hatte Rechtsanwalt Dr. B– allenfalls Kenntnis von der Anklageschrift. Dafür, dass es bereits zuvor ein „vertrauensbegründendes“ Mandatsverhältnis (auch in anderer Sache) gab oder dass es bis zu dem erläuternden Schreiben des Angeschuldigten vom 07.08.2014 einen persönlichen Kontakt zum Verteidiger – etwa in Form eines persönlichen Beratungsgesprächs – gegeben hat, ist nichts ersichtlich; dies wurde weder von dem Angeschuldigten noch von Rechtsanwalt Dr. B., der im Übrigen erst nach Zusendung der am 05.08.2014 in seiner Kanzlei eingegangenen Akten Einsicht in diese nehmen konnte – substantiiert vorgetragen.

Auch der von dem Angeschuldigten hervorgehobene Aspekt der – allerdings mit dem Beschwerdevorbringen nicht näher belegten – besonderen Spezialisierung der Kanzlei des Verteidigers auf Sexualstraftaten gebietet ungeachtet der Schwere der Schuldvorwürfe nicht die Beiordnung von Rechtsanwalt Dr. B. Vielmehr sind Verfahren mit entsprechenden Tatvorwürfen – Sexualstraftaten gegenüber Kindern – (bedauerlicher Weise) in großer Zahl vor den Landgerichten in der Bundesrepublik Deutschland zu verhandeln. Die Bewertung der Kammer, dass weder die materiell-rechtliche Problematik dieser Delikte noch die besondere prozessuale Situation der Beurteilung von Kinderaussagen Besonderheiten darstellen, die nur von einer ca. 450 Kilometer entfernten Kanzlei sachgerecht bewältigt werden könnten, und dass die Verteidigungsrechte des Beschuldigten auch durch im näheren Umkreis zu findende versierte Fachanwälte für Strafrecht ordnungsgemäß gewahrt werden können, ist zutreffend.

Nur ergänzend sei angemerkt, dass Rechtsanwalt Dr. B in der Internetpräsentation der Rechtsanwaltskanzlei pp. & Partner gerade nicht mit dem ausdrücklichen Tätigkeitsschwerpunkt Sexualstrafrecht, sondern als „erfahrener Strafverteidiger und promovierter Verfassungsrechtler mit Spezialisierung auf die Überprüfung erstinstanzlicher Urteile“ und als „Experte auf dem Gebiet des Betäubungsmittelstrafrechtes“ vorgestellt wird.

Und das war es dann. Im Übrigen hält auch das OLG offenbar, viel von den ortsansässigen Fachanwälten für Strafrecht:

„Die Bewertung der Kammer, dass weder die materiell-rechtliche Problematik dieser Delikte noch die besondere prozessuale Situation der Beurteilung von Kinderaussagen Besonderheiten darstellen, die nur von einer ca. 450 Kilometer entfernten Kanzlei sachgerecht bewältigt werden könnten, und dass die Verteidigungsrechte des Beschuldigten auch durch im näheren Umkreis zu findende versierte Fachanwälte für Strafrecht ordnungsgemäß gewahrt werden können, ist zutreffend.“