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Absehen von der Kostenauferlegung im JGG-Verfahren, oder: Wirtschaftliche Gefahr versus Erziehungsgedanke

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Am „Gebührenfreitag“ heute dann mal keine gebührenrechtlichen Entscheidungen, sondern zwei kostenrechtliche Beiträge.

Ich beginne mit dem OLG Nürnberg, Beschl. v. 09.11.2023 – Ws 982/23, den mir die Kollegin Braun aus München geschickt hat. Es geht um die Kostenauferlegung im JGG-Verfahren. Dort sieht § 74 JGG vor, dass im JGG-Verfahren von der Auferlegung von Kosten und Auslagen auf den Jugendlichen abgesehen werden kann. Dazu hat das OLG Stellung genommen.

In dem Verfahren hatte die Jugendkammer beim LG die zum Tatzeitpunkt jugendliche Verurteilte mit Urteil v. 24.4.2023 unter Anwendung von Jugendstrafrecht wegen fünf Fällen der Beihilfe zum Diebstahl mit Sachbeschädigung schuldig gesprochen, ihr eine Geldauflage in Höhe von 500 EUR erteilt und sie für die Dauer von einem Jahr der Aufsicht und Betreuung eines Betreuungshelfers unterstellt. Die Mitverurteilten wurden jeweils wegen fünf Fällen des schweren Bandendiebstahls mit Sachbeschädigung zu Gesamtfreiheitsstrafen oder einer Einheitsjugendstrafe mit Bewährung verurteilt. Der Verurteilung lag zu Grunde, dass die Verurteilte die Mitangeklagten bei Begehung von Diebstählen unterstützte, indem sie während der Taten im Fahrzeug wartete, um diese vor etwaiger Entdeckung zu warnen.

Nachdem die Staatsanwaltschaft beantragt hatte, bei der Verurteilten von der Auferlegung von Kosten abzusehen, hat das LG angeordnet, dass die Verurteilte und zwei Mitverurteilte die Kosten des Verfahrens zu tragen haben. Von der Möglichkeit des § 74 JGG, aus erzieherischen Gründen von der Auferlegung von Kosten abzusehen. hat das LG keinen Gebrauch gemacht.

Hiergegen wendet sich dann die Verurteilte über ihre Verteidigerin mit der sofortigen Beschwerde. Sie ist der Auffassung, dass das LG sein Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt habe, weil die Kostenentscheidung nicht berücksichtige, dass ein Großteil der angefallenen Kosten nicht auf den Tatbeitrag der Verurteilten zurückzuführen sei. Zudem sei es aus erzieherischen Gründen geboten, dass die Verurteilte, die derzeit in einem befristeten Arbeitsverhältnis arbeite, eine Berufsausbildung beginne, was angesichts der Kostentragungslast von geschätzt 20.000 EUR erschwert werde. Hinzu komme, dass sie als jüngste der Verurteilten wegen der Inhaftierung der anderen kostentragungspflichtigen Verurteilten voraussichtlich allein die Kosten tragen müsse, was unverhältnismäßig sei. Schließlich ergebe sich aus der Urteilsbegründung des LG, dass die Auferlegung der Kosten der zusätzlichen Sanktionierung dienen solle, was mit dem Erziehungsgedanken des JGG unvereinbar sei.

Die sofortige Beschwerde der Verurteilten hatte beim OLG Erfolg:

„1. Die Entscheidung, der zur Tatzeit jugendlichen Verurteilten gemäß § 74 JGG die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, ist eine Ermessensentscheidung, die von dem Beschwerdegericht lediglich auf Ermessensfehler überprüfbar ist. Maßstab der Ermessensentscheidung ist es. einerseits eine wirtschaftliche Gefährdung der Verurteilten zu vermeiden, andererseits, ihr durch die Auferlegung von Kosten zu zeigen, dass sie für die Folgen ihres Tuns unter Berücksichtigung des Erziehungsgedankens einzustehen hat. Dabei ist im Rahmen der pflichtgemäßen Ermessens-ausübung die Möglichkeit gemäß § 74 JGG – um Folgewirkungen im Sinne einer negativen Sanktionierung durch die Auferlegung der Kosten zu vermeiden – bei Jugendlichen tendenziell ausgedehnt zu nutzen (Eisenberg/Kölbel, JGG, 24. Auflage, § 74 Rn. 8c). Auch die Gesamtbelastung, die die Kostenentscheidung bewirkt, ist abwägungsrelevant (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14.02 2011, III – 4 Ws 59/11, juris: OLG Hamm, Beschluss vom 28.11.2017, III- 4 Ws 213/17, juris).

2. Die vom Landgericht getroffene Entscheidung genügt diesen Anforderungen nicht.

Zum einen führt das Landgericht aus, dass die festgesetzte Geldauflage der Höhe nach nur deshalb so gering bemessen wurde, weil die Verurteilte mit der Kostentragungspflicht belastet wird. Angesichts der Höhe der Kosten des Verfahrens tritt die eigentliche Rechtsfolge in den Hintergrund, was mit dem Erziehungsgedanken nicht zu vereinbaren ist (Eisenberg/Kölbel JGG/Kölbel, 24. Aufl. 2023, JGG § 74 Rn. 8d, LG Freiburg NStZ-RR 2000, 183).

Zum anderen begründet das Landgericht seine Entscheidung damit, dass die Verurteilte bei Berücksichtigung ihrer gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage bei einem Nettoverdienst von 1.500 Euro durch ihre auf sechs Monate befristete Tätigkeit in pp. imstande ist, die Kosten des Verfahrens in Raten zu begleichen. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass zum einen das Arbeitsverhältnis befristet ist und zum anderen die Jugendliche plant, eine Ausbildung zur Verkäuferin oder im Bereich Kosmetik zu machen. Für die – unter Erziehungsaspekten wünschenswerte – Beendigung der Hilfstätigkeit in pp. und Absolvierung einer Ausbildung ist die Belastung mit den gesamten Verfahrenskosten kontraproduktiv. Der Verurteilten, die derzeit noch bei ihren Eltern wohnt, wird damit die Gründung einer tragfähigen selbständigen Existenz durch eine Berufsausbildung über einen nicht absehbaren Zeitraum massiv erschwert.

Schließlich erscheint es fraglich, ob die gesamtschuldnerische Haftung mit den beiden Mitangeklagten, gegen die mehrjährige Freiheitsstrafen verhängt wurden, zu einer Entlastung der Verurteilten führt., wovon das Landgericht offenbar ausgeht.

3. Dies führt zur Aufhebung der Kostenentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Entscheidung (OLG Hamm Beschluss vom 28.11.2017, 4 Ws 213/17, beck-online).

Bei der neuen Entscheidung wird zu berücksichtigen sein, dass Maßstab der Ermessensentscheidung ist, einerseits eine wirtschaftliche Gefährdung der Verurteilten zu vermeiden, andererseits, ihr durch die Auferlegung von Kosten zu zeigen, dass sie für die Folgen ihres Tuns unter Berücksichtigung des Erziehungsgedankens einzustehen hat (OLG Hamm, aaO), was auch mit einem teilweisen Absehen von der Auferlegung von Kosten möglich ist (Eisenberg/Kölbel, JGG, 24. Auflage, § 74 Rz. 8a).“

Das LG hat übrigens dann die – zutreffenden – Vorgaben des OLG verstanden und hat im LG Regensburg, Beschl. v. v. 22.11.2023 – KLs 403 Js 23928/22 jug von der Auferlegung der Kosten des Verfahrens und der gerichtlichen Auslagen auf die verurteilte Jugendliche abgesehen.

Pflichti III: Potpourri von Beiordnungsgründen, oder: Ausländer, Steuer, „ungeimpft“, Betreuung, Beweislage

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Und zum Tagesschluss dann noch einige Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen – also i.d.R. §3 140 Abs. 2 StPO. Hier stelle ich aber nur die Leitsätze vor, sonst wird es zu viel. Den Volltext muss man dann ggf. selbst lesen 🙂 . Und da sind dann.

Zur (verneinten) Bestellung eines Pflichtverteidigers für ein ukrainische Beschuldigte, der ein Vergehen gem. § 235 StGB vorgeworfen wird, deren Sprachdefizite durch die Zuziehung eines Dolmetschers ausgeglichen werden können.

Steht der Beschuldigte unter Betreuung und zählt zum Aufgabenkreis des Betreuers die Vertretung vor Behörden, ist insoweit stets von einer notwendigen Verteidigung wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung auszugehen.

Es liegt eine schwierige Beweislage, die die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfordert vor, wenn zwei Justizorgane die Beweislage unterschiedlich beurteilen.

1. Es besteht schon eine schwierige Rechtslage, wenn divergierende obergerichtliche zu einer Rechtsfrage vorliegen, ohne dass bislang der BGH dazu entschieden hat (im Hinblick auf die Frage der Volksverhetzung für ein Profilbild, auf dem der gelbe Stern mit der Aufschrift „Ungeimpft“ abgebildet ist.
2. Eine schwierige Rechtslage besteht wohl auch, wenn eine Verständigung erörtert wird.
3. Bei der Beurteilung der Schwere der Rechtsfolge sind in die Beurteilung ggf. durch eine Verurteilung drohende Nebenfolgen einzubeziehen.

In einem Verfahren wegen Steuerhinterziehung ist die Mitwirkung eines Verteidigers wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten (§ 140 Abs. 2 StPO).

Strafvollzug II: Toilettengang des Gefangenen, oder: Kein Betreten des Haftraums durch JVA-Bedienstete

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Die zweite Entscheidung kommt auch aus Bayern. Es handelt sich um den LG Regensburg, Beschl. v. 20.01.2022 – SR StVK 245/21. Der hat einen „unschönen“ Sachverhalt:

Es geht um einen Vorfall in einer JVA. Dort wollten am 17.03.2021 gegen 10.00 Uhr wollten zwei Vollzugsbeamte kontrollieren, ob der Antragssteller einer ihm zuvor erteilten Anweisung bestimmte Bilder an der Außenwand seines Haftraumes zu entfernen, nachgekommen war. Der Antragssteller befand sich zu diesem Zeitpunkt auf der neben der Haftraumtür stehenden Toilette. Da er aus diesem Grund verhindern wollte, dass sein Haftraum betreten wird, machte er die beiden Vollzugsbeamten über seine Situation durch Zurufen aufmerksam, als diese die Haftraumtür öffnen wollten. Außerdem hielt der Antragssteller, um ein Betreten des Haftraumes zu verhindern, die sich nach innen öffnende Tür zu. Trotzdem stieß einer der Vollzugsbeamten ohne Abzuwarten die Haftraumtür auf, betrat den Haftraum und konnte den Antragssteller dabei beobachten, wie sich dieser auf der Toilette befand.

Der Antragssteller ist der Ansicht, es liege ein massiver, ungerechtfertigter und unverhältnismäßiger Eingriff in seine Privatsphäre vor. Er sei gezielt erniedrigt und in seiner Würde herabgesetzt worden. Er begeht festzustellen, dass das Betreten seines Haftraumes durch Vollzugsbeamte der JVA, während er auf der Toilette saß, rechtswidrig war.

Die JVA ist dem entgegen getreten. Sie ist der Ansicht, dass es notwendig gewesen sei, die Haftraumtür vollständig zu öffnen und den Haftraum zu betreten, um illegale Handlungen des Antragsstellers wie zum Beispiel eine kurzfristige Manipulation sowie die Vernichtung von unerlaubten Gegenständen durch den Gefangenen zu verhindern. Eine Störung der Privatsphäre des Gefangenen sei hierbei ein Umstand, den dieser aus Gründen der Sicherheit und Ordnung hinzunehmen habe. Um sein Schamgefühl zu schonen, habe der Bedienstete seinen Blick nicht direkt auf den Antragssteller gerichtet.

Die StVK erklärt der JVA dann mal die Rechtslage:

„Der Antrag ist begründet.

Das Betreten des Haftraumes war rechtswidrig.

Aus dem Hausrecht der Anstalt ergibt sich grundsätzlich die Befugnis der Anstaltsmitarbeiter, auch Hafträume jederzeit unabhängig vom Einverständnis der dort untergebrachten Gefangenen zu betreten; sie ergibt sich im Übrigen aus den Aufgaben nach Art. 2 ff. BayStVollzG. Mithin liegt ein Eingriff in Grundrechte des Gefangenen nicht schon darin, dass ein Vollzugsbediensteter den Haftraum betritt. Eine Grundrechtsverletzung kann jedoch in der Art und Weise liegen, in der sich der Anstaltsmitarbeiter dabei verhält. Sein Handeln ist auch insoweit an das Willkürverbot und an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden, die ein schonendes Vorgehen gebieten (BVerfG NJW 1996, S. 2643).

Denn mit der Zuweisung eines Haftraumes soll der Gefangene einen persönlichen, vom allgemeinen Anstaltsbereich abgegrenzten Lebensbereich zur Verfügung erhalten (BVerfG NJW 1996, S. 2643).

Gefordert ist hier vor allem die Achtung der Menschenwürde des Strafgefangenen (BVerfGE 64, 261 (277) = NJW 1984, 33). Das schließt die Pflicht ein, die Privat- und Intimsphäre des Gefangenen als Ausdruck seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 1 I, 2 I GG) tunlichst zu wahren. Dabei ist anzuerkennen, dass der gesonderte Haftraum für den Gefangenen regelmäßig die einzige verbleibende Möglichkeit bietet, sich eine gewisse Privatsphäre zu schaffen und ungestört zu sein (vgl. BGHSt 37, 380 (382) = NJW 1991, 2652).

Dabei ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für die Vollzugsbeamten besondere Sensibilität geboten, wenn Maßnahmen durchgeführt werden, während Gefangene die Toilette benutzen. Denn hier wird regelmäßig die durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Intimsphäre beeinträchtigt. Der Gefangene, in dessen Haftraum die Toilette nicht mit ausreichendem Sichtschutz versehen ist, hat insoweit Anspruch auf besondere Rücksichtnahme durch das Personal. Ein Bediensteter, der den Haftraum betreten will, muss sein Kommen hierbei – etwa durch Anklopfen oder ausreichend vernehmbare Schließgeräusche beim Öffnen der Tür (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Mai 1996 – 2 BvR 727/94 u. a. -, NJW 1996, S. 2643, und vom 4. Juli 2006 – 2 BvR 460/01) – in einer Weise ankündigen, die dem Gefangenen im Falle der Benutzung der Toilette einen rechtzeitigen Hinweis ermöglicht, und hat in diesem Fall vom Betreten des Raumes, wenn dieses nicht ausnahmsweise dringend geboten erscheint, für eine den Umständen angemessene Zeitspanne abzusehen.

Denn nur auf diese Weise wird dem Gefangenen ausreichend Gelegenheit gegeben einer Verletzung seiner Intimsphäre vorzubeugen.

Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wurde das Verhalten der Vollzugsbeamten der JVA nicht gerecht. Das Betreten des Haftraumes des Antragsstellers stellte einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Intimsphäre des Antragsstellers dar.

Dem Antragssteller wurde hier keine Möglichkeit offen gehalten einer Beeinträchtigung seiner Intimsphäre vorzubeugen. Dies gilt unabhängig davon, ob die Haftraumtür in diesem Fall durch die Vollzugsbeamten zunächst aufgeschlossen wurde oder ob diese bereits unverschlossen war. Denn selbst wenn für den Antragssteller durch das Aufschließen der Tür erkennbar war, dass Vollzugsbeamte den Haftraum betreten wollen, reichte dies in diesem Fall als einzige Maßnahme, um einen Eingriff in die Intimsphäre zu verhindern, nicht aus.

Vielmehr hätte dem Antragssteller hier mehr Zeit eingeräumt werden müssen, bevor der Haftraum hätte betreten werden dürfen. Der Antragssteller hatte den Vollzugsbeamten hier mitgeteilt, dass er sich gerade auf der Toilette befindet. Es ist aber ersichtlich, dass deren Benutzung nicht augenblicklich abgebrochen werden kann. Eine tatsächliche Möglichkeit, Beeinträchtigungen der Intimsphäre zu verhindern, wie sie das Bundesverfassungsgericht fordert, bestand daher hier nicht.

Dieser Eingriff konnte dabei insbesondere auch nicht aus Gründen, der mit der Achtung der Intimsphäre abzuwägenden, Sicherheit und Ordnung der Anstalt gerechtfertigt werden.

Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin genügen nämlich allgemeine Sicherheitsbedenken für das sofortige Betreten des Haftraumes nicht, wenn der Gefangene deutlich zu erkennen gibt, dass er sich gerade auf der Toilette befindet. Den ein derartiges Vorgehen stellt einen vergleichbar intensiven Eingriff in die Intimsphäre, wie eine mit einer Entkleidung verbunden Durchsuchung gemäß Art. 91 II BayStVollzG dar. In beiden Fällen wird das Schamgefühl des Gefangenen in besonderer Weise beeinträchtigt. Hieraus folgert die Kammer, dass für einen Eingriff in die Intimsphäre durch das Betreten des Haftraumes während der Toilettenbenutzung zumindest eine vergleichbare Gefährdungslage wie sie Art. 91 II BayStVollzG („Gefahr im Verzug“) voraussetzt, notwendig ist.

Eine insoweit damit erforderliche Konkretisierung der Gefährdungslage für die Sicherheit und Ordnung der Anstalt lag hier aber nicht vor.

Das Betreten des Haftraumes erfolgte hier – auch nach den Angaben der Antragsgegnerin -nur, um zu überprüfen, ob der Antragssteller einer Anordnung Plakate abzuhängen, nachgekommen war. Ein etwaiger konkreter Verdacht, der zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt ein sofortiges Einschreiten der Vollzugsbeamten erforderlich gemacht hätte, bestand nicht.

Etwas anderes kann sich auch nicht aus dem Umstand ergeben, dass der Antragssteller die Haftraumtür zugehalten hatte, als die Vollzugsbeamten versucht hatten diese zu öffnen. Denn der Antragssteller wollte auf diese Weise nur sicherstellen, dass seine Privatsphäre ausreichend gesichert wird. Dies war in dieser Situation auch für die Vollzugsbeamten ersichtlich, da der Antragsteller diese hierauf verbal hingewiesen hatte. Die bloße Absicherung der grundrechtlichen Intimsphäre durch den Antragssteller kann aber keinen Hinweis auf das Vorliegen einer konkreten Gefährdung darstellen. Dies gilt insbesondere, wenn die JVA keine organisatorischen Maßnahmen getroffen hatte, die ein Betreten des Haftraums für den Fall der Benutzung der Toilette unterbinden können.

Dass sich dies so abgespielt hat ergibt sich aus den im Kern übereinstimmenden Angaben des Antragsstellers und des Zeugen pp. Dieser hat bestätigt, dass er den Haftraum betreten hat, obwohl der Antragssteller ihn auf seinen Toilettengang hingewiesen hat und es keine konkreten Anhaltspunkte für eine Gefahr in diesem Sinn gab.

Neben dem Betreten des Haftraumes stellt überdies auch der weitere Aufenthalt des Vollzugsbeamten einen rechtswidrigen Eingriff in die Intimsphäre des Antragsstellers dar. Denn jedenfalls als dieser bemerkt hatte, dass sich der Antragssteller tatsächlich auf der Toilette befand, hätte er, um eine andauernde Beeinträchtigung zu verhindern, den Haftraum unverzüglich wieder verlassen müssen.

Dass sich dies so abgespielt hat ergibt sich aus den im Kern übereinstimmenden Angaben des Antragsstellers und des Zeugen pp. Dieser hat auch bestätigt, dass er die Zelle betreten hat und mit dem Antragssteller diskutiert hat, während dieser noch auf der Toilette war.“

Pflichti II: Bestellung wegen „Schwere der Tat“, oder: Drohende Einziehung von rund 22.000 EUR

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Die zweite Entscheidung, die der Kollege Hölldobler aus Regensburg mir geschickt hat, verhält sich zum Beiordnungsgrund „Schwere der Tat“.

Gegen den Angeklagaten ist Anklage wegen leichtfertiger Geldwäsche erhoben worden, Der Kollege beantragte seine Bestellung als Pflichtverteidiger, was er damit begründet hat, dass die Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung vorlägen vor, da wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen, insbesondere der drohenden Einziehung von Wertersatz in Höhe von 22.296,24 EUR, die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Für den derzeit arbeitslosen Angeklagtenstelle die drohende Einziehung eine existenzbedrohende Rechtsfolge dar.

Die Staatsanwaltschaft ist dem zunächst nicht entgegen getreten, hat dann aber die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht befürwortet, da der im Raum stehende Einziehungsbetrag nicht so hoch sei, dass eine solche angezeigt sei. Das AG hat die Bestellung abgelehnt. Die drohende Einziehung von 22.296,24 EUR stelle keine Rechtsfolge dar, aufgrund derer die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich erscheine. Eine Existenzbedrohung sei nicht ersichtlich, ausländerrechtliche Konsequenzen drohten nicht. Es sei zudem nicht ersichtlich, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen könne.

Anders dann auf die sofortige Beschwerde das LG im LG Regensburg, Beschl. v. 17.08.2021 – 5 Qs 172/21:

„2. Die Beschwerde ist inhaltlich begründet. Es liegt ein Fall notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vor.

Die notwendige Bestellung eines Pflichtverteidigers ergibt sich für die Kammer aufgrund der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen. Insoweit ist zu beachten, dass dabei auch alle sonstigen Rechtsfolgen, die in dem betreffenden Strafverfahren angeordnet werden können, zu berücksichtigen sind. Dazu gehört auch die Einziehung (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 140, Rn. 23b). Dabei ist in den Blick zu nehmen, dass dem Beschwerdeführer neben der drohenden Strafe die Einziehung in Höhe von 22.296,24 € und damit eines nicht unerheblichen Betrages droht. Ungeachtet dessen, ob dies – wie vom Verteidiger vorgetragen – für den derzeit arbeitslosen Beschwerdeführer eine existenzbedrohende Rechtsfolge darstellt, handelt es sich insoweit jedenfalls um einen drohenden Nachteil solch schwerwiegender Art, dass aus Sicht der Kammer aufgrund der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint.“

Pflichti III: Wirtschaftsstrafverfahren beim Strafrichter, oder: Schwierige Sachlage

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Und als letzte Entscheidung heute dann noch mal ein „Pflichtverteidigungsbeschluss“ zu den Beiordnungsgründen, und zwar der LG Regensburg, Beschl. v. 15.07.2020 -6 Qs 5/20.

Es geht um die Beiordnung in einem Wirtschaftsstrafverfahren beim Strafrichter. Dazu das LG:

„Gemäß § 140 Il S. 1 StPO ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers für den (nicht mehr verteidigten) Angeklagten erforderlich; wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- und/oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann. Weder die Schwere der Tat noch die Schwierigkeit der Rechtslage machen vorliegend eine, Pflichtverteidigerbestellung erforderlich. Das Vorliegen einer schwierigen Sachlage wird jedoch in der Rechtsprechung teilweise generell für Wirtschaftsstrafsachen vor dem Strafrichter mit der Begründung bejaht, dass auch in diesen Verfahren die Hauptverhandlung ohne Aktenkenntnis nicht umfassend vorbereitet werden kann  (Karlsruher Kommentar zur StPO, § 140, Rn 22 mwN). Nach wohl hM liegt eine schwierige Sachlage bei Verfahren vor dem Amtsgericht – Strafrichter – vor bei schwieriger Beweislage, wenn zum Beispiel ein Indizienbeweis zu führen ist, oder vor dem Wirtschaftsstrafrichter, wenn insbesondere Vorgänge der Betriebsführung; Buchhaltung und Bilanzierung zu prüfen sind (Meyer-Goßner/Schmitt, Kommentar zur StPO, 62. Auflage, § 140, Rdnr. 26a). Sowohl betreffend die pp GmbH wie auch. die pp GmbH hat sich die Staatsanwaltschaft jeweils zur Auswertung der Geschäftsunterlagen einer bei der Wirtschaftsabteilung beschäftigte Bilanzbuchhalterin bedient. Diese Auswertung ist im Strafbefehlsantrag auch als Beweismittel benannt. Von Seiten der Verteidigung im weiteren Verfahren übersandte Jahresabschlüsse wurden von der Staatsanwaltschaft ebenfalls der vorgenannten Bilanzbuchhalterin zur Überprüfung und Stellungnahme übersandt. Eine diesbezüglich aktualisierte Gegenüberstellung der liquiden Mittel zu fälligen Verbindlichkeiten für die pp. GmbH sowie die pp. GmbH wurden erstellt und zur Akte genommen. Die ergänzende Stellungnahme der Bilanzbuchhalterin hingegen wurde lediglich zur Handakte „genommen, inhaltlich vermutlich jedoch in die Verfügung vom 03.03.2020 eingearbeitet. Da damit in der mündlichen Verhandlung offensichtlich Vorgänge der Buchhaltung und auch Bilanzierung zur Beurteilung der bestehenden Zahlungsfähigkeit bzw.  Zahlungsunfähigkeit sowohl der GmbH wie auch der GmbH zu prüfen sein werden und eine sachgerechte Verteidigung ohne Akteneinsicht aufgrund der erstellten Auswertungen nicht möglich ist, ist selbst nach oben zitierter eingeschränkter Rechtsprechung von einer schwierigen Sachlage im Sinne der Generalklausel des § 140 II StPO auszugehen, sodass die beantragte Pflichtverteidigerbestellung im Ergebnis nicht versagt werden kam.“