Schlagwort-Archive: LG Wiesbaden

OWi I: Umsetzung von BVerfG 2 BvR 1616/18, oder: OLG Jena macht es richtig

entnommen wikimedia.org
Urheber Jepessen

Heute dann ein Tag mit OWi-Entscheidungen.

Und ich beginne mit zwei Entscheidungen zur Umsetzung des Beschlusses des BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18. Daran arbeiten sich die Gerichte ja gerade ab. Hier eine OLG-, und eine LG-Entscheidung, einmal positiv, einmal negativ.

Zunächst dann der Hinweis auf den OLG Jena, Beschl. v. 17.03.2021 – 1 OLG 331 SsBs 23/20, über den ja auch schon der Kollege Gratz berichtet hat. Der Betroffene hatte in einem Verfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung, dem eine Messung mit Poliscan zugrunde gelegen hat,  Einsicht in Messunterlagen verlangt. Die war ihm nicht gewährt worden. Das OLG hat auf die Rechtsbeschwerde hin aufgehoben:

„d) Hiervon ausgehend, ist der Betroffene durch die Vorenthaltung der mit seiner verfahrensgegenständlichen Messung in Zusammenhang stehenden Messreihe, d. h. der gesamten am Tattag an der Messstelle zum Nachweis von Verkehrsverstößen angefallenen und gespeicherten digitalen Falldatensätze (vgl. OLG Koblenz, Beschl. v. 17.06,2018, Az. 1 OWi 6 SsBs 19/18, bei juris) in seinem Anspruch auf faire Verfahrensgestaltung verletzt worden.

aa) Nach dem i. S. v. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zulässigen, durch die Sachakte bestätigen Rügevorbringen hat die Verteidigung mit Schriftsatz vom 16.04.2019 gegenüber der Bußgeldbehörde die bis zu diesem Zeitpunkt gewährte Akteneinsicht als unvollständig beanstandet und vergeblich u. a. die noch ausstehende Überlassung der gesamten Messserie gefordert, das hierauf bezogene Einsichtsbegehren mit- durch Beschluss des Amtsgerichts Gera vom 25.06.2019 zurückgewiesenem – Antrag auf gerichtliche Entscheidung weiter verfolgt und ihren – mit einem Aussetzungsantrag verbundenen – Antrag auf Überlassung der Messreihe in der Hauptverhandlung vom 12.12.2019 – wiederum erfolglos – wiederholt.

Zur Begründung hat die Verteidigung jeweils geltend gemacht, dass der Betroffene den gegen ihn erhobenen Tatvorwurf auf breiterer Grundlage prüfen und insbesondere nach etwaigen, allen Messungen anhaftenden, aber der Messung des Betroffenen nicht zu entnehmenden Fehlern suchen wolle, die die Messbeständigkeit des Gerätes in Frage stellen könnten, und nach denkbaren, auf einen Umbau oder eine ungewollte Neuausrichtung während des Messbetriebes hindeutenden Veränderungen der Bildausschnitte.

bb) Dem Betroffenen stand gegenüber der Bußgeldbehörde ein aus dem Recht auf faire Verfahrensgestaltung resultierender Anspruch auf die am Tattag an der ihn betreffenden Messstelle generierten Falldateien anderer Verkehrsteilnehmer zu, weil die geforderten Informationen in sachlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dem ihm angelasteten Geschwindigkeitsverstoß stehen und aus Sicht des Betroffenen für die Beurteilung der Erfolgsaussichten seiner Verteidigung bedeutsam sein können.

Die Kenntnis der dort zeitnah gewonnenen Messdaten, die sich nicht auf die ihm vorgeworfene Tat beziehen, verschafft dem Betroffenen eine breitere Grundlage für die Prüfung, ob im konkreten Fall tatsächlich ein standardisiertes Messverfahren ordnungsgemäß zur Anwendung gekommen ist und das Messgerät fehlerfrei funktioniert hat (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.07.2015, Az. IV-2 RBs 63/15; KG Berlin, Beschl. v. 05.12.2018, Az. 3 Ws (B) 266/18, bei juris), indem sie anhand der Daten, die im zeitlichen Zusammenhang mit seiner Messung an gleicher Stelle erhoben worden sind, die Suche nach Hinweisen auf etwaige Fehlfunktionen des Messgeräte oder Fehler bei der Durchführung eröffnet, die eventuell Rückschlüsse auf die Fehlerhaftigkeit auch der eigenen Messung erlauben (OLG Düsseldorf; a. a. O.). Dass ein die Messreihe insgesamt betreffender Fehler, der sich in anderen Dateien abbildet, aus der Messdatei des konkreten Verkehrsverstoßes ebenfalls hervorgehen müsste (so OLG Koblenz, a. a. O.), trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. Bestimmte Auffälligkeiten wie etwa fehlende Vollständigkeit der Aufnahmen, Unregelmäßigkeiten bei der Dateneinblendung, eine hohe Anzahl verworfener Messungen, Stellungs- oder Standortveränderungen des Messgerätes, stark abweichende Positionen mehrerer der aufgenommenen Fahrzeuge zur Fotolinie oder gehäuftes Auftreten unsinniger Messergebnisse sind für den Betroffenen bzw. einen von ihm beauftragten Sachverständigen nur durch Betrachtung aller Aufnahmen zu ermitteln (Cierniak, Prozessuale Anforderungen an den Nachweis von Verkehrsverstößen, zfs 2012, 664, 672). Ein dahingehendes, das Einsichtsgesuch legitimierendes Interesse hat der Betroffene jeweils vorgetragen.

cc) Die vom Bundesverfassungsgericht für die Gewährung des Informationszugang geforderte Relevanz der begehrten Informationen für die Verteidigung lässt sich nicht mit der Erwägung verneinen, dass aus der Betrachtung der gesamten Messreihe ohnehin kein für die Beurteilung der Verlässlichkeit der den Betroffenen betreffenden Einzelmessung erheblichen Erkenntnisse gezogen werden könnten (so BayObLG, Beschl. v. 04.01.2021, a. a. O.). Die insoweit erhobenen Einwände, dass die Messreihe selbst bei einer Einzelmessung, die aus dem Bereich der üblicherweise am Messort festgestellten (überhöhten) Geschwindigkeiten deutlich herausrage, “keine verwertbare Aussage bringe”, weil geringe Geschwindigkeitsüberschreitungen vieler Verkehrsteilnehmer nicht ausschließen, dass jemand auch deutlich schneller unterwegs gewesen sein könne (PTB, “Der Erkenntniswert von Statistikdatei, gesamter Messreihe und Annullationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung”, Stand 30.03.2020; BayObLG, Beschl. v. 04.01.2021, Az. 202 ObOWi 1532/20, bei juris), oder dass eine etwa feststellbare hohe Annullierungsrate keinen Anhalt dafür biete, dass gerade die nicht verworfene Messung im Einzelfall fehlerhaft sei, sondern gerade für die Richtigkeit dieser Messung spreche, die trotz funktionierender Selbstkorrektur des Gerätes keinen Anlass zur Verwerfung gegeben habe (PTB, a. a. O.; OLG Frankfurt, Beschl v. 26.08.2016, Az. 2 Ss- OWi 589/16; OLG Koblenz, Beschl. v. 17.07.2018, Az. 1 OWi 6 SsBs 19/18; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 27.10.2020, Az. 1 OWi 2 SsBs 103/20; bei juris), reichen nicht aus, um schon die Möglichkeit etwa aus der Messreihe insgesamt abzuleitender Entlastungsmomente schlechthin auszuschließen und der Messreihe von vornherein eine potentielle Beweiserheblichkeit abzusprechen.

Ob bestimmte Informationen für die Verteidigung von Bedeutung sein können, unterliegt allein ihrer Einschätzung (BGH, Beschl. v. 04.10.2007, Az. KRB 59/07 [(Kartellbußgeldverfahren]), bei juris), wobei sie – wie in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich dargelegt – auch rein theoretischen Entlastungsmöglichkeiten nachgehen kann. Dass die dem Gericht obliegend Aufklärungspflicht sich nicht auf Ermittlungen erstreckt, “die sich auf die nur theoretische, nicht tatsachengestützte Möglichkeit einer Entlastung gründen”, so dass der Betroffene derartige Ermittlungen vom Gericht nicht verlangen kann (vgl. OLG Koblenz, Beschl. v. 17.07. 2018, a. a. O.), ist für den Umfang des vorgelagerten Informationsanspruchs des Betroffenen gegenüber der Behörde ohne Belang.

Ob anhand des Messfilms ermittelte Auffälligkeiten (für sich genommen oder auch erst bei einem etwaigen Zusammentreffen) geeignet sind, die einer Messung im Standardisierten Messverfahren zugebilligte Beweiskraft zu erschüttern, oder ob das Gericht sich dennoch vom Geschwindigkeitsverstoß überzeugen kann, ist letztlich eine Frage der Beweiswürdigung im Einzelfall.

dd) Das Einsichtsrecht in verfahrensfremde Messdaten lässt sich auch nicht wegen entgegenstehender Interessen der betreffenden Verkehrsteilnehmer ablehnen.

Zwar enthält jede weitere Falldatei ein digitales Beweisfoto mit personenbezogenen Informationen in Form des Fahrzeugs, seines Kennzeichens und einer Abbildung des Fahrers, aus der sich nicht nur ableiten lässt, das er einen bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt passiert hat, sondern auch, dass dies höchstwahrscheinlich mit überhöhter Geschwindigkeit geschehen und er deshalb in einem anderweitigen Bußgeldverfahren dem Vorwurf einer von ihm begangenen Ordnungswidrigkeit ausgesetzt ist (vgl. OLG Koblenz, a. a. O.).

Gegenüber der gebotenen Wahrheitsermittlung im Strafverfahren sind die Persönlichkeitsrechte Dritter regelmäßig nachrangig (BVerfG, Beschl. v. 12.01.1983, Az. 2 BvR 864/81, bei juris); dem diesbezüglichen Interesse des Betroffenen auch im Bußgeldverfahren ist deshalb ebenfalls erhebliches Gewicht beizumessen, selbst wenn man diesem Interesse wegen der geringeren Schwere des erhobenen Vorwurfs und der drohenden Sanktionen nicht schlechthin Vorrang einräumt. Bei der vorzunehmenden Abwägung mit dem Persönlichkeitsrecht der anderen, in der Messserie abgebildeten Verkehrsteilnehmer ist demgegenüber zu berücksichtigen, dass diese sich durch ihre Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr selbst der Wahrnehmung und Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer und der Kontrolle ihres Verhaltens durch die Polizei ausgesetzt haben und der festgehaltene Lebenssachverhalt jeweils auf einen sehr kurzen Zeitraum begrenzt ist, so dass die Aufzeichnung nicht dem Bereich der engen Privatsphäre berührt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.05.2011, Az. 2 BvR 2072/10, bei juris). Es kann daher für diese Personen keinen tiefgreifenden Eingriff in ihr Persönlichkeitsrecht darstellen, wenn sie im Zusammenhang mit einer polizeilichen oder ordnungsbehördlichen Maßnahme mit einer äußerst geringen Wahrscheinlichkeit dem Risiko ausgesetzt sind, zufällig erkannt zu werden (Krumm, Fahrverbot in Bußgeldsachen, § 5 (Regel-)Fahrverbots-Ordnungswidrigkeiten des § 25 Abs. 1 S. 1 StVG Rn. 12, beck-online). Die konkrete Gefahr einer nachhaltigen Bloßstellung Dritter, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts trotz des anzuerkennenden Entlastungsinteresses des Betroffenen die Zurückhaltung verfahrensfremder Informationen rechtfertigen kann, ist deshalb nicht zu besorgen. Das gilt auch deshalb, weil die Messdaten lediglich an den Verteidiger und einen von ihm beauftragten Sachverständigen herausgegeben werden, was datenschutzrechtliche Bedenken weiter verringert (vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07.2019, 1 Rb 10 Ss 291/19; LG Köln Beschl. v. 11.10.2019, 323 Qs 106/19, bei juris). Das Interesse der in den Falldateien der Messreihe erfassten sonstigen Verkehrsteilnehmer muss daher gegenüber dem aus dem fair-trial-Anspruch resultierenden Einsichtsrecht des Betroffenen zurückstehen.“

Und dann noch – negativ – der LG Wiesbaden, Beschl. v. 24.02.2021 – 3 Qs 2/21. Das LG hat eine Beschwerde gegen die Versagung der Einsicht durch das (erkennende) AG unter Hinweis auf § 305 StPO als unzulässig angesehen. Die Ablehnung der Einsichtnahme in Unterlagen, wie z.B.  Messreihe, Lebensakte usw.,  sei zwar grundsätzlich geeignet, den Betroffenen möglicherweise in seinem Recht auf ein faires Verfahren zu verletzen. Zur Geltendmachung des Verstoßes sei er aber auf das Rechtsbeschwerdeverfahren zu verweisen. Das steht m.E. mit den Grundsätzen der Entscheidung des BVerfG, wenn man mit denen Ernst mnachen will, nicht in Einklang. Und: Was soll ich nach der Hauptverhandlung noch mit den Daten/Unterlagen?

Pflichti II: Nachträgliche Bestellung?, oder: Ja, denn an sich muss „zeitnah“ entschieden werden

© santi_ Fotolia.com

Die zweite Pflichtverteidigungsentscheidung aus dem Themenkreis: Nachträgliche Bestellung, kommt mit dem LG Wiesbaden, Beschl. v. 04.03.2020 – 1 Qs 8/20 u. 1 Qs 10/20 – vom LG Wiesbaden. Auch hier hatte das AG den Antrag des Verteidigers abgelehnt, weil die Voraussetzungen des § 140 StPO nach Auffassung des AG nicht vorlagen. Anders das LG, das auch „rückwirkend bestellt“:

„Eine rückwirkende Bestellung, um welche es sich für das Ursprungsverfahren mit dem Aktenzeichen 2250 Js 19804/19 handelt, ist zwar nach der weit überwiegenden Rechtsprechung der Oberlandesgerichte unzulässig und unwirksam (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt — Schmitt, 62. Aufl., § 141 StPO Rn. 8 m. w. N.), da die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht dem Kosteninteresse des Angeklagten oder seines Verteidigers dient. Die Beiordnung verfolgt allein den Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Angeklagter in entsprechenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der Verfahrensablauf gewährleistet wird (Meyer-Goßner/Schmitt — Schmitt a.a.O.).

Die angenommene Unzulässigkeit einer rückwirkenden Pflichtverteidigerbestellung darf jedoch nicht ausnahmslos gelten. Der Gesetzgeber sieht gegen die Versagung einer Beiordnung ein Rechtsmittel vor. Die dem Beschuldigten hierdurch kraft Gesetzes gewährte Überprüfungsmöglichkeit darf ihm nicht dadurch entzogen werden, dass das Gericht schlicht untätig bleibt und der Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung durch Abtrennung des Verfahrens oder Einstellung des Verfahrens überholt wird Der verfassungsrechtlich garantierte Grundsatz des fairen Verfahrens gemäß Artikel 20 Absatz 3 GG gebietet es. dass der Antrag des Verteidigers auf Beiordnung zeitnah entschieden wird (LG Dresden. Beschluss vom 06. Januar 2011 — 3 Qs 174/10 —, Rn. 31 – 6, im Ergebnis ebenso OLG Stuttgart. Justiz 2010, 378 f; Landgericht München Beschluss vom 21.01. 2014. Az. 22 Qs 5/14. Landgericht Halle Beschluss vom 28.12.2009, Az. 6 Qs 68109).

Die Anwendung dieser Grundsätze führt vorliegend zur Aufhebung des Ablehnungsbeschlusses. Der Antrag auf Beiordnung war rechtzeitig angebracht und auch entscheidungsreif. Rechtsanwalt pp. hat erstmals mit Schriftsatz vom 21.11.2019 seine Bestellung als Pflichtverteidiger des Angeklagten beantragt; einen gleichlautenden Antrag stellte die Staatsanwaltschaft Wiesbaden zudem in ihrer Begleitverfügung zur Anklage vom 22.07.2019. Auf die Beschwerde des Angeklagten gegen die unterbliebene Pflichtverteidigerbestellung vom 27.11.2019 reagierte das Amtsgericht Wiesbaden, indem es das Verfahren gegen den Angeklagten von dem Verfahren gegen den Mitangeklagten pp. mit Beschluss vom 28.11.2019 abtrennte und mit Beschluss vom gleichen Tag den Antrag von Rechtsanwalt pp. auf Bestellung als notwendiger Verteidiger zurückwies. Wenn über die Beschwerde, sei es durch eine Abhilfeentscheidung oder nach der Vorlage an das Beschwerdegericht, unverzüglich entschieden worden wäre. hätte die letztlich durch Untätigkeit des Gerichts erfolgte Ablehnung der Pflichtverteidigerbestellung zumindest durch das Beschwerdegericht korrigiert werden können. bevor das Verfahren abgetrennt wurde.

Entscheidend für eine zulässige Ausnahme einer rückwirkenden Pflichtverteidigerbestellung ist demnach, dass zum Zeitpunkt des rechtzeitig gestellten und entscheidungsreifen Antrages auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers die Voraussetzungen des § 140 StPO vorlagen.

Diese Voraussetzungen waren vorliegend gegeben.

Zum Zeitpunkt der Antragstellung war dem Angeklagten pp. ein Verteidiger bereits aus dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat gemäß § 140 Abs. 2 S. 1 StPO beizuordnen. Eine Tat ist in der Regel dann als “schwer“ gem. § 140 Abs. 2 StPO anzusehen, wenn eine Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr zu erwarten ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 14. November 2000 – 2 Ss 1013/2000). Der Angeklagte ist des gemeinschaftlichen Diebstahls, wobei einer der Beteiligten ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führte. angeklagt. Ausweislich der Anklageschrift weist der Auszug aus dem Bundeszentralregister vom 18.6.2019 für den Angeklagten bereits 4 Eintragungen auf. Angesichts des Anklagevorwurfes und der Vorstrafen ist eine Strafe von einem Jahr oder mehr zu erwarten. Ferner besteht eine die Beiordnung rechtfertigende schwierige Sachlage, weil es vorliegend zur sachdienlichen Verteidigung gehört, dass der Akteninhalt bekannt ist. Dieser ist aber nur dem Verteidiger zugänglich, so dass in diesem Falle die Bestellung des Pflichtverteidigers unumgänglich ist (OLG Frankfurt. Beschluss vom 31. März 2009 — 3 Ws 271/09 —, Rn. 4). In den Akten befindet sich die CD mit der Videoaufzeichnung der Tat. die für die Frage der Täterschaft ein wesentliches Beweismittel darstellt. Ferner befinden sich in der Akte die Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin und die ärztlichen Berichte über die Entnahme der Blutprobe, die für die Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten Bedeutung erlangen können.

Aufgrund dieser Umstände, die nach wie vor gegeben sind, ist auch für das abgetrennte Verfahren mit dem Aktenzeichen 2250 Js 10360/20, welches in der Beschwerde vorgelegt wurde, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers notwendig.“

U-Haft III: Außervollzugsetzung des Haftbefehls, oder: 2/3-Verbüßung

© psdesign1 – Fotolia.com

Und zum Tagesschluss dann der LG Wiesbaden, Beschl. v.  14.06.2019 – 6 KLs 4440 Js 17203/16, den mir der Kollege T. Hein aus Bad Vilbel geschickt hat.

Der Beschluss lautet kurz und zackig:

„…..

Nachdem der Angeklagte 2/3 der Strafe im Wege der Untersuchungshaft verbüßt hat, kann der weiterhin bestehenden Fluchtgefahr durch geeignete Maßnahmen ausreichend begegnet werden. Daher war der Haftbefehl entsprechend außer Vollzug zu setzen.“

Und das hat die Kammer dann unter Festsetzung der üblichen Auflagen getan, ohne viel darüber zu schreiben, warum denn nun ggf. doch noch Fluchtgefahr besteht, der nur durch den Vollzug der U-Haft begegnet werden kann.

Terminsverlegung und faires Verfahren, oder: Wenn das AG die Terminsschwierigkeiten selbst verursacht hat

© santi_ Fotolia.com

Und als dritte Entscheidung dann der LG Wiesbaden, Beschl. v. 06.06.2018 – 6 Qs 38/18, den mir der Kollege Zipper aus Schwetzingen geschickt hat. Thematik: Dauerbrenner „Terminsverlegung und faires Verfahren“, und zwar auf der Grundlage folgenden Sachverhalts:

Die Staatsanwaltschaft legt dem Angeklagten und einer Mitangeklagten u.a. Vorenthalten vonArbeitsentgelt und Steuerhinterziehung zur Last. Nach „Zulassung der Anklage zur Verhandlung vor dem Amtsgericht – Strafrichter (Abteilung 71 des AG Wiesbaden) mit Beschluss vom 21.11.2017 wird vom Strafrichter der Abteilung 71 Termin zur Hauptverhandlung am 24.01.2018 bestimmt. Dieser Termin wird sodann aus „dienstlichen Gründen“ aufgehoben, weil übersehen worden war, dass nach der Geschäftsverteilung des AG Wiesbaden offensichtlich Sonderdezernate für Steuerstrafsachen eingerichtet sind, was die Zuständigkeit einer anderen Abteilung des AG begründete, nämlich der Abteilung 79. Die Abladung des Angeklagten  kam mit dem Vermerk „unter der angegeben Anschrift nicht zu ermitteln“ in den Postrücklauf. Mit Terminierung des aktuellen Hauptverhandlungstermins am 07.06.2018 und am 05.04.2018 wurde gleichwohl – erfolglos – versucht, den Angeklagten unter der nicht mehr aktuellen Anschrift zu laden. Eine Einwohnermeldeauskunft am 24.04.2018 ergab, dass der Angeklagte seit dem 15.10.2017 unter der aktuellen Adresse gemeldet ist. Offensichtlich ohne Kenntnisnahme dieser Einwohnermeldeauskunft vom 24.02.2018 beauftragte das AG sodann am 14.05.2018 die Polizeistation Idstein mit der „Überprüfung der Meldeadresse des Angeklagten, gegebenenfalls Aufenthaltsermittlung und Übergabe der Terminsladung gegen EB falls er angetroffen werden sollte“. Auf diesem Wege wurde der Angeklagte sodann am Freitag, den 25.05.2018, zum Termin am 07.06.2018 geladen. Sein – früherer – Verteidiger hatte zwischenzeitlich am 16.05.2018 ohne Angabe von Gründen mitgeteilt, dass er den Angeklagten nicht mehr verteidige.

Am 30.05.2018 meldete sich der aktuelle Verteidiger des Angeklagten, der Kollege Zipper, und bat neben Akteneinsicht um Aufhebung des Termins am 07.06.2018 und Anberaumung eines neuen Termins unter Beifügung seiner Ladung als Verteidiger in einer Strafsache vor dem AG Mannheim zu einer Hauptverhandlung am 07.06.2018 mit 13 Zeugen und der Mitteilung, dass ihn der Angeklagte erst am Montag, dem 28.05.2018, mandatiert habe.

Das AG weist den „Aussetzungsantrag vom 30.05.2018″ zurück und gewährt dem Verteidiger Akteneinsicht auf der Geschäftsstelle. Bezug genommen wurde dabei auf § 228 Abs. 2 StPO, der bei Verhinderung des Verteidigers dem Angeklagten – unbeschadet einer notwendigen Verteidigung nach § 145 StPO – kein Recht einräumt, eine Aussetzung der Verhandlung Abbruch der Verhandlung. Die dagegen erhobene Beschwerde hat das LG Wiesbaden als zulässig und begründet angesehen:

„Der angefochtene Beschluss lässt eine diesbezügliche Ermessensausübung vermissen. Gleiches gilt für den Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts vom 04.06.2018 <369R>, der lediglich darauf verweist, dass die Sache bei Wechsel in das Steuerdezernat bereits terminiert gewesen sei.

Soweit das Amtsgericht den Angeklagten in der Begründung des Beschlusses unter „Berücksichtigung“ des Grundsatzes eines „fairen Verfahrens“ lediglich darauf verweist, dass er sich bei der Wahl eines (neuen) Verteidigers hätte daran orientieren können (müssen), einen Verteidiger zu wählen, der ihn an dem bereits bestimmten neuen Hauptverhandlungstermin auch vertreten kann, bestehen bei Berücksichtigung des dargestellten Verfahrensganges zudem durchgreifende Bedenken an einem fairen Verfahren. Nachdem das Amtsgericht nämlich zunächst die eigene Geschäftsverteilung versehentlich nicht berücksichtigt und sodann die Nichtzustellbarkeit der darauf erfolgten Abladung des Angeklagten übersehen und mit Verfügung vom 05.04.2018 die Ladung zum neuen Termin am 07.06.2018 unter einer erkennbar nicht ladungsfähigen Anschrift verfügt hatte, wurde weiter auch die Einwohnermeldeauskunft vom 24.04.2018, aus der sich die neue ladungsfähige Anschrift des Angeklagten ergab, nicht zur Kenntnis genommen, weswegen die Ladung des Angeklagten letztlich nicht zeitnah Ende April 2018, sondern erst am 25.05.2018, einem Freitag, erfolgt ist. Zwischenzeitlich hatte der bisherige Verteidiger des Angeklagten am 16.05.2018 ohne Angabe und Ermittlung der Gründe hierfür mitgeteilt, dass er den Angeklagten nicht mehr verteidigt. Jedenfalls vor diesem Hintergrund war es dem Angeklagten nicht zuzumuten, sich kurzfristig einen weiteren (dritten) Verteidiger seines Vertrauens zu suchen, nachdem er unverzüglich bereits am Montag, den 28.05.2018, seinen aktuellen Wahlverteidiger beauftragt hatte, der sodann seinerseits umgehend am 30.05.2018 seine Verhinderung am 07.06.2018 glaubhaft gemacht und um Terminverlegung und Aktensicht gebeten hat. Im Hinblick auf den erhobenen Vorwurf, gemeinschaftlich handelnd in 8 Fällen „als Arbeitgeber der Einzugsstelle Beiträge des Arbeitnehmers zur Sozialversicherung einschließlich der Arbeitsförderung, unabhängig davon, ob Arbeitsentgelt gezahlt wird, vorenthalten zu haben“ und „als Arbeitgeber die für den Einzug der Beiträge zuständigen Stelle pflichtwidrig über sozialversicherungsrechtlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen zu haben und dadurch dieser Stelle vom Arbeitgeber zu tragende Beiträge zur Sozialversicherung vorenthalten zu haben“ sowie in 5 weiteren Fällen die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen zu haben und dadurch Steuern verkürzt zu haben, war es dem Angeklagte schließlich auch nicht zumutbar, die Hauptverhandlung ohne einen Verteidiger wahrzunehmen.

Der Entscheidung des LG ist m.E. nichts hinzuzufügen, außer: Man fragt sich, warum das AG, nachdem es selbst verschuldet hat, dass die Hauptverhandlung nicht an dem zunächst geplanten Termin stattfinden konnte, solchen Druck gegenüber dem Angeklagten aufbaut und ihn quasi zwingen will, ohne einen Verteidiger des Vertrauens in der Hauptverhandlung zu gehen. Zu Rechts sieht das LG darin einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens.

Übermüdung am Steuer – der (berühmte) Sekundenschlaf

© Cyril Comtat - Fotolia.com

© Cyril Comtat – Fotolia.com

Mal nicht Alkohol am Steuer, sondern ggf. „Übermüdung am Steuer“ war die Ursache für einen Verkehrsunfall, der dann zur vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis durch das AG Wiesbaden geführt hat. Die dagegen gerichtete Beschwerde hatte dann beim LG Wiesbaden keinen Erfolg. Das ist im LG Wiesbaden, Beschl. v. 22.06.2015 – 1 Qs 61/15 – ist also schon etwas älter – dann auch vom dringenden Tatverdacht eines Verstoßes gegen § 315c Abs. 1 Nr. 1 b StGB ausgegangen:

„Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen ist davon auszugehen, dass der Beschuldigte am 13.04.2015 gegen 00:14 Uhr in pp. mit seinem Fahrzeug, einem BMW 5er, amtliches Kennzeichen pp., gegen ein ordnungsgemäß am Straßenrand geparktes Fahrzeug gefahren ist, nachdem er am Steuer eingeschlafen war. Durch den Aufprall wurde das geparkte Fahrzeug mehr als 14 m nach vorne gegen einen dort geparkten Anhänger geschoben. An allen drei Fahrzeugen entstand ein erheblicher Sachschaden.

Der Zeuge PK-A pp. hat bekundet, dass der Beschuldigte ihm gegenüber erklärt habe, dass er während der Fahrt in seinem Fahrzeug eingeschlafen und es deshalb zu dem Unfall gekommen sei. Anhaltspunkte dafür, dass die Angaben des Zeugen unzutreffend sein könnten, ergeben sich aus dem Akteninhalt nicht.

Soweit der Beschuldigte vorgetragen hat, dass er gegenüber dem Zeugen PK-A pp. nicht definitiv ausgesagt habe, dass er in seinem Fahrzeug eingeschlafen sei, sondern vielmehr nur Überlegungen hinsichtlich der Unfallursachen (überhöhte Geschwindigkeit, Sichtverhältnisse, leichte Übermüdung) angestellt habe und ihn der Zeuge aufgrund seiner unzulänglichen Sprachkenntnisse missverstanden habe, muss dies der abschließenden Beurteilung im Rahmen einer Hauptverhandlung vorbehalten bleiben.

Im Übrigen erscheint der Vortrag des Beschuldigten wenig überzeugend. Denn die am Unfallort aufgenommenen Lichtbilder belegen, dass sich der Unfall auf einer kaum befahrenen Straße ereignete, trockene Witterungsverhältnisse herrschten und die Sichtverhältnisse aufgrund der Straßenbeleuchtung entsprechend gut waren. Wenn der Beschuldigte gegenüber der Polizei lediglich „Überlegungen“ zur Unfallursache angegeben haben will, lässt dies auch den Schluss zu, dass er sich an den Unfallhergang nicht erinnern kann. Dies wiederum spricht dafür, dass er tatsächlich, wie von ihm nach Aktenlage angegeben, eingeschlafen ist. Da der Beschuldigte bereits seit 1994 einen deutschen Führschein besitzt, ist ebenfalls davon auszugehen, dass dieser über entsprechende Deutschkenntnisse verfügte, um sich gegenüber dem Zeugen PK-A pp. verständlich auszudrücken.

Eine Übermüdung kann auch einen geistigen oder körperlichen Mangel im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 1 b) StGB darstellen. Allerdings ist ein solcher Übermüdungszustand zu verlangen, welcher für den Beschuldigten die erkennbare Erwartung eines nahen Sekundenschlafes mit sich bringt, d.h. der Fahrer bei sorgfältiger Selbstbeobachtung die Übermüdung hätte bemerken oder mit ihrem Eintritt hätte rechnen müssen (BayOLG, Urt. v. 18.08.2003 – 1 St RR 67/03; Burmann in Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 23. Auflage 2014, § 315c StGB, Rn. 16 m.w.N.).

Der BGH hat hierzu anerkannt, dass ein Kraftfahrer, bevor er am Steuer einschläft, stets deutliche Zeichen der Übermüdung an sich wahrnimmt oder zumindest wahrnehmen kann. Dies beruhe auf der in den berufenen Fachkreisen gesicherten Kenntnis, dass ein gesunder, bislang hellwacher Mensch nicht plötzlich von einer Müdigkeit überfallen wird (BGH, Beschl. v. 18.11.1969 – 4 StR 66/69; OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 26.05.1992 – 8 U 184/91; BayOLG, Urt. v. 18.08.2003 – 1 St RR 67/03).

Vor diesem Hintergrund können die Ausführungen des Beschuldigten, wonach er keine Anzeichen einer Ermüdung oder Übermüdung bemerkt habe und auch während der Fahrt keine Anzeichen einer Ermüdung wahrgenommen habe, den dringenden Tatverdacht nicht entkräften. Die Einholung eines rechtsmedizinischen Gutachtens war für die Annahme des dringenden Tatverdachts daher ebenfalls nicht notwendig (a.A. LG Traunstein, Beschl. v. 08.07.2011 – 1 Qs 225/11). Vielmehr muss dies der abschließenden Beurteilung im Rahmen einer Hauptverhandlung vorbehalten bleiben.“

Für die Hauptverhandlung wird man da aber wohl an einem Sachverständigengutachten nicht vorbeikommen. Nun ja- und ein bisschen Werbung muss auch mal wieder sein 🙂 : Zur Straßenverkehrsgefährdung steht einiges bei „Ludovisy/Eggert/Burhoff, Praxis des Straßenverkehrsrechts, 5. Auflage, 2015„. Von dem Link aus kommt man auch zum Bestellformular 🙂 .