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Pflichti II: Einiges zu den Beiordnungsgründen, oder: Steuersache, Jugendlicher, Unfähigkeit, OWi-Verfahren

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Im zweiten Posting zu Pflichtverteidigungsfragen heute dann Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen. Ich stelle allerdings aus Platzgründen nur die Leitsätze der Entscheidungen vor. Hier kommen:

Die Rechtslage ist schwierig im Sinn von § 140 Abs. 2 StPO, wenn dem Beschuldigten Steuerhinterziehung vorgeworfen wird, das es sich beim Steuerstrafrecht um Blankettstrafrecht handelt.

Im Jugendstrafverfahren gelten für die Beurteilung der Pflichtverteidigerbestellung dieselben Grundsätze wie im Strafverfahren gegen Erwachsene. Sind beide Mitangeklagte anwaltlich vertreten, ist bereits aus diesem Grund ein Fall der notwendigen Verteidigung bei einem Erwachsenen anzunehmen. Erst Recht ist daher unter Berücksichtigung einer extensiven Auslegung des § 140 StPO bei Jugendlichen und Heranwachsenden die Bestellung eines Pflichtverteidigers bei der Beschwerdeführerin geboten.

Die Bestellung nach 140 Abs. 2 StPO wegen Unfähigkeit zur Selbstverteidigung hat bereits dann zu erfolgen, wenn an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen.

Eine Pflichtverteidigerbestellung in Bußgeldverfahren ist nur in Ausnahmefällen geboten. Einem Analphabeten ist aber für die Hauptverhandlung ein Verteidiger zu bestellen, wenn eine sachgerechte Verteidigung Aktenkenntnis erfordert oder eine umfangreiche Beweisaufnahme dem Betroffenen Anlass gibt, sich Notizen über den Verhandlungsablauf und den Inhalt von Aussagen zu machen, weil er sie als Gedächtnisstütze benötigt. In diesem Fall liegt nach § 140 Abs. 2 StPO, § 46 Abs. 1 OWiG ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, weil ersichtlich ist, dass sich der Betroffene nicht selbst verteidigen kann.

Bei der Gelegenheit ein herzliches „Danke-schön“ an alle, die mir immer wieder Entscheidungen schicken und so mit dafür sorgen, dass die Entscheidungssammlung wächst und aktuell bleibt.

Einziehung II: Die Einziehung eines Grundstücks oder: Betrieb einer Indoorplantage

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Mit der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, dem LG Stralsund, Beschl. v. 18.10.2022 – 22 KLs 6/22 – hat das LG die Eröffnung eines selbstständigen Einziehungsverfahrens abgelehnt. Die Staatsanwaltschaft hatte die Einziehung eines Grundstücks beantragt, auf dem eine sog. Indoorplantage betrieben worden war. Der Antrag hatte keinen Erfolg:

Gemäß §§ 435, 203 StPO beschließt das Gericht die Eröffnung des selbständigen Einziehungsverfahrens, wenn dies gesetzlich zulässig ist.

Die selbständige Einziehung ist gem. §§ 74, 74a Nr. 2, 76a Abs. 1 StGB, §§ 29a Abs. 1 Nr. 2, 33 BtMG zulässig, wenn eine Anknüpfungstat vorliegt, der Einziehungsgegenstand ein Tatmittel ist, die Einziehungsbeteiligte Eigentümerin zum Zeitpunkt der Entscheidung ist und den Einziehungsgegenstand in Kenntnis der Umstände, welche die Einziehung zugelassen hätten, in verwerflicher Weise erlangt hat. Zudem muss gem. § 76a StGB die Unmöglichkeit der Durchführung eines subjektiven Straf- oder Bußgeldverfahrens bestehen.

1. Hier hatte die Einziehungsbeteiligte zum Zeitpunkt der Einziehungsentscheidung noch kein Eigentum an dem beim Grundbuchamt des Amtsgerichts Stralsund auf Blatt 44 des Grundbuchs von verzeichneten Grundstück (Flurstücks-Nr. 14 der Flur 1 der Gemarkung pp) erlangt.

Die Einziehung beim Täter oder Teilnehmer gem. § 74 StGB und die Einziehung bei anderen Personen gem. § 74a StGB schließen sich denknotwendig aus, da für die jeweilige Einziehung auf die Eigentumsverhältnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung abzustellen ist, §§ 74 Abs. 3, § 74a S. 1 StGB.

Insoweit ist auch nicht auf schuldrechtliche Übertragungsansprüche oder allein auf den Besitz oder auf die Erlangung eines Anspruchs auf Übertragung des Eigentums abzustellen, sondern auf die formale Eigentumsposition oder eine quasidingliche Rechtsposition (MüKoStGB/Joecks/Meißner, 4. Aufl. 2020, StGB § 74a Rn. 12; Schönke/Schröder, StGB § 74a Rn. 68, beckonline; Lohse in: Laufhütte u.a., StGB Leipziger Kommentar, 13. Aufl. 2020, § 74a Einziehung von Tatprodukten, Tatmitteln und Tatobjekten bei anderen).

Es kommt zudem auf den Zeitpunkt der Einziehungsentscheidung unabhängig vom Eintreten der Rechtskraft an. Sowohl § 74 Abs. 3, als auch § 74a StGB stellen darauf ab, wem „zur Zeit der Entscheidung“ das Tatmittel gehört. Der Gesetzgeber hat insoweit ausdrücklich zwischen der Einziehungsentscheidung und deren Rechtskraft unterschieden. Dies wird in § 75 StGB deutlich. Insoweit ist in § 75 Abs. 1 StGB auf die Rechtskraft der Einziehungsentscheidung und in Abs. 3 hingegen auf die Einziehungsentscheidung abzustellen.

Hier wurde die Einziehungsentscheidung am 09.07.2019 verkündet. Zu diesem Zeitpunkt war der jetzige Ehemann der Einziehungsbeteiligten, Eigentümer des vorbezeichneten Grundstückes, da dieser im Grundbuch eingetragen war. Das Eigentum an Grundstücken geht erst mit Einigung (Auflassung) und der Eintragung im Grundbuch über, §§ 925, 873 BGB. Zwar hatte die Einziehungsbeteiligte bereits durch den notariellen Grundstücksüberlassungsvertrag einen schuldrechtlichen Übertragungsanspruch. Hierauf kommt es im Rahmen der Einziehung jedoch gerade nicht an (s.o.). Auch eine quasidingliche Rechtsposition hatte die Einziehungsbeteiligte zu diesem Zeitpunkt nicht inne. Von dem Vorliegen einer solchen kann frühstens ab Eingang des entsprechenden Antrags bei Grundbuchamt ausgegangen werden. Es kann insoweit offenbleiben, ob der Eingang des Antrages auf Eintragung der Auflassungsvormerkung für die Begründung einer solchen quasidinglichen Rechtsposition ausreichend ist, da bereits dieser nach der am 09.07.2019 verkündeten Einziehungsentscheidung erst am 11.07.2019 beim Grundbuchamt einging.

2. In vorliegendem Fall ist auch nicht aufgrund der vom Gesetzgeber gewollten, möglichst lückenlosen Möglichkeit der Einziehung (vgl. Drs. 18, 9525, S. 57 ff.) auf einen anderen Zeitpunkt des Eigentumserwerbs abzustellen. Insoweit kann dahingestellt bleiben, ob dies im Einzelfall zu erfolgen hat, wenn die gegen den Täter oder Teilnehmer gem. § 74 StGB angeordnete Einziehung ins Leere läuft, weil die im BGB enthaltenen Gutglaubenvorschriften auf den Zeitpunkt des Antragseinganges auf Eigentumsumschreibung beim Grundbuchamt und die strafrechtlichen Vorschriften auf das Eigentum zzt. der Einziehungsentscheidung abstellen.

Die gegen den jetzigen Ehemann der Einziehungsbeteiligten mit Urteil vom 09.07.2019, rechtskräftig seit 06.02.2020, angeordnete Einziehung läuft nicht ins Leere.

Mit der Einziehungsentscheidung am 09.07.2019 entstand gem. § 75 Abs. 3 StGB ein Veräußerungsverbot iSd § 136 BGB. Dies führt zu einer relativen Unwirksamkeit der Eigentumsübertragung an die Einziehungsbeteiligte. Daher kann die Einziehungsbeteiligte das Eigentum allenfalls gutgläubig erwerben, iÜ greift die relative Unwirksamkeit des Veräußerungsverbotes. Die Vorschriften des gutgläubigen Erwerbs, §§ 136, 135 Abs. 2, 892 f. BGB sind entsprechend anzuwenden, d.h. der gute Glaube muss sich auf das Nichtbestehen des Verbots beziehen (Ellenberger in: Grüneberg, 81. Auflage, § 136 Rn. 9). Nach § 892 Abs. 2 BGB ist maßgebender Zeitpunkt für diese Beurteilung der Eingang des Antrages auf Eigentumsumschreibung beim Grundbuchamt. Ein Antrag auf Eintragung der Auflassungsvormerkung ist erst am 11.07.2019 und somit nach der Verkündung der Einziehungsentscheidung beim Grundbuchamt eingegangen. Es kann dahinstehen, ob auf diesen Antrag oder erst auf den Antrag zur Eintragung der Eigentumsumschreibung vom 12.12.2019, eingegangen beim Grundbuchamt am 18.12.2019, abzustellen ist, da beide Anträge nach der verkündeten Einziehungsentscheidung beim Grundbuchamt eingegangen sind. Zu diesem Zeitpunkt entfaltete das Veräußerungsverbot bereits seine Wirkung.

Im Übrigen überschneiden sich die jeweiligen Voraussetzungen, da einerseits die fehlende Gutgläubigkeit der Einziehungsbeteiligten gem. §§ 136, 135 Abs. 2, 892 BGB erforderlich ist und anderseits gem. § 74a Nr. 2 StGB der Erwerb in verwerflicher Weise in Kenntnis der Umstände, welche die Einziehung zulassen, erfolgt sein muss. Mit Kenntnis der Umstände, welche die Einziehung zulassen, liegt immer auch eine fehlende Gutgläubigkeit iSd §§ 136, 135 Abs. 2, 892 BGB vor.

Somit kann gegen die Einziehungsbeteiligte der Zivilrechtsweg beschritten werden, um die Zustimmung zur Berichtigung des Grundbuchs zu fordern (vgl. § 61 Abs. 4 StVollstrO). Soweit kein gutgläubiger Erwerb seitens der Einziehungsbeteiligten vorliegt, ist ihre Eigentumserlangung relativ unwirksam und der Eigentumserwerb gem. § 75 Abs. 1 StGB entfaltet seine Wirkung.“

Verkehrsrecht III: Fahrfehler = Ausfallerscheinungen?, oder: Anhalten ohne konkreten Anlass

Und mit der dritten Entscheidung gibt es dann noch etwas zur Trunkenheitsfahrt, nämlich den LG Stralsund, Beschl. v. 07.10.2022 – 26 Qs 195/22. In dem Beschluss hat das LG die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Ablehnung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO wegen einer Trunkenheitsfahrt zurückgewiesen:

„Die zulässige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Stralsund (BI. 22 d. A.) bleibt aus den zutreffenden und fortbestehenden Gründen der angefochtenen Entscheidung in der Sache ohne Erfolg. Das Amtsgericht hat zutreffend festgestellt, dass weder die gemessene Blutalkoholkonzentration von 0,42 Promille (BI. 14 d. A.) die Grenze der unwiderleglich vermuteten absoluten Fahruntüchtigkeit im Tatzeitpunkt erreicht, noch, dass sich – gemessen an dem Erfordernis eines dringenden Tatverdachts – der Nachweis einer relativen Fahruntüchtigkeit aufgrund Alkohol- oder Betäubungsmittelkonsums mit hinreichender Sicherheit führen lassen wird. Die Annahme der relativen Fahruntüchtigkeit i.S.v. § 316 StGB erfordert nämlich den Nachweis alkohol- bzw. rauschmittelbedingter Ausfallerscheinungen in Gestalt von konkreten Fahrfehlern. Hinsichtlich solcher fehlen gänzlich Anhaltspunkte im polizeilichen Ermittlungsbericht. Diesem lässt sich vielmehr entnehmen (BI. 3 d. A.), dass die Polizeibeamten den Beschuldigten ohne konkreten Anlass anhielten und kontrollierten, weil sie ihn bzw. sein Fahrzeug aus einem anderen Verfahren kannten. Die alleinige (nachträgliche) Feststellung körperlicher Konsumanzeichen (Pupillenweitung etc.) kompensiert das Fehlen feststellbarer Ausfallerscheinungen i.S.v. Fahrfehlern indes nicht. Hinzu tritt, dass mit zunehmender Entfernung der Blutalkoholkonzentration von der Grenze zur absoluten Fahruntüchtigkeit (1,1 Promille) die Anforderungen an die für das Vorliegen einer relativen Fahruntüchtigkeit festzustellenden alkoholbedingten Ausfallerscheinungen steigen (vgl. LG Darmstadt BeckRS 2018, 3959). Der Beschuldigte muss sich gleichwohl bewusst sein, dass ihm die Fahrerlaubnis vorläufig zu entziehen gewesen wäre, wenn die – hier ggf. nur zufällig unterbliebene -Feststellung von rauschmittelbedingten Fahrfehlern erfolgt wäre.“

Pflichti I: Immer wieder rückwirkende Bestellung, oder: Du hast ja einen Wahlverteidiger…

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Heute dann mal wieder Pflichtverteidigungsentscheidungen – verbunden mit einem herzlichen Dankeschön an alle Einsender.

Ich beginne mit dem Dauerbrenner „Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung“ , gekoppelt mit der Frage: Welche Auswirkungen hat es, wenn der Beschuldigte einen Wahlanwalt hat.

Zu den Fragen drei Entscheidungen, und zwar den LG Neubrandenbrug, Beschl. v. 30.07.2021 – 23 Qs 86/21-, den LG Stralsund, Beschl. v. 23.08.2021 – 26 Qs 161/21 – und den AG Torgau, Beschl. v. 03.08.2021 – 5 Gs 163/21. Beide LG und das AG haben die nachträgliche Bestellung als zulässig angesehen.

Ich stelle hier aber mal nur die Gründe des Beschlusses des LG Neubrandenburg ein, weil die sich auch noch zu § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO verhalten:

„Gemäß § 140 Abs. 1 Ziff. 2 StPO liegt jedoch ein Fall der notwendigen Verteidigung deshalb vor, weil Gegenstand des Verfahrens ein versuchtes Verbrechen gemäß § 306 StGB gewesen ist. Dieser Tatvorwurf ist im Sinne des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO eröffnet worden. Im Gegensatz zur nicht ganz eindeutigen, wohl im nachfolgenden Sinne auszulegenden Auffassung in der Kommentierung von Schmitt (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64.A, Rdr. 3 zu § 141) ist der Begriff der Eröffnung des Tatvorwurfes nicht so eng auszulegen, dass nur förmliche Mitteilungen über die Bekanntgabe eines Ermittlungsverfahrens im Sinne von § 163 a StPO – oder § 136 StPO – im Rahmen einer Beschuldigtenvernehmung hinreichend sind. Die in der Kommentierung genannten Fundstelle (BT-Drucks 19/13829 S 35) bezieht sich auf die Richtlinie 2013/48 EU. Diese setze voraus, dass die beschuldigte Person durch „amtliche Mitteilung oder auf sonstige Weise Kenntnis“ von der Verdächtigung der Begehung einer Straftat erhalten habe, womit Anträge aufgrund der Vermutung bestehender Ermittlungen unzulässig seien. Dem lässt sich entnehmen, dass nach Auffassung des Gesetzgebers Voraussetzung für die Möglichkeit der Antragstellung die Konfrontation von amtlicher Seite mit dem Tatvorwurf notwendige, aber auch hinreichende Voraussetzung ist. Ob der Begriff „auf sonstige Weise“ auch die Inkenntnissetzung durch Dritte – etwa durch Mitbeschuldigte, deren Verteidiger Akteneinsicht hatten – mit umfasst, kann dahinstehen, erscheint aber eher fraglich (vgl. Krawczyk, Beck StPO § 141 Rdr. 4; weitergehend auf die bloße Kenntnis des Beschuldigten abstellend LG Magdeburg 25 Qs 233 Js 9703/19 (65/20), 25  65/20)

Der Tatverdacht wurde dem Beschuldigten noch am 16.3.2021 durch die Polizeibeamten mitgeteilt, der Verteidiger wurde noch in der Nacht informiert, nach Aktenlage wohl auch darüber, dass eine Ingewahrsamnahme erfolgt und möglicherweise eine richterliche Vernehmung anstehe. Dies ist jedenfalls im Sinne des § 141 Abs. 1 StPO eine amtliche Mitteilung.

Da die Neufassung der Vorschriften über die Pflichtverteidigerbestellung eine zeitnahe Beiordnung eines Verteidigers ermöglichen soll, ist nach Auffassung der Kammer in der Regel die vorläufige tatbestandliche Einordnung im Zeitpunkt des Tatvorwurfes oder zumindest im Zeitpunkt der Antragstellung maßgebend.

Zu beiden Zeitpunkten war der Vorwurf der versuchten Brandstiftung Gegenstand des Ermittlungsverfahrens.

Sofern man die Meinung vertreten will, die rechtlich zutreffende Einordnung sei maßgebend, würde dies im Ergebnis nichts ändern. Der bisher ermittelte Sachverhalt ergibt nach Auffassung der Kammer Tatverdacht in Bezug auf eine versuchte Brandstiftung. Mit dem Übergießen mit Benzin, dem Anbringen benzingetränkter Tücher unter den Wischerblättern und dem Beisichführen von Feuerzeugen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nach den Tätervorstellungen ein Zeitpunkt erreicht, dem die Inbrandsetzung unmittelbar folgen soll, vorausgesetzt die Feuerzeuge waren funktions-tüchtig griffbereit mitgeführt (vgl. die Erwägungen in BGH 3 StR 28/06).

3. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO. Zum einen bezieht sich die Ausnahmevorschrift nur auf die Fälle, in denen unabhängig von einem Antrag von Amts wegen ein Pflichtverteidiger beizuordnen wäre, zum anderen haben sich die Untersuchungshandlungen nicht in der Einholung von Registerauskünften und der Beiziehung von Akten erschöpft. Es wurden nämlich versucht, eine Zeugenaussage einzuholen, eine Beschlagnahme wurde richterlich bestätigt und ein KTU-Antrag vorbereitet.

Nach dem Verfahrenslauf kann auch von einer Absicht, das Verfahren „alsbald“ einzustellen nicht ausgegangen werden.

4. Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens steht der – nachträglichen – Beiordnung nicht entgegen……

…. Jedenfalls in der vorliegenden Fallkonstellation ist davon auszugehen, dass aufgrund des Gesetzes zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 und des nunmehr ausdrücklich konstituierten Unverzüglichkeitsgebots des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO bei dessen Missachtung eine rückwirkende Bestellung möglich ist, wobei im Fall einer Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO auch zu bedenken ist, dass ein eingestelltes Ermittlungsverfahren jederzeit wieder aufgenommen werden kann.

Das zum früheren Recht vorgebrachte Argument der Obergerichte, die Beiordnung diene nicht „fiskalischen Interessen“, sondern nur der Gewährleistung der Verteidigungsmöglichkeit, solange diese notwendig erscheint, greift jedenfalls bei der nunmehr geänderten Rechtslage nicht mehr. Zum einen ist die Gesetzesänderung in der Umsetzung einer EU-Richtlinie erfolgt, die die finanziellen Möglichkeiten des Beschuldigten als eine wichtige Voraussetzung für die Beiordnung erachtet, zum anderen ist der Gesamtzusammenhang der Regelungen nunmehr auf schnellstmögliche Umsetzung des Anspruchs auf Beiordnung eines Verteidigers gerichtet, wie auch die Tatsache zeigt, dass das zuvor gültige Rechtsmittel der einfachen Beschwerde nunmehr durch das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde ersetzt worden ist. Bei gesetzeskonformer Handhabung der einschlägigen Vorschriften tritt das Problem der nachträglichen Beiordnung nur noch in Ausnahmefällen auf, die nicht gesetzeskonforme Handhabung durch die Ermittlungsbehörden bedarf der Korrektur durch die Eröffnung der Möglichkeit nachträglicher Beiordnung (vgl. zur aktuellen Rechtslage mit im wesentlichen gleicher Auffassung OLG Nürnberg Ws 962/20; OLG Bamberg, 1 Ws 260/21; LG Hamburg 604 Qs 6/21; LG Bochum 11-10 Qs – 36 Js 596/19 – 6/20; LG Aurich 12 Qs 78/20; unentschlossen Meyer-Goßner/Schmitt § 142, Rdr. 20; die nachträgliche Beiordnung weiterhin ablehnende Entscheidungen beziehen sich überwiegend nicht auf solche einer Beantragung nach § 141 Ab. 1 Satz 1, etwa OLG Hamburg StraFo 2020, 486; die bei Mey-er-Goßner/Schmitt benannte Entscheidung des OLG Brandenburg NStZ 2020, 625 bezieht sich zudem entgegen der dortigen Ausführungen auf die vor dem 10.12.2019 geltende Rechtslage).“

Und zum „Einwand“: Du hast ja einen Wahlanwalt führt das LG Neubrandenburg aus:

„5. Dass der Beschuldigte durch den Wahlverteidiger „ausreichend vertreten“ wurde, ist auch nach der neuen Rechtslage entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft nach dem Willen des Gesetzgebers ohne Relevanz.

Dazu BT-Drucks 19/13829, S 36: „Außerdem ist Grundvoraussetzung für die Antragstellung, dass der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat oder der gewählte Verteidiger bereits mit dem Antrag ankündigt, das Wahlmandat mit der Bestellung niederzulegen. Damit soll der Vorrang der Wahlverteidigung (vgl. § 141 Absatz 1 StPO-E) aufrechterhalten werden.“

Der Verteidiger hat die Niederlegung des Wahlmandates für den Beiordnungsfall zumindest im Schriftsatz vom 18.5.2021 angekündigt, es ist aber von einer dahingehenden konkludenten Erklärung bereits im Schriftsatz vom 27.4.2021 auszugehen.“

Ganz anders zum letzten Punkt dann der AG Rostock, Beschl. v. 24.08.2021 – 23 Ds 161/21, der mich – gelinde ausgedrückt – etwas ratlos zurücklässt. Am AG Rostock scheint die Rechtsprechung der letzten Zeit vorbei gegangen zu sein bzw.: Man hätte sich ja mal zur Frage der konkludenten Niederlegung äußern können:

„Vorliegend beantragte der Verteidiger zwar seine unverzügliche Beiordnung als Pflichtverteidiger, kündigte jedoch nicht an, im Fall der Bestellung das Wahlmandat niederlegen zu wollen. Da der Angeschuldigte somit im Zeitpunkt der Antragstellung am 07.05.2021 bereits einen Verteidiger hatte, war eine unverzügliche Verteidigerbestellung auf Antrag nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht erforderlich, da gerade nicht alle Voraussetzungen der Vorschrift vorlagen.“

Pflichti I: Beiordnungsgründe, oder: Gesamtstrafübel, Nebenfolgen und/oder Corona

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Seit meinem letzten Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen ist wieder einiges an neuen Entscheidungenaufgelaufen. Daher kann ich dann heute wieder einige Entscheidungen vorstellen.

Ich starte mit zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar zunächst mit dem LG Stralsund, Beschl. v. 02.202.2021 – 26 Qs 4/21. Gegenstand der Entscheidung: Beiordnung in den Fällen einer Gesamtstrafe. Das LG sagt/meint:

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge ist in der Regel bei einer Straferwartung von einem (nicht über einem) Jahr und mehr anzunehmen. Diese Grenze gilt auch, wenn sie nur durch eine Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

Insoweit nicht viel Neues aus Stralsund, außer: Das haben wir immer schon so gemacht, was dieses Mal auch richtig ist.

Interessanter ist da schon der LG Aurich, Beschl. v. 05.02.2021 – 12 Qs 28/21. In ihm geht es auch um die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO. Und es geht auch um das sog. Gesamtstrafübel – hier Nebenfolge: Einziehung – und das „gepaart“ mit Corona. Dazu das LG:

„Vorliegend erscheint die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge geboten.

1. Allerdings hat das Amtsgericht zu Recht darauf verwiesen, dass die Schwere der zu erwartenden Strafe eine Beiordnung nicht rechtfertigt.

Auch im Zuge der Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, im Rahmen derer die „Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge“ ausdrücklich in den Wortlaut des § 140 Abs. 2 StGB aufgenommen worden ist, sind die im Rahmen der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze weiterhin von Bedeutung, da sich bislang die Schwere der Tat ebenfalls nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung beurteilt hat (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 38. Ed. 01.10.2020, StPO § 140 Rn. 23). Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge beurteilt sich mithin in erster Linie nach der zu erwartenden Rechtsfolge im Fall einer Verurteilung, wobei eine Verteidigerbeiordnung bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe ab einem Jahr in der Regel geboten ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 140 Rn. 23 m.w.N.).

Vorliegend ist lediglich eine Geldstrafe zu erwarten. Bei den 24 angeklagten Steuerstraftaten handelt es sich um Vergehen i.S.d. § 370 Abs. 1 und 2 AO. Das Vorliegen eines besonders schweren Falls der Steuerhinterziehung — mit der Folge einer Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten (§ 370 Abs. 3 AO) — ist nicht ersichtlich. Die im Einzelnen hinterzogenen Beträge liegen jeweils unterhalb der Wertgrenze von 50.000,00 E, die die Rechtsprechung für eine Steuerhinterziehung großen Ausmaßes i.S.d. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO zieht (BGH, Urteil vom 27.10.2015 — 1 StR 373/15 = NStZ 2016, 288 [289 f.]). Die im Falle des Schuldspruches vom Strafgericht zu bildende Gesamtstrafe ist mithin höchstwahrscheinlich eine Geldstrafe, da das Gericht aus einzelnen Geldstrafen nicht eine Gesamtfreiheitsstrafe bilden darf (BGH, Urteil vom 17.11.1994 —4 StR 492/94 = NStZ 1995, 178).

2. Nichtsdestotrotz erscheint der Kammer aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falls die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten.

Zum einen sind angesichts der Klarstellung in § 140 Abs. 2 StPO für die Beurteilung der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung die insgesamt zu erwartenden Rechtsfolgen, d.h. auch Nebenstrafen oder Nebenfolgen, in den Blick zu nehmen. Dies betrifft beispielsweise eine drohende Unterbringung nach § 64 StGB, die Entziehung der Fahrerlaubnis oder ein Fahrverbot bei entsprechender Berufstätigkeit (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21). In Bezug auf eine drohende Einziehung hat das Kammergericht entschieden, dass der Antrag auf Einziehung wertvoller Gegenstände die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebieten kann (KG, Beschluss vom 02.12.1996 — 1 Ss 285/96). Zum anderen ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass auch schwerwiegende mittelbare Nachteile aus einer Verurteilung zu berücksichtigen sind, z.B. der drohende Widerruf einer Bewährung in anderer Sache, erhebliche disziplinarrechtliche Folgen, drohender Widerruf der Zurückstellung nach § 35 BtMG, weitreichende haftungsrechtliche Folgen oder drohende Ausweisung (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21 m.w.N. aus der Rechtsprechung).

Vorliegend ist aufgrund der drohenden Einziehungsentscheidung, der beruflichen Stellung des Angeklagten und der allgemein bekannten Pandemielage eine Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge anzunehmen, die eine Pflichtverteidigerbestellung gebietet. Der Einwand des Angeklagten, im Falle einer antragsgemäßen Verurteilung und Einziehung wäre seine wirtschaftliche Existenz bedroht, ist glaubhaft. Das Amtsgericht hat mit Strafbefehl vom 03.04.2020 die Einziehung der (mutmaßlich) hinterzogenen Steuerbeträge von insgesamt 19.173,27 € angeordnet. Schon die Höhe des Einziehungsbetrages lässt vermuten, dass eine entsprechende Einziehungsentscheidung den Angeklagten als (faktischen) Inhaber des Imbissbetriebes wirtschaftlich bedrohen würde. Hinzu kommt, dass gerade das Gastronomiegewerbe in besonderer Weise unter den Infektionsschutzmaßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie leidet. Die Einnahmesituation der Gastronomie ist trotz Gewährung staatlicher Hilfen derzeit außerordentlich schlecht. Eine zeitnahe Besserung ist derzeit nicht absehbar. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass eine Verurteilung mittelbare Nachteile für den Angeklagten mit sich bringen könnte, beispielsweise die Untersagung des Gaststättenbetriebs wegen gewerberechtlicher Unzuverlässigkeit nach der GewO und dem NGastG.“