Schlagwort-Archive: Mutterschutz

U-Haft I: Verfahrensverzögerung, oder: Kein Ersatz für Beisitzerin im Mutterschutz

entnommen wikimedia.org
Autor Irene – original work

Heute dann drei Haftentscheidungen.

Zu der ersten Entscheidung, die ich vorstelle, dem OLG Frankfurt a. M. , Beschluss vom 10.07.2019 – 1 HEs 215-217/19 – habe ich leider keinen Volltext, sondern nur die PM des OLG. An sich blogge ich ja nicht nur zu Pressemitteilungen, hier mache ich aber mal eine Aussnahme.

In der PM Nr. 39/2019 des OLG heißt es:

„Eine nicht gerechtfertigte und ausschließlich der Justiz zuzurechnende erhebliche Verfahrensverzögerung führt zur Entlassung von drei in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten, weil es an einem wichtigen Grund für die nur ausnahmsweise gerechtfertigte Anordnung der weiteren Haftfortdauer über sechs Monate hinaus fehlt, entschied das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) heute.

Das OLG hat im Rahmen eines Haftprüfungsverfahrens den Haftbefehl gegen drei Angeklagte aufgehoben, da das Verfahren beim Landgericht Darmstadt nicht dem Beschleunigungsgebot entsprechend gefördert wurde. Den Angeklagten und zwei weiteren Angeklagten, bei denen der Haftbefehl schon vorher außer Vollzug gesetzt worden war, wird besonders schwere räuberische Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung vorgeworfen. Nach § 121 Abs. 1 StPO darf Untersuchungshaft über sechs Monate ohne Urteilserlass nur aufrechterhalten werden, wenn „die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen“. Der Haftbefehl „ist“ nach Ablauf von sechs Monaten gem. § 121 Abs. 2 StPO aufzuheben, wenn keine wichtigen Gründe vorliegen. Das OLG betont, für das Vorliegen eines wichtigen Grundes sei maßgeblich, dass „alle zumutbaren Maßnahmen getroffen (wurden), um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und ein Urteil herbeizuführen“. Lägen vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen vor, könne das die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr rechtfertigen.

Hier fehle ein wichtiger Grund für die Anordnung der Haftfortdauer über sechs Monate hinaus, da das Verfahren nicht mit der erforderlichen Beschleunigung betrieben worden sei. Die zuständige Jugendkammer habe den fristgemäß anberaumten Hauptverhandlungstermin Mitte Mai nicht durchführen können, da das Präsidium des Landgerichts der Kammer nicht rechtzeitig Ersatz für die zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung im Mutterschutz befindliche Beisitzerin zugewiesen habe. Die Kammer sei deshalb zum Zeitpunkt des geplanten Termins nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen. Ein im Einvernehmen mit den Verteidigern abgestimmter neuer Termin zur Hauptverhandlung könne erst Mitte August stattfinden. Damit liege eine nicht gerechtfertigte Verfahrensverzögerung von drei Monaten vor.

Besetzungsfragen, oder: Der BGH und die Richterin im Mutterschutz

entnommen wikimedia.org Autor Irene - original work

entnommen wikimedia.org
Autor Irene – original work

Besetzungsfragen spielen in der Praxis immer wieder eine Rolle. Sie haben auch nicht nicht selten über eine Verfahrensrüge, mit der die falsche Besetzung des Gerichts (§§ 338 Nr. 1 StPO) geltend gemacht wird, Erfolg – wenn man es als Verteidiger in der Hauptverhandlung richtig vorbeitetet hat 🙂 . In die Gruppe „Besetzungsfragen“ gehört auch das BGH, Urt. v.  07.11.2016 – 2 StR 9/15 – für BGHSt vorgesehen -, mit dem der BGH die Frage entschieden hat, ob eine Strafkammer an einem Hauptverhandlungstag richtig besetzt war oder ob eine gesetzeswidrige Besetzung vorgelegen hat, weil eine Richterin teilgenommen hatte, die sich im sog. nachgeburtlichen Mutterschutz befunden hat. Der BGH sagt: Gesetzeswidrig Besetzung, denn:

b) Die Strafkammer hat den auch ihrem Beschluss vom 20. Februar 2014 zu Grunde gelegten Sachverhalt rechtsfehlerhaft bewertet. Sie war jedenfalls am 3. Januar 2014 falsch besetzt, weil die Berichterstatterin infolge des absoluten Dienstleistungsverbots aus § 6 Abs. 1 Satz 1 MuSchG in Verbindung mit § 2 HRiG, § 95 Nr. 1 HBG und § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 HMuSchEltZVO an der Mitwirkung in der Hauptverhandlung verhindert war.

aa) Es stand nicht im Belieben der von dem Dienstleistungsverbot betroffenen Richterin, ob sie in der Mutterschutzfrist an der Hauptverhandlung teilnehmen oder den Mutterschutz in Anspruch nehmen wollte. Auch der Spruchkörper konnte darüber nicht disponieren.

Das absolute Dienstleistungsverbot gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 MuSchG in Verbindung mit § 2 HRiG, § 95 Nr. 1 HBG und § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 HMu-SchEltZVO ist zwingendes Recht (vgl. BAG, Urteil vom 28. August 1960 – 1 AZR 202/59, BAGE 10, 7 ff.; LG Bremen, Beschluss vom 28. April 2010 – 22 Ks 210 Js 2251/09 in juris; Ambs in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Neben-gesetze, 207. Lfg., MuSchG Vorbem. Rn. 1; Buchner/Becker, Mutterschutz und Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz, 8. Aufl., § 6 MuSchG Rn. 12; BeckOK-ArbR/Schrader, 40. Ed., MuSchG § 6 Rn. 1, 7). Es steht weder zur Disposition des Dienstherrn noch konnte die Richterin darauf verzichten. Dem steht nicht entgegen, dass es der dienstleistenden Richterin anheim gegeben ist, ihrem Dienstherrn die Tatsachen der Schwangerschaft sowie der Entbindung bekannt zu geben. Die Schutzwirkung des § 6 MuSchG und das daraus folgende Beschäftigungsverbot setzen nicht eine Mitteilung der Mutter, sondern allein Kenntnis des Arbeitgebers beziehungsweise Dienstherrn voraus; ihm ist eine Beschäftigung der Mutter auch dann untersagt, wenn diese einer Dienstleistung zustimmt oder sie gar verlangt.

Die beisitzende Richterin durfte sich danach nicht freiwillig zur Dienstleistung in der Hauptverhandlung bereit erklären. Das Gesetz will durch die zwingende Anordnung eines Dienstleistungsverbots einen Entscheidungsdruck von der Mutter nehmen, ob sie freiwillig überobligatorischen Einsatz zeigen oder den gesetzlichen Mutterschutz in Anspruch nehmen will. Der nachgeburtliche Mutterschutz kommt deshalb in seinen Auswirkungen auf die Gerichtsbesetzung in der Hauptverhandlung einer Verhinderung wegen Dienstunfähigkeit gleich (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 16. Februar 2016 – III-3 RBs 385/15). Kann der Verhinderungsfall nicht durch Unterbrechung der Hauptverhandlung oder Eintritt eines Ergänzungsfalls überbrückt werden, ist das Gericht in der strafprozessualen Hauptverhandlung, für die – anders als in anderen Prozess-ordnungen – das Gebot der Kontinuität des Quorums und Anwesenheit der für das Urteil zuständigen Richter gemäß § 226 StPO gilt, nicht vorschriftsgemäß besetzt (vgl. SK-StPO/Frister, 5. Aufl., § 192 GVG Rn. 10).

Konnte die Hauptverhandlung nicht im Rahmen der gesetzlichen Unterbrechungsfristen gemäß § 229 StPO mit der Richterin fortgesetzt werden und wurde eine die Mutterschutzfrist beachtende Unterbrechung nicht angeordnet, war von einer Verhinderung der Richterin an der weiteren Mitwirkung in der Hauptverhandlung auszugehen. Da diese Folge auf einer gesetzlichen Regelung beruht, wurde zugleich in den Schutzbereich des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG eingegriffen (vgl. BGH, Urteil vom 8. März 2016 – 3 StR 544/15, NStZ 2016, 557 mit Anm. Ventzke; Norouzi in Festschrift für von Heintschel-Heinegg, 2015, S. 349, 352 f.).

bb) Hiervon wurden die Angeklagten in ihrem Rechtskreis betroffen. Der Schutzzweck des Mutterschutzgesetzes, der die Gesundheit von Mutter und Kind im Auge hat, ändert nichts an diesen prozessualen Folgen des Dienstleistungsverbots. Ebenso wenig kann aus der Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in welcher Frauen heute häufiger als zum Zeitpunkt des Gesetzes-Erlasses Tätigkeiten nachgehen, die eine Gesundheitsgefährdung von Mutter und Kind nicht (mehr) ohne weiteres besorgen lassen, eine Einschränkung des zwingenden Gesetzesbefehls hergeleitet werden. Dasselbe gilt für den Umstand, dass bei freiberuflich tätigen Frauen – also etwa auch bei Rechtsanwältinnen in demselben Strafverfahren – die Vorschriften des MuSchG gar nicht anwendbar sind, eine mögliche Schutzfrist hier also allein im Belieben der Betroffenen steht.

Nach dem Gesetzlichkeitsprinzip aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darf es, soweit die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 MuSchG gegeben sind, angesichts der zwingenden gesetzlichen Regelung nicht vom Willen der Richterin abhängig sein, ob sie weiter an der Hauptverhandlung mitwirkt oder das Dienstleistungsverbot befolgt. Andernfalls wäre auch in einer Hauptverhandlung, in der ein Ergänzungsrichter im Sinne von § 192 Abs. 2 GVG zur Verfügung steht, dessen Eintritt in das Quorum vom willkürlichen Bejahen oder Fehlen der Bereitschaft der Richterin zum überobligationsmäßigen Einsatz abhängig. Das wäre mit dem Gebot der Bestimmtheit der gesetzlichen Mitwirkungszuständigkeit gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unvereinbar…..“

Mutterschutz, Mutterschutz, oder: Man kann ein Urteil auch noch nach 7 Monaten unterzeichnen…

© Stefan Rajewski Fotolia .com

© Stefan Rajewski Fotolia .com

Sicherlich nicht alltäglich ist/war die Fallgestaltung, über die das OLG Hamm im OLG Hamm, Beschl. v. 16.02.2016 – 3 RBs 385/15 – zu entscheiden hatte. Es geht um Mutterschutz und die Frage der Unterzeichnung des Urteils. In einem Bußgeldverfahren war das nach eintägiger Hauptverhandlung am 20.03.2015 verkündete Urteil erst am 02.10.2015 in schriftlicher Form mit Gründen und Unterschrift zu den Akten gelangt. Ebenfalls vom 02.10.2015 datiert ein Vermerk der entscheidenden Richterin, der wie folgt lautet:

„Am 20.04.2015 musste ich stationär ins Krankenhaus. Im direkten Anschluss erhielt ich ein individuelles Beschäftigungsverbot. Hiernach folgte die Mutterschutzzeit, die bis zum 11.09.2015 andauerte. Insofern war mir eine frühere Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe nicht möglich“.

Die auf eine Verletzung des § 275 StPO gestützte Verfahrensrüge hatte beim OLG keinen Erfolg- Die Leitsätze der OLG-Entscheidung:

  1. Das individuelle Beschäftigungsverbot und die Mutterschutzfristen stehen in ihren Auswirkungen der Dienstunfähigkeit infolge Erkrankung eines Richters, für die die Anwendung des § 275 Abs. 1 S. 4 StPO in Rechtsprechung und Literatur anerkannt ist, gleich.
  2. Eine Dienstpflicht der Richterin, während der bewilligten Elternzeit das schriftliche Urteil zu fertigen, besteht nicht; die im Rahmen einer überobligatorischen Leistung der Richterin gefertigten Urteilsgründe können daher nicht unter Verstoß gegen § 275 Abs. 1 StPO zu den Akten gebracht worden sein.
  3. Eine Höchstfrist für die nach § 275 Abs. 1 S. 4 StPO gerechtfertigte Fristüberschreitung lässt sich dem Gesetzeswortlaut nicht entnehmen; eine an dem Gesetzeszweck der §§ 275 Abs. 1, 338 Nr. 7 StPO orientierte Auslegung zwingt ebenfalls nicht zu der Annahme, nach Ablauf einer mit etwa einem Jahr zu bemessenden Fristüberschreitung sei das Urteil auf die Verfahrensrüge hin zwingend aufzuheben.

Zu Leitsatz 3 führt das OLG aus:

(4) Auch die absolute Zeitdauer zwischen der Verkündung des Urteils und der Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe führt vorliegend nicht zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils.

(a) In Literatur und Rechtsprechung wird in diesem Zusammenhang vertreten, die Fristüberschreitung dürfe sich im Rahmen des § 275 Abs. 1 S. 4 StPO nur auf ein „vertretbares Maß“ im Sinne von Tagen oder wenigen Wochen beschränken, so dass eine Fristüberschreitung um fast ein Jahr nicht mehr hinnehmbar sei und zur Aufhebung nach § 338 Nr. 7 StPO führe (LR-Stuckenberg, StPO, 26. Aufl., § 275, Rdnr. 13; Julius in: Gercke/Julius/Temming u.a., StPO, 5. Aufl., § 275, Rdnr. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 275, Rdnr. 12; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 14. Mai 2004 – 1 Ss 85/04, […], Rdnr. 3; Thüringer OLG, Beschluss vom 8. April 2013 – 1 Ss Bs 8/13 (43), […], Rdnr. 6). In den zitierten Entscheidungen wird in diesem Zusammenhang auf den unzweifelhaft bestehenden Ausnahmecharakter der Regelung des § 275 Abs. 1 S. 4 StPO verwiesen. Ergänzend wird angeführt, der Ausgestaltung der Fristüberschreitung als absoluter Revisionsgrund nach § 338 Nr. 7 StPO liege der Gedanke zugrunde, dass durch die Verzögerung der Urteilsabsetzung die Zuverlässigkeit, mit der die schriftlichen Urteilsgründe das Beratungsergebnis beurkundeten, gefährdet sei. Auch und gerade bei kleineren Verfahren bzw. Ordnungswidrigkeitenverfahren, die oft gleichgelagert seien, sei damit zu rechnen, dass das Erinnerungsbild des Richters schnell verblasse, weshalb ein Zeitraum von nahezu einem Jahr zwischen Urteilsverkündung und schriftlicher Urteilsabsetzung – auch unter Berücksichtigung der Belange der von der Entscheidung Betroffenen – nicht mehr tragfähig erscheine und zur Urteilsaufhebung führen müsse (Thüringer OLG, Beschluss vom 8. April 2013 – 1 Ss Bs 8/13 (43), […], Rdnr. 6; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 14. Mai 2004 – 1 Ss 85/04, […], Rdnr. 3).

(b) Diese Auffassung teilt der Senat in dieser Allgemeinheit nicht. Eine Höchstfrist für die nach § 275 Abs. 1 S. 4 StPO gerechtfertigte Fristüberschreitung lässt sich dem Gesetzeswortlaut nicht entnehmen. Eine an dem Gesetzeszweck der §§ 275 Abs. 1, 338 Nr. 7 StPO orientierte Auslegung zwingt ebenfalls nicht zu der Annahme, nach Ablauf einer mit etwa einem Jahr zu bemessenden Fristüberschreitung sei das Urteil auf die Verfahrensrüge hin zwingend aufzuheben.

(aa) Die Auffassung, die Regelung des § 275 Abs. 1 S. 4 StPO erlaube nur Fristüberschreitungen in einem überschaubaren Rahmen von Tagen oder wenigen Wochen, findet in den Gesetzesmaterialien keine hinreichende Stütze. Die Vorschriften in §§ 275 Abs. 1, 338 Nr. 7 StPO sind mit dem am 11. Dezember 1974 verkündeten Ersten Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRG) am 1. Januar 1975 in Kraft getreten. Nach § 275 Abs. 1 StPO des bis dahin geltenden Rechts war das Urteil mit den Gründen binnen einer Woche nach der Verkündung zu den Akten zu bringen, wobei es sich um eine Soll-Vorschrift handelte. Die Vorbereitung des 1. StVRG reicht bis in das Jahr 1970 zurück. Ein im Bundesjustizministerium erarbeiteter Regierungsentwurf (BT-Drucks. VI/3478) wurde in der 6. Wahlperiode im April 1972 erstmals den gesetzgebenden Körperschaften zugeleitet, wegen der vorzeitigen Auflösung des Bundestages im Herbst 1972 aber nicht mehr beraten. Den nur wenig veränderten Entwurf (BT-Drucks. 7/551) brachte die Bundesregierung in der 7. Wahlperiode im Frühjahr 1973 erneut ein. Die hier in Frage stehenden Regelungen zur Bestimmung einer neuen, zwingenden Frist zur Absetzung der schriftlichen Urteile in Strafsachen haben dabei im Zuge der parlamentarischen Beratungen im Vergleich zu den Gesetzentwürfen keine wesentlichen Änderungen erfahren und sind seit ihrem Inkrafttreten unverändert. Lediglich die Vorschrift des § 275 Abs. 1 S. 2 StPO wurde aufgrund eines entsprechenden Anliegens des Bundesrates sprachlich anders gefasst als von der Bundesregierung zunächst vorgeschlagen (BT-Dr. 7/2600, S. 7, 36). Erklärtes Ziel der Neuregelung war nach den Gesetzesmaterialien eine Beschleunigung des Verfahrens und eine Abkürzung der Fristen, innerhalb derer schriftliche Urteile in Strafverfahren zu den Akten gebracht werden. Dazu war eine Auswertung von Revisionsverfahren vorgenommen worden, über die der Bundesgerichtshof entschieden hatte. Die in den Begründungen beider Regierungsentwürfe ebenfalls erwähnte Absicht, auch sicherzustellen, dass die Gründe besser mit dem Beratungsergebnis übereinstimmen, tritt demgegenüber erkennbar zurück (so auch Rieß, Die Urteilsabsetzungsfrist (§ 275 I StPO), NStZ 1982, S. 441, Rdnr. 8). Eine Höchstfrist für die Überschreitung der durch unabwendbare Ereignisse gerechtfertigten Urteilsabsetzungsfrist spielte bei den parlamentarischen Beratungen zu § 275 Abs. 1 S. 4 StPO nach der vorliegenden Dokumentation keine Rolle. Im Gegenteil hat der Gesetzgeber durch die gleichzeitig geschaffene Regelung in § 275 Abs. 1 S. 2 StPO, die gestaffelte Fristen für die Urteilsabfassung vorsieht, gezeigt, dass er durchaus Vertrauen in das Erinnerungsvermögen der erkennenden Richter an das Ergebnis Hauptverhandlung und der Beratungen auch nach langem Zeitablauf seit Verkündung des Urteils hat. Denn mit dieser Regelung wurde bewusst in Kauf genommen, dass das schriftliche Urteil nach lang andauernden Strafverfahren mit vielen Hauptverhandlungstagen unter Umständen erst nach Wochen oder Monaten zu den Akten gelangt. In der Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung ist ein Beispielfall zitiert, wonach dann, wenn an mehr als 90, aber an nicht mehr als 100 Tagen verhandelt worden ist, insgesamt 25 Wochen für die Urteilsabsetzung zur Verfügung stehen (BT-Drucks. 7/551, S. 84, 85). Eine absolute Höchstfrist für die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe hat der Gesetzgeber dabei nicht vorgesehen.“

Überzeugt mich nicht so ganz. Denn die Begründungen und auch das zitierte Beispiel haben die landgerichtlichen Verfahren im Blick. Da sind aber am schriftlichen Urteil bei den großen Strafkammern, um die es geht/ging, meist zwei oder drei Berufsrichter beteiligt, die sich erinnern können…

Die stillende Polizistin, oder: „Stopp, muss mal eben stillen“?

entnommen wikimedia.org Autor Irene - original work

entnommen wikimedia.org
Autor Irene – original work

Durch eine Nachricht bei LTO bin ich vor einiger Zeit auf den VG Frankfurt/Oder, Beschl. v. 02.12.2015 – VG 2 L 882/15 – aufmerksam geworden. Bei LTO gepostet unter: Pausen für stillende Polizistin – Eine Stunde am Tag muss sein... Den Beschluss habe ich beim VG angefordert und den Volltext jetzt erhalten. Ergangen ist der Beschluss in einem Eilverfahren, in dem die Polizeibeamtin mit ihrem Dienstherrn um Stillzeiten streitet. Die Polizeibeamtin hatte am 23.07.2015 die Bewilligung von Stillzeiten in Höhe von einer Stunde täglich für ihren am 07.07.2014 geborenen Sohn H. beantragt. Das Polizeipräsidium des Landes Brandenburg hatte den Antrag abgelehnt, da der Anspruch gemäß § 7 MuSchG nicht auf unbestimmte Zeit bestehe. Zwar sei eine zeitlich festgelegte Obergrenze im Gesetz nicht vorgesehen, dennoch sei davon auszugehen, dass der Gesetzgeber einen bezahlten Freistellungsanspruch ganz ohne zeitliche Begrenzung nicht gewollt habe, so dass davon auszugehen sei, dass eine Verpflichtung des Arbeitgebers zur Freistellung der stillenden Mütter spätestens dann nicht mehr gegeben sei, wenn das Kind das erste Lebensjahr vollendet habe.

Das sieht das VG aber anders und hat daher den Dienstherrn im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Polizeibeamtin zum Abstillen, weitere Stillzeiten, längstens bis zum 31.03.2016, zu gewähren. Denn:

„Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Gemäß § 7 Abs. 1 MuSchG ist stillenden Müttern auf ihr Verlangen die zum Stillen erforderliche Zeit, mindestens aber zweimal täglich eine halbe Stunde oder einmal täglich eine Stunde freizugeben. Bei einer zusammenhängenden Arbeitszeit von mehr als 8 Stunden soll auf Verlangen zweimal eine Stillzeit von mindestens 45 Minuten oder, wenn in der Nähe der Arbeitsstätte keine Stillgelegenheit vorhanden ist, einmal eine Stillzeit von mindestens 90 Minuten gewährt werden. Gemäß § 7 Abs. 2 MuSchG darf durch die Gewährung der Stillzeit kein Verdienstausfall eintreten. Die Stillzeit darf von stillenden Müttern nicht vor- oder nachgearbeitet und nicht auf die in dem Arbeitszeitgesetz oder in anderen Vorschriften festgesetzten Ruhepausen angerechnet werden.

Es ist nicht Ziel von § 7 MuSchG, stillenden Beamtinnen allgemein eine Entlastung durch Verminderung ihrer Arbeitszeit zu gewähren. Vielmehr erstrebt die Vorschrift einen sachgerechten Ausgleich zwischen dem hergebrachten und in Art. 33 Abs. 5 GG verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz der vollen Dienstleistungspflicht des Beamten und der damit korrelierenden Alimentationspflicht des Dienstherrn einerseits und der gleichfalls hergebrachten Fürsorgepflicht des Dienstherrn sowie dem allgemeinen Schutzanspruch jeder Mutter nach Art. 6 Abs. 4 GG andererseits (BVerwG, Urteil vom 30. Juni 1988 – 2 C 60.86 -, BVerwGE 79, 366). Eine Freistellung von der Arbeitsleistung zum Zweck des Stillens nach § 7 Abs. 1 MuSchG kann daher nur erfolgen, wenn eine Arbeitsleistung erbracht wird (vgl.: BVerwG, a. a. O. unter Bezugnahme auf BAG, Urteil vom 3. Juli 1985 – 5 AZR 79/84 -, juris).

Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 MuSchG liegen für die begehrte Zeit bis 31. März 2016 bzw. zu dem Abstillen vor. Entgegen der Ansicht des Antragsgegners ist die Vorschrift nicht auf die Vollendung des ersten Lebensjahres des Kindes begrenzt. Maßgeblich ist nur, dass die Mutter stillt. Die Vorschrift enthält auch nicht den Begriff des „Säuglings“. Eine entsprechende Einschränkung der Vorschrift kann nach der Wesentlichkeitstheorie, wonach alle wesentlichen Entscheidungen durch den Gesetzgeber selbst zu treffen sind und nicht der Verwaltung überlassen werden dürfen (vgl. BVerfGE 49, 8; 84, 212, 226), nur der Gesetzgeber treffen. Der Umstand, dass der Gesetzgeber bislang auf eine zeitliche Einschränkung verzichtet hat, spricht gerade dafür, dass nur maßgeblich ist, dass die Mutter noch stillt und eine entsprechende Zeit dafür beansprucht.“

Wie es praktisch geht, kann ich mir nicht vorstellen… Nimmt die Polizeibeamtin den Sohn mit zum Dienst? Klinkt sie sich ggf. bei einem Einsatz aus mit den Worten: „Stopp, muss mal eben stillen“? Oder wie sonst wird das Stillen gestaltet? Nur Innendienst?