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beA I: beA/elektronisches Dokument im Zivilrecht, oder: aktuelle Software, Zustellung, Ersatzeinreichung

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Und heute im „Kessel Buntes“ u.a. beA-Entscheidungen. Hier kommt zunächst eine kleine Zusammenstellung von Entscheidungen aus dem Zivilverfahren, allerdings immer nur die Leitsätze der Entscheidungen, und zwar:

1. Für die Rücksendung des elektronischen Empfangsbekenntnisses in Form eines strukturierten Datensatzes per besonderem elektronischen Anwaltspostfach (beA) ist es erforderlich, dass aufseiten des die Zustellung empfangenden Rechtsanwalts die Nachricht geöffnet sowie mit einer entsprechenden Eingabe ein Empfangsbekenntnis erstellt, das Datum des Erhalts des Dokuments eingegeben und das so generierte Empfangsbekenntnis versendet wird. Die Abgabe des elektronischen Empfangsbekenntnisses setzt mithin die Willensentscheidung des Empfängers voraus, das elektronische Dokument an dem einzutragenden Zustellungsdatum als zugestellt entgegenzunehmen; darin liegt die erforderliche Mitwirkung des Rechtsanwalts, ohne dessen aktives Zutun ein elektronisches Empfangsbekenntnis nicht ausgelöst wird.

2. Das von einem Rechtsanwalt elektronisch abgegebene Empfangsbekenntnis erbringt – wie das herkömmliche papiergebundene (analoge) Empfangsbekenntnis – gegenüber dem Gericht den vollen Beweis nicht nur für die Entgegennahme des Dokuments als zugestellt, sondern auch für den angegebenen Zeitpunkt der Entgegennahme und damit der Zustellung. (Anschluss an BVerwG, Beschluss vom 19. September 2022 – 9 B 2/22, NJW 2023, 703).

Der von der Vollstreckungsbehörde in Form eines elektronischen Dokuments zu erteilende Vollstreckungsauftrag zur Pfändung und Verwertung beweglicher körperlicher Sachen nach dem Justizbeitreibungsgesetz (JBeitrG), der eine qualifizierte elektronische Signatur des bearbeitenden Mitarbeiters als der verantwortenden Person trägt, genügt den im elektronischen Rechtsverkehr geltenden Formanforderungen (Anschluss an BGH, Beschl. v. 6.4. 2023 – I ZB 84/22, NJW-RR 2023, 906).

1. War es bereits im Zeitpunkt der Ersatzeinreichung eines Schriftsatzes möglich, die vorübergehende technische Unmöglichkeit der elektronischen Übermittlung darzulegen und glaubhaft zu machen, hat dies mit der Ersatzeinreichung zu erfolgen; in diesem Fall genügt es nicht, wenn die Voraussetzungen für eine Ersatzeinreichung nachträglich darlegt und glaubhaft gemacht werden (BGH, Beschl. v. 17.11.2022 – IX ZB 17/22, NJW 2023, 456 f.).

2. Die an die Nutzungspflicht und die an eine Ersatzeinreichung eines elektronischen Dokuments zu stellenden Voraussetzungen ergeben sich aus dem Gesetz. Dass die Rechtsmittelbelehrung darauf nicht gesondert hinweist, ist unschädlich und führt nicht zur Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

1. Die Glaubhaftmachung der vorübergehenden Unmöglichkeit der Einreichung eines Schriftsatzes als elektronisches Dokument bedarf einer aus sich heraus verständlichen, geschlossenen Schilderung der tatsächlichen Abläufe oder Umstände. Hieran fehlt es, wenn die glaubhaft gemachten Tatsachen jedenfalls auch den Schluss zulassen, dass die Unmöglichkeit nicht auf technischen, sondern auf in der Person des Beteiligten liegenden Gründen beruht.

2. Rechtsanwälte, die ihre beA-Software nicht aktualisieren, können sich nicht auf eine technische Unmöglichkeit berufen, wenn deshalb ein fristgebundener Schriftsatz zu spät bei Gericht eingeht. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt in solchen Fällen nicht in Betracht.

Ein Rechtsmittel ist unzulässig, wenn die Rechtsmittelschrift zwar  von einem Rechtsanwalt auf einem sogenannten sicheren Übermittlungsweg eingereicht wird, aber weder einfach noch qualifiziert elektronisch signiert wurde.

 

Erst „beschränkter, dann „voller“ Pflichtverteidiger, oder: Anrechnung, so die „geballte OLG_Intelligenz“

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Und als zweite Entscheidung dann der OLG Zweibrücken, Beschl. v. 17.-10.2023 – 1 Ws 200/23. Eine – in meinen Augen – „Besserwisserentscheidung“ eines OLG, das die vorhergehenden richtigen Entscheidungen des AG Speyer., Beschl. v. 23.03.2023 – 1 Ls 5121 Js 25842/19 und des AG Speyer, Beschl. v. 05.04.2023 – 1 Ls 5121 Js 25842/19  und des LG Frankenthal, Beschl. v. 05.07.2023 – 2 Qs 144/23, über die ich ja jeweils hier auch berichtet habe (vgl. u.a. Erst „beschränkter, dann „voller“ Pflichtverteidiger, oder: Keine Anrechnung, sagt auch das LG Frankenthal).

Ich erinnere an den Sachverhalt: Dem Beschuldigten ist der Vorwurf der Vergewaltigung gemacht worden. Ihm wurde mit Beschluss des AG vom 16.12.2020 der Kollege Flory für die Dauer der Vernehmung einer Zeugin im Rahmen des Ermittlungsverfahrens beigeordnet. Nach Abrechnung der insoweit entstandenen gesetzlichen Gebühren ist der Kollege dann auf Antrag der Staatsanwaltschaft mit Beschluss vom 21.o4.2021 als Pflichtverteidiger beigeordnet worden. Dafür sind dann seine weiteren Gebühren und Auslagen wie folgt vom AG festgesetzt worden: Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG, Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG, Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV RVG, zweimal Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG mit einem Zuschlag Nr. 4110 VV RVG und Auslagen. Die dagegen eingelegte Erinnerung der Vertreterin der Staatskasse hatte keinen Erfolg (das sind die o.a.  AG Speyer Beschlüsse). Gegen den Beschluss des AG hat die Staatskasse natürlich Beschwerde eingelegt. Diese hat das LG Frankenthal mit dem LG Frankenthal, Beschl. v. 05.07.2023 – 2 Qs 144/23 – zurückgewiesen.

Solche Entscheidungen lassen die Vertreter der Staatskasse dann natürlich nicht ruhen. Und er hat weitere Beschwerde eingelegt und hatte damit beim OLG Erfolg:

„Das Rechtsmittel der Vertreterin der Landeskasse ist gern. §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 3 Satz 3, Abs. 6 Satz 1 RVG zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

Die im Beschlussausspruch genannten Entscheidungen des Amtsgerichts Speyer und des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) sind rechtsfehlerhaft.

Der Verteidiger ist demselben Angeklagten in demselben Strafverfahren während des Ermittlungsverfahrens zweimal beigeordnet worden. In diesem Fall stellt ein und dasselbe Strafverfahren – jedenfalls für jede Instanz – immer ein und dieselbe Angelegenheit im Sinne von § 15 Abs. 2 RVG dar (OLG Celle, Beschluss vom 25.08.2010, 2 Ws 303/10, Rn. 14; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12.12.2013, III 1 Ws 416/13, juris, Rn. 6; LG Landshut, Beschluss vom 23.03.2010, 2 Qs 326/09, juris, Rn. 15; für das Revisionsverfahren: OLG München, Beschluss vom 21.01.2008, 4 Ws 3/08 <K>, juris, Rn. 7). Die von dem Rechtsanwalt übernommenen Aufgaben sind für die Beurteilung unerheblich, soweit sie in demselben Verfahren wahrgenommen werden (OLG Celle a.a.O., Rn. 11). Die mehrfache Beauftragung eines Rechtsanwalts in derselben Angelegenheit regelt § 15 Abs. 5 RVG. Nach Satz 1 dieser Vorschrift erhält der Rechtsanwalt, der in einer Angelegenheit, in der er bereits vorher tätig war, weiter tätig wird, nicht mehr an Gebühren, als er erhalten würde, wenn er von vomherein hiermit beauftragt worden wäre. Nach Satz 2 der Vorschrift gilt dies nicht, wenn der frühere Auftrag seit mehr als zwei Kalenderjahren erledigt ist. Im vorliegenden Fall liegen zwischen den beiden Beiordnungen durch das Amtsgericht Speyer keine zwei Jahre mit der Folge, dass der Verteidiger nur die Gebühren abrechnen kann, die er hätte abrechnen können, wenn er bereits am 16.12.2020 umfassend als Pflichtverteidiger beigeordnet worden wäre.

Der Umsetzung dieser Rechtslage steht auch nicht die Rechtskraft des Kostenfestsetzungsbeschlusses vom 06.04.2021 entgegen; denn der Inhalt dieses Beschlusses hindert die Anrechnung der bereits zuerkannten Gebühren und Auslagen auf den weiteren Gebühren- und Auslagenanspruch des Verteidigers nicht.

Wie gesagt: „Besserwisserentscheidung. Denn das OLG liegt falscg, die AG und LG-Entscheidungen waren richtig. Das OLG übersieht, dass die Bestellung des Verteidigers im Ermittlungsverfahren nur für die „Dauer der Vernehmung der Zeugin“ erfolgt, also zeitlich beschränkt, ist. Sie war mit der Vernehmung beendet und es ist eine neue Beiordnung erfolgt. Es handelt sich also nicht um dieselbe Angelegenheit i.S. des § 15 RVG. Insofern übersieht das OLG auch, dass die Tätigkeit des Rechtsanwalts während der Dauer einer Vernehmung etwas anders ist als Verteidigertätigkeit im Erkenntnisverfahren. Die vom OLG angeführte Rechtsprechung stützt die falsche Auffassung des OLG im Übrigen nicht. Denn die den zitierten Entscheidungen zugrunde liegende Sachverhalte sind mit der hier entschiedenen Konstellation nicht zu vergleichen. Denn es handelt sich u.a. um Fragen der Nebenklage und/oder der Vertretung mehrerer Adhäsionskläger. Da spielen m.E. ganz andere Fragen eine Rolle. Das OLG sieht es offenbar anders. Schade, aber gegen die geballte Intelligenz (?) eines OLG-Senats kommt man (kaum) an.

OWi II: Falsche Entbindung des Betroffenen von der HV, oder: Keine Verletzung des rechtliches Gehörs

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Die zweite Entscheidung, der OLG Zweibrücken, Beschl. v. 17.10.2023 – 1 ORbs 1 SsRs 37/23 – hat auch etwas mit der Frage der Entbindung und/oder der Abwesenheitsverhandlung zu.

Der Betroffene war in dem nach seinem Einspruch gegen den Bußgeldbescheid anberaumten Hauptverhandlungstermin nicht erschienen. Seine – nicht mit einer schriftlichen Vertretungsvollmacht versehene – Verteidigerin hat zu Beginn der Hauptverhandlung die Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen beantragt. Die Jugendrichterin des AG hat diesem Antrag stattgegeben, ohne den Betroffenen zur Sache verhandelt und den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße von 100 EUR verurteilt.

Dagegen der Antrag der Verteidigerin des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Das OLG hat nicht zugelassen:

„2. Auch die Gehörsrüge dringt nicht durch. Mit ihr beanstandet der Betroffene, dass das Amtsgericht seinen Antrag auf Entbindung vom persönlichen Erscheinen fehlerhaft beschieden, ohne seine Anwesenheit zur Sache verhandelt und hierdurch den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt habe. Eine entscheidungserhebliche Gehörsverletzung kann auf der Grundlage des Rechtsbeschwerdevorbringens jedoch nicht festgestellt werden.

Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die erlassene Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. Art. 103 Abs. 1 GG geht davon aus, dass die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen bleiben muss (BVerfGE 9, 89 <95 f.>; 74, 1 <5>), und gewährt keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen. Bei der Verletzung solcher Vorschriften bedarf es aber jeweils der Prüfung, ob dadurch nicht zugleich das unabdingbare Maß verfassungsrechtlich verbürgten rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verkürzt worden ist (BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Februar 1992 – 2 BvR 700/91, juris, Rn. 14).

Grundsätzlich ist der Betroffene in einem Bußgeldverfahren zum Erscheinen in der Hauptverhandlung gemäß § 73 Abs. 1 OWiG verpflichtet, womit sein Anwesenheitsrecht als Ausprägung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör korrespondiert (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 5 StPO). Der Betroffene kann allerdings auf sein Anwesenheitsrecht verzichten. Die Hauptverhandlung darf aber nur dann in Abwesenheit des Betroffenen durchgeführt werden, wenn er nicht erschienen ist und darüber hinaus von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden war, § 74 Abs. 1 OWiG. In einer fehlerhaften Anwendung der Norm kann ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör liegen (Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 25.04.2002 – 2 Ss (OWi) 44 Z/02; NZV 2003, 587).

Das Amtsgericht hat die Hauptverhandlung zwar unter Verstoß gegen § 74 Abs. 1 OWiG in Abwesenheit des Betroffenen durchgeführt. Es hat dem Antrag auf Entbindung, den die Verteidigerin zu Beginn der Hauptverhandlung gestellt hat, nachdem der Betroffene nicht erschienen war, stattgegeben und zugelassen, dass die Verteidigerin den Betroffenen in der Hauptverhandlung vertritt. Da die Verteidigerin keine schriftliche Vertretungsvollmacht hat, konnte sie aber weder den von ihr zu Beginn der Hauptverhandlung gestellten Entbindungsantrag wirksam stellen, noch konnte sie den Betroffenen in der Sitzung wirksam vertreten, § 73 Abs. 2 und 3 OWiG (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 04.08.2011 – 1 SsBs 26/10, juris). Entschuldigungsgründe, die ein Fehlen des Betroffenen rechtfertigen, wurden im Rahmen der Hauptverhandlung nicht vorgetragen, und es ist aus der Rechtsbeschwerde auch nicht ersichtlich, dass dem Amtsgericht Entschuldigungsgründe bekannt waren. Richtigerweise hätte die Jugendrichterin den Einspruch des Betroffenen gemäß § 74 Abs. 2 OWiG ohne Verhandlung zur Sache verwerfen müssen.

Dieser Verstoß gegen einfaches Recht hat im vorliegenden Fall aber nicht den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt. Das verfahrensrechtlich gebotene Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG wäre ausschließlich aufgrund verfahrensrechtlicher Vorschriften ohne materiell-rechtliche Prüfung ergangen, mit der Folge, dass der Betroffene mit seinem Vortrag zur Sache bei richtiger Verfahrensweise nicht gehört worden wäre. Das Amtsgericht hat hier den Vortrag des Betroffenen dagegen zu seinen Gunsten in der Weise berücksichtigt, dass die Geldbuße herabgesetzt wurde.“

Mir erschließt sich nicht so ganz, was angesichts der erfolgten Reduzierung der Geldbuße Ziel der Rechtsbeschwerde war.

Corona I: Gebrauch eines gefälschten Impfpasses, oder: Wie weit sperrt die alte Fassung von § 279 StGB?

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Und dann starte ich in die 36. KW. mit zwei Entscheidungen zu Corona. Die Problematik ist ja in den letzten Monaten ein wenig in den Hintergrund getreten. Ich hoffe, dass sie nicht zu stark wieder kommt.

Hier zunächst der OLG Zweibrücken, Beschl. v.  26.06.2023 – 1 OLG 2 Ss 33/22. Der äußert sich noch einmal zum Verhältnis von § 279 StGB a.F. zu § 267 StGB. Das AG hatte die Angeklagte vom Vorwurf der Urkundenfälschung freigesprochen. Es hatte folgende Feststellungen getroffefeN:

„Am 13.10.2021 legte die Angeklagte in der pp. Apotheke in der pp. in pp. einen auf ihren Namen lautenden Impfausweis vor, der zwei mittels Stempel und Unterschrift verifizierte Eintragungen enthielt, die entgegen der Tatsachen bescheinigen sollten, dass sie am 14.07.2021 (Chargennummer: 1DO18A) und am 25.08.2021 (Chargennummer: Ey2172) beim Impfzentrum pp. jeweils eine Impfung mit dem Impfstoff Comirnaty von der Firma BioNTech/Pfizer erhalten habe. Tatsächlich hatte die Angeklagte diese Impfungen zu keinem Zeitpunkt erhalten und die Eintragungen waren von einer unberechtigten Person vorgenommen worden, was ihr bekannt war. Der Absicht der Angeklagten folgend wurde ihr daraufhin in der Annahme der Echtheit der Eintragungen ein digitaler Impfnachweis ausgestellt, den sie in der Folgezeit in ihrer Corona Warnapp hochlud, um das Zertifikat in der Folgezeit zu verwenden.“

Das AG hat die Angeklagte freigesprochen, weil sie keinen Straftatbestand erfüllt habe. Dagegen die Revsion, die Erfolg hatte:

„Eine Verurteilung wegen Urkundenfälschung gemäß § 267 StGB sei nicht möglich, weil die §§ 277 ff. StGB a.F. in der bis zum 23.11.2021 geltenden Fassung gegenüber dem Delikt der Urkundenfälschung eine umfassende Privilegierung des Umgangs mit gefälschten bzw. unrichtigen Gesundheitszeugnissen darstellen würden.

Ein Verwenden des digitalen Impfnachweises habe sich mangels objektiver Beweismittel bzw. Ermittlungsansätze nicht klären lassen.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet. Der Freispruch hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Nicht zu beanstanden ist, dass das Amtsgericht den Gebrauch eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses in der von den §§ 277, 278 a.F. StGB bezeichneten Art gemäß § 279 StGB a.F. nicht festzustellen vermochte.

Bei der Impfbescheinigung handelt es sich um ein Gesundheitszeugnis im Sinne der §§ 277, 278 StGB a.F. (vgl. BGH, Urteil vom 10.11.2022 – 5 StR 283/22; Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 27.01.2022 – 1 Ws 114/21 – juris Rn. 16; OLG Bamberg, Beschluss vom 17.01.2022 – 1 Ws 732-733/21 –, juris Rn. 14; Heine/Schuster in Schönke/Schröder Strafgesetzbuch, 30. Auflage, § 277 Rn. 2; Erb in Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage, § 277 Rn. 2; jeweils m.w.N.), auf die § 279 StGB a.F. hinsichtlich der Tatobjekte verweist. Keinen Bedenken unterliegt auch, dass das Amtsgericht einen Gebrauch des unrichtigen Gesundheitszeugnisses i.S.d. § 279 StGB a.F. nicht festzustellen vermochte.

Der Tatbestand des § 279 StGB a.F. setzt voraus, dass von dem unrichtigen Gesundheitszeugnis Gebrauch gemacht wird, um eine Behörde oder Versicherungsgesellschaft zu täuschen. An dieser Verwendungsabsicht fehlt es vorliegend. Wie im Anwendungsbereich des § 277 StGB a.F. besteht die Tathandlung auch im Anwendungsbereich des § 279 StGB a.F. im Gebrauch des Attests gegenüber einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft (vgl. Erb, a.a.O., § 279 Rn. 3 m.w.N.; BT-Drucks., a.a.O., S. 34).

Als einzige tatsächliche Verwendungsweise festgestellt ist, dass der Impfausweis in einer Apotheke zur Erstellung eines digitalen Impfzertifikats vorgelegt wurde.

Apotheken kommen als Vorlageadressaten nicht in Betracht, da sie keine Behörden i.S.d. Vorschrift sind (vgl. BGH, a.a.O. zu §§ 277, 278 StGB a.F. m.w.N.).

Durch die Vorlage der Falsifikate in Apotheken zur Erlangung eines digitalen Impfzertifikats wird die Impfbescheinigungen auch nicht dem Robert-Koch-Institut als der für die Erstellung digitaler Impfzertifikate zuständigen Behörde zugänglich gemacht. Denn ein Gebrauchen setzt jedenfalls ein Verbringen des Gesundheitszeugnisses in den Machtbereich der Behörde mit der Möglichkeit sinnlicher Wahrnehmung voraus (BGH, a.a.O. m.w.N.). Daran fehlt es, weil dem Robert-Koch-Institut durch die Apotheke nicht der Impfpass, sondern lediglich darin befindliche personenbezogene Daten übermittelt werden (BGH, a.a.O. unter Hinweis auf OLG Celle, Urteil vom 31.05.2022 – 1 Ss 6/22 Rn. 20, NJW 2022, 2054, 2055; Hanseatisches OLG Hamburg, a.a.O.).

Weitere Verwendungsweisen oder Absichten, die auf die Täuschung einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft gerichtet sind, hat das Amtsgericht nicht festzustellen vermocht, so dass es vorliegend an einem Gebrauchen des Gesundheitszeugnisses gegenüber dem besonderen Adressatenkreis i.S.d. § 279 StGB a.F. fehlt.

2. Das Amtsgericht hat sich allerdings zu Unrecht an einer Verurteilung wegen Urkundenfälschung gemäß § 267 StGB gehindert gesehen.

a) Die Ansicht, der Tatbestand des § 279 StGB a.F. sperre die Anwendbarkeit des § 267 StGB, ist unzutreffend.

Der Bundesgerichtshof hat die in der obergerichtlichen Rechtsprechung umstrittene Frage zum Verhältnis des § 277 StGB zu § 267 StGB in dem Sinne entschieden, dass § 267 StGB auch unter Geltung des § 277 StGB a.F. nicht aufgrund einer privilegierenden Spezialität verdrängt wird (vgl. BGH, a.a.O. m.w.N. auch zum Meinungsstand).

Nach Auffassung des Senats ist die Begründung des Bundesgerichtshofs auch auf das Verhältnis des § 279 StGB a.F. zu § 267 StGB zu übertragen. Zwar spricht das zu § 277 StGB a.F. herangezogene systematische Argument des zweiaktigen Deliktsaufbaus des § 277 StGB a.F. im Vergleich zum einaktigen Deliktsaufbau des § 267 StGB beim ebenfalls einaktig aufgebauten § 279 StGB a.F. nicht gleichermaßen gegen eine Privilegierung. Die weitere Argumentation trifft aber, nicht zuletzt aufgrund der gemeinsamen Entstehungsgeschichte und Weitergeltung der Vorschriften (§§ 256 bis 258 PreußStGB bzw. §§ 277 bis 279 StGB) und der Bezugnahme in der Verweisung des § 279 StGB auf § 277 StGB, auf das Verhältnis von § 279 StGB a.F. und § 267 StGB zu (vgl. zu einer sinngemäßen Übertragung der Anwendungsbereiche des § 277 StGB a.F. und § 279 StGB a.F. gegenüber § 267 StGB auch Erb, a.a.O., Rn. 10; Puppe/Schumann in Nomos Kommentar zum StGB, 5. Aufl., § 279 Rn. 9; BT-Drucks., a.a.O., S. 2, 33 m.w.N.).

b) Der Impfpass ist im vorliegenden Fall eine Urkunde im Sinne des § 267 StGB. Insbesondere handelt es sich bei vollständigen Impfdokumentationen um verkörperte Gedankenerklärungen, die zum Beweise geeignet und bestimmt ist und ihren Aussteller erkennen lassen und damit um Urkunden. Die in der ausgefüllten Zeile des Impfausweises enthaltenen Angaben über Datum der Impfung, Impfstoff und Charge ergeben im Zusammenhang mit den Personalien auf dem Deckblatt des Impfausweises die Erklärung des Impfarztes, der genannten Person die bezeichnete Impfung an einem bestimmten Tag unter Verwendung eines Vakzins einer bestimmten Charge verabreicht zu haben (vgl. BGH, a.a.O.).

Wird die Impfbescheinigung etwa mit einem Stempel mit dem Aufdruck des Impfzentrums und einer erfundenen oder nachgeahmten Unterschrift versehen, möchte der Aussteller den Eindruck erwecken, die Bescheinigung sei von einem Arzt des Impfzentrums ausgestellt worden, obwohl sie tatsächlich von ihm selbst herrührten. Scheinbarer Aussteller ist hingegen der angebliche Impfarzt.

Benutzte eine Person ein solches unechtes Attest zur Vorlage gegenüber einem Apotheker, um ein digitales Impfzertifikat zu erhalten, beabsichtigte sie, dass der Apotheker gem. § 22 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 IfSchG (in der zum Tatzeitpunkt geltenden Fassung vom 28.5.2021) die Durchführung der Impfung nachträglich bescheinigt, gebrauchte mithin das unechte Attest zur Täuschung im Rechtsverkehr i.S.d. § 267 Abs. 1 Alt. 3 StGB.

c) Soweit das Amtsgericht allerdings lediglich zum Ausdruck bringt, der Impfausweis sei von einer nicht berechtigten Person ausgestellt worden, sind diese Feststellung offenkundig lückenhaft und vor dem Hintergrund der Annahme getroffen, dass eine Anwendbarkeit des § 267 StGB in allen Fällen des § 277 StGB, mithin auch im Fall der unrichtigen Bescheinigung, ausgeschlossen ist, so dass es auf diese Differenzierung für die Beurteilung der Strafbarkeit der Angeklagten nicht mehr ankam.“

Nochmals zusätzliche Verfahrensgebühr Nr. 4142 VV, oder: Gegenstandswert von 30 Mio EUR ist zu hoch

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Am Gebührenfreitag heute zwei Entscheidungem und zwar eine von einem OLG und eine von einem AG.

Ich starte mit der OLG-Entscheidung. Es handelt sich um den OLG Zweibrücken, Beschl. v. 06.07.2023 – 1 Ws 22/23 – (noch einmal) zum Anfall der Einziehungsgebühr Nr. 4142 VV RVG und zum Gegenstandswert. Folgender Sachverhalt:

Die Staatsanwaltschaft hat gegen den Verurteilten wegen verschiedener Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz unter dem 12.04.2022 Anklage zum Landgericht erhoben. In der Anklageschrift wird darauf hingewiesen, dass ein Betrag von 660.500,00 EUR gem. §§ 73, 73c, 73d StGB der Einziehung und ein Betrag in Höhe von 31.704.000,00 EUR gem. §§ 73a, 73c, 73d StGB der erweiterten Einziehung unterliege. Unter der Überschrift „Vermögensabschöpfung“ wird dies näher begründet. In der Hauptverhandlung hat der Vertreter der Staatsanwaltschaft dann die Einziehung von Taterträgen in Höhe von 274.000,00 EUR und den „erweiterten Verfall“ in Höhe von 85.500,00 EUR beantragt. Das Landgericht hat im Urteil die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 101.500,00 EUR angeordnet.

Nach Einreichung des Kostenfestsetzungsantrags durch den Pflichtverteidiger hat die Bezirksrevisorin beim LG die Festsetzung des Gegenstandswertes für das Einziehungsverfahren beantragt. Das LG hat diesen auf 660.500,00 EUR festgesetzt und zur Begründung ausgeführt, die erweiterte Einziehung von Taterträgen in Höhe von 31.704.000,00 EUR sei nach Aktenlage niemals ernsthaft in Betracht gekommen. Dagegen richtet sich die Beschwerde des Verteidigers, mit der die Festsetzung eines Gegenstandswertes von 30.000.000,00 EUR angestrebt wird. Das LG hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Der zur Entscheidung berufene Einzelrichter beim OLG hat das Verfahren gem. § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG wegen grundsätzlicher Bedeutung dem Senat übertragen. Dieser hat die Beschwerde zurückgewiesen:

„Das Rechtsmittel bleibt allerdings in der Sache erfolglos.

Nach Nr. 4142 des Vergütungsverzeichnisses zum RVG (VV) fällt eine besondere Verfahrensgebühr als Wertgebühr an, wenn der Rechtsanwalt eine auf die Einziehung und verwandte Maßnahmen bezogene gerichtlich oder außergerichtliche Tätigkeit für den Beschuldigten ausübt (BGH, Beschluss vom 29.11.2018 – 3 StR 625/17, juris Rn. 4). Die Verfahrensgebühr wird auch durch eine bloß beratende Tätigkeit des Rechtsanwalts ausgelöst. Erforderlich, aber auch ausreichend für das Entstehen der zusätzlichen Gebühr ist eine nach Aktenlage gebotene Beratung des Mandanten. Das wird immer der Fall sein, wenn Fragen der Einziehung naheliegen. Es kommt weder darauf an, ob der Erlass der Maßnahme rechtlich zulässig ist, noch, ob es an einer gerichtlichen Entscheidung über die Einziehung fehlt, noch ist erforderlich, dass die Einziehung ausdrücklich beantragt worden ist. Es genügt, dass sie nach Lage der Sache ernsthaft in Betracht kommt (OLG Dresden, Beschluss vom 14.02.2020 – 1 Ws 40/20, juris Rn. 1; OLG Braunschweig, Beschluss vom 01.03.2022 – 1 Ws 38/22; juris Rn. 3).

Der Gegenstandswert für die Einziehung richtet sich nach dem objektiven wirtschaftlichen Interesse des Angeklagten an der Abwehr der Anordnung (BGH, Beschluss vom 30.04.2014 – 1 StR 53/13, juris Rn. 1; Beschluss vom 07.10.2014 – 1 StR 166/07, juris Rn. 1; Beschluss vom 29.11.2018 – 3 StR 625/17, juris Rn. 5; Beschluss vom 22.05.2019 – 1 StR 471/18, juris Rn. 2). Maßgeblich ist – wie bei Festsetzung der Kosten im Zivilprozess – der Nominalwert der titulierten Einziehungsforderung. Eine Verringerung des Gegenstandswerts wegen fehlender Durchsetzbarkeit des Zahlungsanspruchs ist generell weder im Streitwert- noch im Kostenfestsetzungsverfahren vorgesehen. Es kommt daher nicht darauf an, ob wegen einer Vermögenslosigkeit des Angeklagten erhebliche Zweifel an der Werthaltigkeit der Einziehungsforderung bestehen (BGH, Beschluss vom 22.05.2019 – 1 StR 471/18, a. a. O. für das Revisionsverfahren; anders für den Arrest: BGH, Urteil vom 08.11.2018 – III ZR 191/17, juris Rn. 20). Beanstandet die Staatsanwaltschaft im Revisionsverfahren, das Landgericht habe zu Unrecht davon abgesehen, den Verfall von Wertersatz anzuordnen, bemisst sich der Gegenstandswert im Revisionsverfahren nach dem von der Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision verfolgten Ziel, mithin der von ihr erstrebten Höhe der Anordnung des Verfalls von Wertersatz (BGH, Beschluss vom 24.02.2015 – 1 StR 245/09, juris Rn. 5). Die für die Wertgebühr maßgebende Höhe des Verfalls des Wertersatzes kann sich nur nach den zum Zeitpunkt der anwaltlichen Beratung erkennbaren Anhaltspunkten in der Verfahrensakte, nicht jedoch nach dem in der Hauptverhandlung gestellten Schlussantrag der Staatsanwaltschaft richten. Ob sich später, etwa in der Hauptverhandlung, Anhaltspunkte für einen niedrigeren Wert ergeben haben, ist ebenso unerheblich wie der Umstand, in welcher Höhe letztlich das Gericht die Einziehung von Wertersatz festgesetzt hat. Der in der zugelassenen Anklage enthaltene Hinweis auf die in Betracht kommende Rechtsfolge der Verfallsanordnung ist nicht völlig bedeutungslos; der Hinweis in der Anklageschrift führt immerhin dazu, dass durch sie ein rechtlicher Hinweis des Gerichts in der Hauptverhandlung entbehrlich wird (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23.08.2007 – 3 Ws 267/07, juris Rn. 7; OLG Oldenburg, Beschluss vom 03.12.2009 – 1 Ws 643/09, juris Rn. 8 und Beschluss vom 06.07.2011 – 1 Ws 351/11, juris Rn. 11).

Deshalb ist im vorliegenden Fall das von der Vertreterin der Landeskasse tatsächlich zutreffend herausgestellte „grobe Missverhältnis“ zwischen den von der Staatsanwaltschaft hochgerechneten Einkünften des Verurteilten und dem nach dem Urteil letztlich der Einziehung unterfallenden Betrag für die Festsetzung des Gegenstandswertes ohne Bedeutung. Auch dass – wie die Generalstaatsanwaltschaft in tatsächlicher Hinsicht zutreffend einwendet – eine Anordnung der erweiterten Einziehung von Wertersatz bei dem Verurteilten wirtschaftlich nicht durchsetzbar ist, spielt für die Festsetzung keine Rolle. Schließlich vermögen auch die zutreffenden Ausführungen des Landgerichts, dass die rechtlichen Voraussetzungen für die Anordnung der erweiterten Einziehung hier schon nach Aktenlage nicht vorlagen (BGH, Beschluss vom 04.03.2021 – 5 StR 447/20, juris Rn. 67 f.; ferner: Beschluss vom 03.11.2020 – 6 StR 258/20, juris Rn. 7; Beschluss vom 19.08.2021 – 5 StR 238/21, juris Rn. 4; Beschluss vom 26.10.2021 – 5 StR 327/21, juris Rn. 3), die Wertfestsetzung nicht zu beeinflussen.

Als aus der Akte erkennbarem Anhaltspunkt für das objektive, wirtschaftliche Interesse des Angeklagten an der Abwehr der Einziehungsanordnung kommt der Anklageschrift, wenn diese sich zur Vermögensabschöpfung äußert, naturgemäß erhebliche Bedeutung zu. Im vorliegenden Fall hat die Staatsanwaltschaft die nach ihrer Auffassung der Einziehung und der erweiterten Einziehung unterliegenden Beträge nicht nur beziffert, sondern deren Berechnung auch noch ausführlich begründet. Nach der Anklageschrift sollte ein Betrag von insgesamt 32.364.500,00 € der Einziehung bzw. der erweiterten Einziehung von Wertersatz unterliegen.

Entsprechenden Ausführungen der Staatsanwaltschaft grundsätzlich keine Bedeutung für das Interesse des Verurteilten an der Abwehr der Anordnung beizumessen, würde der Bedeutung der Anklageschrift für das Strafverfahren nicht gerecht; steht die Vermögensabschöpfung in der genannten Höhe allerdings ernstlich nicht im Raum und hat die Berechnung deshalb nur fiktiven Charakter, verliert der Inhalt der Anklageschrift seine Bedeutung für die Bestimmung des Gegenstandwertes (zum Verfall und unter Geltung der BRAGO: OLG Köln, Beschluss vom 01.06.2007 – 2 Ws 173-175/07, BeckRS 2007, 16796 = StraFo 2007, 525).

So liegt der Fall hier. Der fiktive Charakter der Berechnung des vermeintlich der erweiterten Einziehung unterliegenden Betrages lässt sich zwar nicht dem Wortlaut der Anklageschrift entnehmen; die Bezifferung dieses Betrages ist aber im Hinblick auf den Ansatzpunkt für deren Berechnung und die wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten im Tatzeitraum offensichtlich abwegig.

Deshalb hat es mit dem von dem Landgericht für das Einziehungsverfahren festgesetzten Gegenstandwert in Höhe von 660.500,00 € sein Bewenden.“

Dazu ist anzumerken:

1. Vorab: Auf den ersten Blick scheint der Streit des Pflichtverteidigers mit der Landeskasse ein „Streit um Kaisers“ Bart zu sein. Denn selbst, wenn das LG/OLG den Gegenstandswert auf die vom Verteidiger beantragten 30.000.000 EUR – auf § 22 Abs. 2 S. 2 RVG wird hingewiesen – festgesetzt worden wäre – hätte sich für die Pflichtverteidigergebühren nichts geändert. Denn für den Pflichtverteidiger gilt die Beschränkung aus § 49 RVG, die den Gegenstandswert für ihn bei 50.000 EUR kappt. Mehr als 659 EUR entstehen für den Pflichtverteidiger an Gebühren also bei der Nr. 4142 VV RVG nicht.

Der Streit ist aber nur vordergründig überflüssig bzw. hat ggf. Bedeutung in Verfahren, in denen es um Wahlanwaltsgebühren geht, da insoweit eben von einem Gegenstandswert von 30.000.000 EUR ausgegangen werden könnte. Das könnte, was sich aus der Entscheidung allerdings nicht ergibt, im Übrigen auch hier greifen. Wenn nämlich das LG in seinem Urteil oder ggf. der BGH in einer potentiellen Revisionsentscheidung nach den Grundsätzen von BGH (Beschl. v. 25.02.2021 – 1 StR 423/20, AGS 2021, 287) eine Kostenentscheidung teilweise zugunsten des Angeklagten getroffen hätte und wegen der erheblichen Verringerung der Einziehungsbetrages, dessen sich die Staatsanwaltschaft berühmt hat, die Kosten und Auslagen zumindest teilweise der Staatskasse auferlegt hätte. Dann würde im Rahmen der Erstattung für den Angeklagten der höhere Gegenstandswert herangezogen werden müssen.

2. Hinsichtlich der Ausführungen des OLG zur Bemessung des Gegenstandswertes ist gegen die Darlegungen  zum objektiven wirtschaftlichen Interesse des Angeklagten als Grundlage für die Bemessung nichts einzuwenden. Sie sind grundsätzlich zutreffend. Zutreffend sind auch die Anmerkungen des OLG zur Bedeutung der Anklageschrift. Nicht selten wird sie Grundlage der Gegenstandswertbemessung sein, da in ihr die Staatsanwaltschaft, wenn sie eine Einziehung bejaht/ankündigt, auch zu deren Höhe Stellung nehmen muss. Damit ist aber die Grundlage für den Verteidiger gelegt. Der muss/kann aus der Anklageschrift entnehmen, welcher Einziehungsanspruch gegen seinen Mandanten geltend gemacht wird und womit der Mandant schlimmstenfalls rechnen muss. Die Staatsanwaltschaft berühmt sich für den Staat als Rechtsfolge einer Verurteilung eines Anspruchs in dieser Höhe. Gegen den muss sich der Mandant verteidigen, was seinem objektiven wirtschaftlichen Interesse entspricht. M.E. kann man an der Stelle nicht auf einen „fiktive Charakter der Berechnung des vermeintlich der erweiterten Einziehung unterliegenden Betrages“ abstellen, wenn man zuvor die Anklageschrift als das „Maß aller Dinge“ als Grundlage der Bemessung herangezogen hat. Das ist widersprüchlich. Und ob „die die Bezifferung dieses Betrages … im Hinblick auf den Ansatzpunkt für deren Berechnung und die wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten“ zutreffend ist oder nicht, kann m.E. auch keine Rolle spielen. Die Staatsanwaltschaft hat sich eines solchen Anspruchs berühmt, gegen den muss sich der Angeklagte verteidigen. Auch bei Festsetzung der Kosten im Zivilprozess wird – das OLG sieht selbst die Parallel – ja nicht gegen eine geltend gemachte Klageforderung bei (teilweise) Klageabweisung eingewandt, diese sei fiktiv gewesen. Das durch eine „fiktive“ Forderung entstehende Kostenrisiko ist das Risiko des Klägers, der sich einer solchen „übersetzten“ Forderung berühmt. Im Strafverfahren ist es das Risiko des Staates, der sich, vertreten durch die Staatsanwaltschaft, einer zu hohen/übersetzten Einziehungsforderung berühmt. Da hilft es auch nicht, wenn man mit „offensichtlich abwegig.“ formuliert. Die Formulierung zeigt vielmehr, dass man sich schon darüber bewusst ist, dass die eigene Begründung widersprüchlich ist und den Beschluss nicht trägt.