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Bewährung I: Widerruf von Strafaussetzung zulässig?, oder: Zurückstellung in anderer Sache

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Und ich setze die Berichterstattung fort mit Entscheidungen zur Bewährung und/oder zur Fortdauer der Unterbringung.

Hier kommt zunächst der OLG Braunschweig, Beschl. v. 17.05.2023 – 1 Ws 92/23 -zur Entscheidung über die Widerruf einer Strafaussetzung trotz Zurückstellung der Strafvollstreckung in anderer Sache. Das OLG sagt: Das ist zulässig:

„…… Das Landgericht Göttingen hat die Aussetzung der Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafen zur Bewährung zu Recht widerrufen.

Denn der Verurteilte hat im Zeitraum von Februar bis Juni 2021 und damit jeweils innerhalb der Bewährungszeit fünf Straftaten von nicht unerheblichem Gewicht begangen. Dadurch hat er gezeigt, dass er die Erwartung künftiger Straffreiheit, die der Strafaussetzung zugrunde gelegen hatte, nicht erfüllt hat.

Es besteht zudem Anlass zu der Besorgnis, der Verurteilte werde erneut Straftaten begehen und ihm kann auch mit Auflagen oder Weisungen im Sinne des § 56 f Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StGB gegenwärtig keine positive Kriminalprognose gestellt werden. Eine solche Reaktion auf das Fehlverhalten eines Verurteilten ist nur dann ausreichend, wenn aufgrund von Tatsachen erwartet werden kann, dass er künftig – ggf. mit Maßnahmen gemäß § 56 f Abs. 2 Satz 1 StGB – keine Straftaten mehr begehen wird. Dazu reicht allerdings der Wille zu straffreier Führung allein nicht aus. Vielmehr müssen Tatsachen dafür sprechen, dass der Verurteilte auch fähig ist, diesen Willen in die Tat umzusetzen (OLG Braunschweig, Beschluss vom 29. März 2022, 1 Ws 192/21, juris, Rn. 28; KG Berlin, Beschluss vom 12. Januar 2009, 2 Ws 620/08, juris, Rn. 12). Davon ist nicht auszugehen.

Gegen eine positive Kriminalprognose spricht insbesondere die Vielzahl der Vorstrafen und die fortbestehende, nicht hinreichend aufgearbeitete Drogenabhängigkeit des Verurteilten, der seit 2001 regelmäßig Straftaten begeht. Dass der Beschwerdeführer erneut eine Therapie zur Überwindung seiner Drogensucht begonnen hat, begründet eine gewisse Hoffnung, lässt jedoch die Besorgnis neuer Straftaten nicht entfallen.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist eine positive Kriminalprognose bei einem Suchtmittelabhängigen nur dann gerechtfertigt, wenn eine Therapie nicht nur begonnen wurde, sondern die begründete Aussicht besteht, dass sie erfolgreich zum Abschluss gebracht wird (OLG Braunschweig, Beschluss vom 13. Februar 2014, 1 Ws 31/14, juris, Rn. 10 m.w.N.; ebenso KG Berlin, Beschluss vom 12. Juli 2018, 5 Ws 98-99/18 – 121 AR 122 und 134/18, juris, Rn. 18 ff.; KG Berlin, Beschluss vom 22. Juni 2000, 5 Ws 370/00, juris, Rn. 4). Dafür besteht angesichts der erst am 23. März 2023 angetretenen und damit noch nicht einmal 2 Monate absolvierten Therapie noch kein Anhalt. Das gilt auch deshalb, weil der Beschwerdeführer, wie unter anderem den Feststellungen des Amtsgerichts Göttingen im Urteil vom 29. August 2022 zu entnehmen ist, vor dieser Drogenentwöhnungsbehandlung bereits mehrere Therapien absolvierte, die allesamt keinen nachhaltigen Erfolg hatten. Vor diesem Hintergrund bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Annahme, die aktuelle Therapie werde nun einen solchen Erfolg haben.

Die Entscheidung über den Bewährungswiderruf konnte auch nicht zurückgestellt werden, um den weiteren Verlauf der Therapie abzuwarten. Über den Widerruf einer Strafaussetzung gemäß § 56 f StGB ist vielmehr unabhängig von einer bereits begonnenen Entwöhnungsbehandlung zu entscheiden, sobald das Gericht vom Vorliegen der Widerrufsvoraussetzungen überzeugt ist (OLG Braunschweig, Beschluss vom 29. März 2022, 1 Ws 192/21, juris, Rn. 22; OLG Braunschweig, Beschluss vom 26. September 2011, Ws 280/11, juris, Rn. 9; OLG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 22. Dezember 2021, 1 Ws (s) 356/21, juris, Rn. 13; OLG Hamm, Beschluss vom 18. August 2011, 2 Ws 246 und 247/11, juris, Rn. 5; OLG Köln, Beschluss vom 2. Januar 2014, III-2 Ws 720/13, juris, Rn. 15; Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 11. Februar 2005, 2 Ws 24/05, juris, Rn. 16 ff.). Ein Abwarten, ob in Zukunft durch ein Fortschreiten der Therapie andere Prognoseumstände eintreten könnten, sieht das Gesetz nicht vor (Hanseatisches OLG Hamburg, a.a.O., Leitsatz 2 und Rn. 15; OLG Hamm, a.a.O.).

Weil der weitere Verlauf einer Therapie nicht abgewartet werden darf, besteht nach Auffassung des erkennenden Senats auch keine Möglichkeit, die Entscheidung über den Widerruf aus Anlass des Beginns der Therapie gemäß § 35 BtMG zurückzustellen. Allein die Regelung in § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG rechtfertigt es aus Sicht des Senats nicht, entgegen der dargestellten Gesetzeslage nach einer Gesamtabwägung von einer Entscheidung gemäß § 56 f StGB doch zeitweise abzusehen, um bei Zurückstellungen gemäß § 35 BtMG die zukünftige Entwicklung abzuwarten (Hubrach in Leipziger Kommentar, StGB, 13. Aufl, § 56 f Rn. 48; a.A.: OLG Celle, Beschluss vom 14. Februar 2012, 1 Ws 54/12, juris, Rn. 4 ff.; offen gelassen: Hanseatisches Oberlandesgericht, a.a.O., Rn. 21). Wenn die Vollstreckung einer Maßregel gemäß § 64 StGB, sofern noch kein Erfolg der Therapie absehbar ist, ein Zuwarten mit der Entscheidung gemäß § 56 f StGB nicht rechtfertigt (OLG Braunschweig, Beschluss vom 26. September 2011, Ws 280/11; OLG Sachsen-Anhalt, a.a.O., Rn. 12; OLG Köln, a.a.O.; OLG Hamm, a.a.O., Rn. 4), kann bei der Zurückstellung gemäß § 35 BtMG nicht allein deshalb anders entschieden werden, weil diese gemäß § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG – sofern nicht auch die Vollstreckung der anderen Strafen zurückgestellt werden kann (dazu: Weber in Weber/Kornprobst/Maier, BtMG, 6. Aufl., § 35 Rn. 291) – zu widerrufen ist, die Unterbringung hingegen wegen § 67 Abs. 1 StGB fortgesetzt werden kann. Vielmehr ist die abweichende Bewertung des Gesetzgebers zu akzeptieren und darf nicht auf dem Umweg über eine unterschiedliche Anwendung von § 56 f StGB umgangen werden.

Letztlich kann diese Rechtsfrage aber dahinstehen, weil die nach der Gegenauffassung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit vorzunehmende Gesamtabwägung im vorliegenden Fall selbst dann keine Zurückstellung der Entscheidung rechtfertigen könnte, wenn eine solche gestattet wäre. Vielmehr ist der Widerruf der Strafaussetzung im Fall des Beschwerdeführers zum Schutz der Allgemeinheit geboten, weil die Therapie erst seit wenigen Wochen erfolgt und ihr erfolgreicher Abschluss mit erheblichen Unsicherheiten behaftet ist.

Dass der Widerruf der Strafaussetzung, soweit es den Strafrest aus dem Urteil des Amtsgerichts Fritzlar vom 3. August 2010 betrifft, nach dem Ende der Bewährungszeit erfolgte, begegnet keinen durchgreifenden Bedenken und zeigt allenfalls die Notwendigkeit, Entscheidungen gemäß § 56 f StGB nicht zurückzustellen. Insbesondere war der Verurteilte nicht durch Vertrauensschutz davor geschützt, dass die Strafaussetzung zur Bewährung auch nach Ende des Bewährungszeitraums noch widerrufen wird. Denn der Verurteilte wurde, wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme zutreffend ausgeführt hat, ausreichend darauf hingewiesen, dass auch nach Ende der Bewährungszeit noch Bewährungsmaßnahmen in Betracht kommen…..“

beA II: Die einfache Signatur des Einzelanwalts, oder: OLG Braunschweig macht es anders als das BAG

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Die zweite Entscheidung, der OLG Braunschweig, Beschl. v. 09.06.2023 – 1 ORbs 22/23 – kommt aus einem Bußgeldverfahren.

Das AG hat den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Mit qualifiziert signiertem elektronischem Schreiben seines Verteidigers vom 25.11.2022 (bei Gericht eingegangen am selben Tag) hat der Betroffene mit dem Ziel der Überprüfung dieses Urteils einen Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gestellt. Nach Zustellung des Urteils hat der Betroffene mit weiterem Verteidigerschreiben vom 01.02.2023 den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde begründet. Die Begründung des Zulassungsantrags ist dem AG am 01.02.2023 über das besondere elektronische Postfach des Verteidigers zugeleitet worden. Das Schreiben ist nicht qualifiziert signiert und es ist lediglich mit dem Wort „Rechtsanwalt“ unterzeichnet. Ein Name ist der Unterschrift nicht zu entnehmen.

Der Verteidiger des Betroffenen ist mit Verfügung des OLG-Senats darauf hingewiesen worden, dass die Begründung des Zulassungsantrags, die wegen § 32d Satz 2 StPO i.V.m. § 110c OWiG elektronisch zu erfolgen habe, gemäß § 32a Abs. 3 StPO i.V.m. § 110c OWiG unwirksam angebracht sein könnte. Er hat dieser Auffassung die Rechtsprechung des BAG (Beschl. v. 25.08.2022 – 2 AZR 234/22) entgegengehalten, wonach die fehlende Unterzeichnung mit dem Namen des verantwortenden Rechtsanwalts die wirksame Begründung des Zulassungsantrags nicht beeinträchtige, wenn, wie hier, aus dem Briefkopf hervorgehe, dass der Verteidiger als Einzelanwalt tätig sei. Ohnehin sei in der Einzelkanzlei des Verteidigers, der die Begründung des Zulassungsantrags zudem selbst versandt habe, kein weiterer Rechtsanwalt tätig.

Vorsorglich hat er einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt.Das OLG hat den Zulassungsantrag als unzulässig verworfen und Wiedereinsetzung nicht gewährt:

„1. Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ist unzulässig, denn er wurde nicht formgerecht begründet.

Gemäß §§ 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG, 345 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 StPO muss die Begründung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde spätestens binnen eines Monats nach Zustellung des angegriffenen Urteils bei dem Gericht, dessen Urteil angegriffen wird, angebracht werden. Sofern dies nicht zu Protokoll der Geschäftsstelle, sondern durch eine von dem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichnete Schrift geschieht, gelten die besonderen Formerfordernis der §§ 32d Satz 2, 32a StPO, die über die Verweisung in § 110c Satz 1 OWiG auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren zur Anwendung kommen. Danach sind Verteidiger und Rechtsanwälte verpflichtet, die Begründung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als elektronisches Dokument zu übermitteln; wie dies im Einzelnen zu erfolgen hat, regelt § 32a StPO. § 32a Abs. 3 StPO eröffnet dabei zwei Möglichkeiten der Übermittlung von Dokumenten, die schriftlich abzufassen, zu unterschreiben oder zu unterzeichnen sind, nämlich einerseits, indem sie mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der das Dokument verantwortenden Person versehen sind, oder andererseits, indem sie von der das Dokument verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden; was als sicherer Übermittlungsweg anzusehen ist, bestimmt wiederum § 32a Abs. 4 Satz 1 StPO, der in Nr. 2 auch den Versand über ein besonderes elektronisches Anwaltspostfach vorsieht. Hierbei handelt es sich um zwingend einzuhaltende Form- und Wirksamkeitsvoraussetzungen; ist der das Rechtsmittel begründende Schriftsatz nicht auf diesem Weg, sondern anderweitig innerhalb der gesetzlichen Fristen bei Gericht eingegangen, ist das die Rechtsmittelbegründung unwirksam (zum Vorstehenden: KG Berlin, Beschluss vom 22. Juni 2022, 3 Ws (B) 123/22, juris, Rn. 7 m.w.N.).

Diesen Anforderungen genügt das Verteidigerschreiben vom 1. Februar 2023 nicht, denn es enthält weder eine qualifizierte noch eine einfache Signatur. Die einfache Signatur, also die Wiedergabe des Namens am Ende des Textes (BAG, Beschluss vom 14. September 2020, 5 AZB 23/20, juris, Rn. 15; OLG Braunschweig, Beschluss vom 8. April 2019, 11 U 146/18, juris, Rn. 38; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 6. September 2021, 17 W 13/21, juris, Rn. 14; OVG Lüneburg, Beschluss vom 31. Januar 2023, 13 ME 23/23, juris, Rn. 5; OVG Hamburg, Beschluss vom 12. August 2022, 6 Bs 57/22, juris, Rn. 9; Greger in Zöller, ZPO, 34. Aufl., § 130a, Rn. 9), ist gemäß § 32 a Abs. 3 StPO auch dann zu verlangen, wenn im verwendeten Briefkopf nur ein Rechtsanwalt ausgewiesen ist.

Allein die Berufsbezeichnung Rechtsanwalt genügt im Gegensatz zur Auffassung des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Beschluss vom 25. August 2022, 2 AZN 234/22, juris, Rn. 2) nicht (OVG Lüneburg, a.a.O., Leitsatz und Rn. 6, 9; OLG Karlsruhe, a.a.O., Leitsatz und Rn. 18). Denn die Signatur soll sicherzustellen, dass die unterzeichnende Person als diejenige erkennbar ist, welche für den Inhalt des Schreibens Verantwortung übernimmt (BGH, Beschluss vom 7. September 2022, XII ZB 215/22, juris, Rn. 11; OVG Lüneburg, a.a.O., Rn. 5). Diesem Erfordernis, dem gerade bei der Begründung eines Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde besondere Bedeutung zukommt (vgl. §§ 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG i. V. m. § 345 Abs. 2 StPO), trägt der Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 25. August 2022 nicht ausreichend Rechnung. Selbst wenn sich aus dem Briefkopf lediglich ein einzelner Anwalt ergibt, ist nicht sichergestellt, dass dieser Rechtsanwalt die Verantwortung für den Schriftsatz übernimmt. Vielmehr kann dennoch eine andere Person inhaltlich für den Inhalt des Schreibens verantwortlich sein. So übersieht das Bundesarbeitsgericht zunächst die Möglichkeit, dass weitere Rechtsanwälte in der Kanzlei angestellt oder als freie Mitarbeiter tätig sein können (BGH, Beschluss vom 7. September 2022, XII ZB 215/22, juris, Rn. 12; OVG Lüneburg, a.a.O., Rn. 9; OLG Karlsruhe, a.a.O., Rn. 24). Zudem mag sich ein Rechtsanwalt unter seinem eigenen Briefkopf auch vertreten lassen (OVG Lüneburg, a.a.O., Rn. 9; OLG Karlsruhe, a.a.O., Rn. 25).

Der Betroffene kann nicht damit gehört werden, dass ein solcher Sachverhalt in seinem Fall nicht vorgelegen hätte, weil der im Briefkopf genannte Verteidiger die Begründung des Zulassungsantrags tatsächlich selbst verantwortet habe. Ob ein Schriftsatz wirksam eingereicht ist, muss sich nämlich bereits zweifelsfrei aus diesem selbst ergeben. Eine spätere Aufklärung der konkreten Verhältnisse (Kanzleiorganisation) wäre mit dem Zweck des Signaturerfordernisses nicht vereinbar (vgl. OLG Karlsruhe, a.a.O., Rn. 24 aE). Es geht gerade darum, den verantwortenden Rechtsanwalt ohne Beweisaufnahme oder sonstiges Sonderwissen zu identifizieren (BGH, Beschluss vom 7. September 2022, XII ZB 215/22, juris, Rn. 11; OLG Karlsruhe, a.a.O.).

2. Das Wiedereinsetzungsgesuch ist abzulehnen. Es fehlt bereits an der gemäß § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO (anwendbar über § 46 Abs.1 OWiG) erforderlichen Nachholung der Begründung des Zulassungsantrags. Ist die Handlung nicht formgemäß vorgenommen worden, muss sie in der vorgeschriebenen Form nachgeholt werden (KG Berlin, Beschluss vom 22. Juni 2022, 3 Ws (B) 123/22, juris, Rn. 16). Dem genügt das Gesuch nicht. So erfüllt das elektronische Schreiben vom 17. Mai 2023 die Voraussetzungen schon deshalb nicht, weil es keine Begründung des Zulassungsantrags enthält, sondern nur ausführt, dass „bereits umfassend Stellung genommen“ worden sei. Die umfassende Begründung des Zulassungsantrags vom 1. Februar 2023 ist aber unwirksam und somit gerade nicht berücksichtigungsfähig. Außerdem ist das Schreiben vom 17. Mai 2023 zur Begründung des Zulassungsantrags auch deshalb ungeeignet, weil diese gemäß §§ 345 Abs. 1 Satz 1 StPO, 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG beim Ausgangsgericht anzubringen ist. Dass das Wiedereinsetzungsgesuch vom 17. Mai 2023 schließlich auch die Frist des § 45 Abs.1 Satz 1 StPO nicht wahrt, ist vor diesem Hintergrund nicht mehr von Bedeutung.“

OWi II: Die Ablehnung eines Entbindungsantrags, oder: Rein spekulative Erwägungen reichen nicht

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Die zweite Entscheidung des Tages kommt dann mit dem OLG Braunschweig, Beschl. v. 08.06.2023 – 1 ORbs 48/23 – vom OLG Braunschweig. Es handelt sich mal wieder um einen „Entbindungsfall“, also § 73 OWiG.

Der Verteidiger des Betroffenen hatte beantragt, den von seiner Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen im Termin zur Hauptverhandlung zu entbinden. Er räume seine Fahrereigenschaft zum vorgeworfenen Zeitpunkt ein, werde ansonsten aber in Person unter keinen Umständen Angaben zur Sache und zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen machen. Zugleich übersandte der Verteidiger eine Vertretungsvollmacht, aus der sich ergibt, dass er bevollmächtigt ist, den Betroffenen in seiner Abwesenheit zu vertreten.

Das AG hat den Antrag abgelehtn und zur Begründung ausgeführt, dass die Anwesenheit des Betroffenen zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhaltes erforderlich sei. Da die geladenen Zeugen nach Aktenlage vor Ort persönlich im Kontakt mit dem Betroffenen gestanden haben sollten, sei die Anwesenheit des Betroffenen – auch wenn er sich nicht einlassen wolle – zur Sachaufklärung erforderlich.

Nachdem weder der Betroffene noch der Verteidiger zum Hauptverhandlungstermin erschienen, hat das AG den Einspruch des Betroffenen gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Dagegen die Rechtsbeschwerde, die Erfolg hatte:

„2. Die Rüge ist auch begründet. Der Betroffene war vorliegend nach § 73 Abs. 2 OWiG von seiner Anwesenheitspflicht zu entbinden. Die Verwerfung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid gern. § 74 Abs. 2 OWiG nach abschlägiger Bescheidung des Entbindungsantrages war rechtsfehlerhaft.

Nach § 73 Abs. 2 OWiG entbindet das Gericht einen Betroffenen auf seinen Antrag von seiner Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht zur Sache äußern werde, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist. Dabei ist zu beachten, dass die Entscheidung über den Entbindungsantrag nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt wird. Dieses ist vielmehr verpflichtet, dem Antrag zu entsprechen, sofern die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 8. März 2005, Ss (OWi) 141/05, juris, Rn. 6; KG Berlin, Beschluss vom 11. Dezember 2017, 3 Ws (B) 310/17, juris, Rn. 8 m.w.N.).

Diese Voraussetzungen lagen vor. Der Betroffene hat in dem Entbindungsantrag vom 4. Januar 2023 im Hinblick auf die anberaumte Hauptverhandlung erklärt, er werde weder Angaben zur Sache noch zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen machen. Damit war klargestellt, dass von der persönlichen Anwesenheit des Betroffenen in dem Hauptverhandlungstermin keine weitere Aufklärung des Tatvorwurfs zu erwarten war (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 2. Februar 2012, 2 Rbs 13/12, juris, Rn. 4).

Zwar kann die Anwesenheit eines Betroffenen in der Hauptverhandlung, der sein Schweigen zum Tatvorwurf angekündigt hat, im Einzelfall unverzichtbar sein, wenn nur dadurch die gebotene Sachaufklärung möglich ist (vgl. Senge in: Karlsruher Kommentar, OWiG, 4. Aufl., § 73, Rn. 31) und ist auch dem Tatrichter bei der Beurteilung der Frage, ob die Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhaltes erforderlich ist, grundsätzlich ein weiter Ermessenspielraum einzuräumen. Jedoch genügen rein spekulative Erwägungen, die Anwesenheit eines Betroffenen könne in der Hauptverhandlung zu einem Erkenntnisgewinn führen, nicht (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 10. Juli 2007, 2 Ss 160/07, juris, Rn. 7f.; OLG Naumburg, Beschluss vom 23. Januar 2007, 1 Ss (B) 210/06, juris, Rn. 11; OLG Bamberg, Beschluss vom 7. August 2007, 3 Ss OWi 764/07, juris, Rn. 8; KG Berlin, Beschluss vom 10. März 2011, 3 Ws (B) 78/11, juris, Rn. 5).

So liegt der Fall hier. Soweit das Amtsgericht in seinem Beschluss vom 16. Januar 2023 (nur) ausgeführt hat, dass die Zeugen nach Aktenlage persönlichen Kontakt zu dem Betroffenen gehabt hätten, ist nicht ersichtlich, inwiefern dieser Umstand weitere Sachaufklärung verspricht. Insbesondere bedurfte es — nachdem der Betroffene die Fahrereigenschaft eingeräumt hatte — keiner Gegenüberstellung mit den Zeugen. Eine nähere Begründung, aus welchen Gründen das Amtsgericht sich trotz der Angabe des Betroffenen, er werde sich nicht weiter einlassen, eine weitere Sachaufklärung erhofft hat, fehlt.“

Das Ganze ist – wie man an der vom OLG zitierten Rechtsprechung sieht – nichts Neues. Man fragt sich allerdings, warum das AG die nicht kennt.

Welche Tätigkeiten führen zur Verfahrensgebühr? oder: Keine „nach außen erkennbare Tätigkeit“ erforderlich

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Am RVG-Freitag komme ich dann zunächst noch einmal auf einen Beschluss des OLG Braunschweig zurück, den ich bereits vor einigen Tagen vorgestellt habe. In dem Posting ging es um Nebenklage III: Anfechtung der Kostenentscheidung, oder: Statthaftigkeit und/oder Beschwer.

Heute dann also der OLG Braunschweig, Beschl. v. 19.01.2023 – 1 Ws 309/22 – noch einmal. Dieses mal aber wegen der anderen vom OLG angesprochen Gebührenfrage, nämlich zum Entstehen der Verfahrensgebühr. Dazu das OLG:

„Diese Gebühr ist auch schon entstanden. Zwar entsteht die Verfahrensgebühr nach der Vorbemerkung 4 Abs. 2 der Anlage 1 zum RVG für das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information, woraus teilweise gefolgert wird, dass die Gebühr zumindest dann noch nicht entsteht, wenn die Staatsanwaltschaft ihre Berufung vor deren Begründung zurücknimmt. Diese Ansicht beruht aber auf der Erwägung, dass die Staatsanwaltschaft gemäß § 156 Abs. 1 RiStBV jedes von ihr eingelegte Rechtsmittel begründen muss, weshalb ein Verteidiger grundsätzlich davon ausgehen kann, dass eine Berufung der Staatsanwaltschaft innerhalb der Frist des § 317 StPO begründet wird und eine sinnvolle Verteidigung erst möglich ist, wenn die Berufungsbegründung den Umfang und die Zielsetzung des Rechtsmittels aufzeigt (OLG Köln, Beschluss vom 3. Juli 2015, 2 Ws 400/15, Rn. 19, BeckRS 2015, 12573; Mayer/Kroiß, RVG, 8. Aufl. 2021, VV 4124 Rn. 3, zit. nach beck-online). Diese Annahme ist auf den Beratungsbedarf eines Nebenklägers bei einer, nicht begründungspflichtigen, Berufung des Angeklagten nicht übertragbar.

2. Die sofortige Beschwerde des Nebenklägers ist auch begründet.

Gemäß § 473 Abs. 1 S. 2 StPO haben die Angeklagten, die ein Rechtsmittel erfolglos eingelegt haben, auch die notwendigen Auslagen des Nebenklägers zu tragen. Im hier vorliegenden Fall führt dieser Grundsatz dazu, dass in der Kostenentscheidung vom 19. Oktober 2022 die notwendigen Auslagen des Nebenklägers für die Berufungsinstanz den Angeklagten aufzuerlegen sind. Soweit teilweise unter Rückgriff auf die Regelung in § 472 Abs. 1 S. 3 StPO hiervon eine Ausnahme gemacht wird, wenn der Angeklagte durch sein Verhalten keinen vernünftigen Grund für den Anschluss als Nebenkläger gegeben hat oder den Verletzten ein Mitverschulden trifft (OLG Hamm, Beschluss vom 4. März 2003, 1 Ws 63/03, Rn. 8, zit. nach juris), liegt eine solche Fallgestaltung hier nicht vor.

Soweit mit dem Verteidigerschriftsatz für den Angeklagten pp. vorgetragen wird, der Nebenklägervertreter habe keinerlei Tätigkeiten im Berufungsverfahren ausgeübt, wird verkannt, dass die Gebühr nach VV 4124 der Anlage 1 zum RVG schon bei der erstmaligen Tätigkeit im Berufungsverfahren entsteht, wofür keine nach außen erkennbare Tätigkeit erforderlich ist, sondern auch eine (interne) Beratung des Mandanten über den Gang des Verfahrens ausreichen kann (Gerold/Schmidt, RVG, 25. Auflage 2021, VV 4124 Rn. 5, zit. nach beck-online). Ob eine solche Tätigkeit tatsächlich stattgefunden hat, welchen Umfang sie hatte und ggf. in welcher Höhe die Verfahrensgebühr festzusetzen ist, ist ggf. im Kostenfestsetzungsverfahren zu klären und nicht im Rahmen der Kostengrundentscheidung.“

Nebenklage III: Anfechtung der Kostenentscheidung, oder: Statthaftigkeit und/oder Beschwer

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Und dann zum Schluss des Tages hier noch der OLG Braunschweig, Beschl. v. 19.01.2023 – 1 Ws 309/22. Der behandelt zwei Fragen. Ich stelle ihn heute wegen der Anfechtung einer/der Kostenscheidung durch den Nebenkläger vor, wegen der anderen Frage komme ich auf den Beschluss noch einmal zurück.

In dem Verfahren sind die beiden Angeklagten durch Urteil des AG wegen einer gefährlichen Körperverletzung, begangen zum Nachteil des Nebenklägers, zu Geldstrafen verurteilt worden. Die notwendigen Kosten des Nebenklägers wurden den Angeklagten auferlegt.

Gegen dieses Urteil haben beide Angeklagte zunächst Berufung eingelegt, diese aber mit anwaltlichen Schreiben wieder zurückgenommen. Das LG hat den beiden Angeklagten gemäß § 473 Abs. 1 StPO die Kosten der Berufung und ihre Auslagen auferlegt. Eine Entscheidung über die Auferlegung der notwendigen Auslagen des Nebenklägers ist unterblieben. Der Nebenkläger wendet sich dann mit seiner sofortigen Beschwerde gegen die unterlassene Entscheidung über seine eigenen notwendigen Auslagen.

Die GStA hat beantragt, auf die sofortige Beschwerde des Nebenklägers die Kosten- und Auslagenentscheidung des LG dahingehend zu ergänzen, dass die Angeklagten die dem Nebenkläger im Berufungsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen haben. Die Angeklagten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Einer der Angeklagte hat dabei  u.a. vorgetragen, die sofortige Beschwerde sei gemäß § 464 Abs. 3 Satz 1, 2. Halbsatz i. V. m. § 400 StPO nicht zulässig.

Das Rechtsmittel hatte beim OLG Erfolg:

„1. Die sofortige Beschwerde ist zulässig. Sie ist formgerecht innerhalb der Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO eingegangen und auch nach § 464 Abs. 3 StPO statthaft. Der Statthaftigkeit steht im vorliegenden Fall § 464 Abs. 3 S. 1, 2. Halbsatz StPO nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift ist eine sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung unzulässig, wenn ein Rechtsmittel in der Hauptsache nicht statthaft ist. Das ist trotz § 400 Abs. 1 StPO und der durch die Berufungsrücknahmen rechtskräftigen erstinstanzlichen Verurteilungen der Angeklagten wegen der Tat, für die der Nebenkläger anschlussberechtigt war, nicht der Fall.

Der Senat hat sich bereits mit Beschluss vom 10. Februar 2021 (Az. 1 Ws 289/20, nicht veröffentlicht) der Ansicht angeschlossen, dass die §§ 464 Abs. 3 S. 1, 2. Halbsatz, 400 Abs. 1 StPO der Anfechtung der Kostenscheidung durch den Nebenkläger nicht entgegenstehen. § 400 Abs. 1 StPO beseitigt nicht die Statthaftigkeit eines Rechtsmittels, sondern versagt dem Nebenkläger nur für einen bestimmten Fall die Beschwer (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 19. Oktober 1998, Az.: 3 Ws 464 – 466/98, Rn. 4; OLG Stuttgart, Beschluss vom 2. August 2002, Az.: 5 Ws 54/02, Rn. 5; OLG Naumburg, Beschluss vom 21. September 2001, Az.: 1 Ws 329/01, Rn. 12; OLG Jena, Beschluss vom 22. Januar 2010, 1 Ws 525/09, Rn. 12 ff.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 2. Oktober 2012, Az.: 4b Ws 25/12, Rn. 5, jeweils zit. nach juris). Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 464 Abs. 3 S. 1, 2. HS StPO kommt es jedoch nur auf die Statthaftigkeit an, sodass sonstige Zulässigkeitshindernisse außer Betracht bleiben.

Zwar betraf die Entscheidung des Senats vom 10. Februar 2021 konkret lediglich den Fall, dass die Berufung des Angeklagten nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen wurde und nicht die hier vorliegende Fallgestaltung, bei der die Berufungen der Angeklagten zurückgenommen wurden. Auch in diesem Fall wäre aber ein ohne die Berufungsrück-nahmen ergangenes Urteil der Berufungskammer für den Nebenkläger grundsätzlich gemäß § 401 StPO mit der Revision anfechtbar, sodass ein Rechtsmittel gegen die Hauptentscheidung und damit auch gegen die Kostenentscheidung statthaft gewesen wäre. Bei der aufgrund der Berufungsrücknahme ergangenen Kostenentscheidung kann nichts anderes gelten (OLG Hamburg, Beschluss vom 9. Juni 2015, Az.: 1 Ws 69/15, Rn. 6; OLG Hamm, Beschluss vom 12. Juli 2001, Az.: 2 Ws 141/01, Rn. 7; KG, Beschluss vom 26. Mai 2000, Az.: 3 Ws 112/00, jeweils zit. nach juris).

Der Wert des Beschwerdegegenstandes, der sich nach dem voraussichtlichen (Karlsruher Kommentar, StPO, 9. Aufl. 2023, § 304, Rn. 32 m. w. N., zit. nach beck-online) Kosten- und Auslagenbetrag bestimmt, dürfte den Wert von 200,- Euro (§ 304 Abs. 3 StPO) selbst dann übersteigen, wenn die Verfahrensgebühr des Nebenklägervertreters für das Berufungsverfahren gemäß Nr. 4124 VV RVG zuzüglich Auslagenpauschale und Umsatzsteuer wegen des bis zur Rücknahme eher geringen Umfangs der vom Nebenklägervertreter entfalteten Tätigkeit maßvoll bemessen wird.

Diese Gebühr ist auch schon entstanden…….“