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Alkohol III: Nachtrunkbehauptung im Verkehrsrecht, oder: Wenn Eheleute sich streiten

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Und dann noch aus dem Verkehrecht der LG Itzehoe, Beschl. v. 19.02.2024 – 14 Qs 9/24. Ergangen ist er in einem Verfahren wegen Verdachts der Trunkenheit im Verkehr im Verfahren wegen der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis.

Zugrunde liegt eine in der Praxis ja nicht seltene Konstellation. Eheleute trinken gemeinsam Alkohol, man streitet sich, die Ehefrau nimmt die Kinder und fährt zu einer Freundin. Der Ehemann ruft die Polizei an und teilt mir, dass seine Ehefrau alkoholisiert unterwegs ist/war. Die Polizei trifft die Ehefrau bei der Freundin an und es wird eine Blutentnahme angeordnet. Das Ergebnis  der Blutprobe würde dann „reichen“. Aber es kommt die Einlassung: Bei der Freundin ist es zu einem Nachtrunk gekommen. Und die hatte hier zumindest vorläufig Erfolg. Denn das LG hat die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) aufgehoben:

„Vorliegend kann nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen zwar angenommen werden, dass die Beschwerdeführerin am 12.11.2023 gegen 21:14 Uhr in Lutzhorn das Kraftfahrzeug Mercedes-Benz mit dem amtlichen Kennzeichen pp. nach dem vorherigen Genuss alkoholischer Getränke geführt hat – es kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Ermittlungen indes nicht mit der erforderlichen großen Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass sie zum Zeitpunkt der Fahrt auch eine Butalkoholkonzentration von mindestens 1,1 °/00 aufwies.

Der dahingehende Tatverdacht beruht derzeit ausschließlich auf der Aussage des Ehemannes der Beschuldigten gegenüber der Polizei, welcher am Tattag um 21:05 Uhr die Dienststelle in Elmshorn kontaktierte und angab, seine Ehefrau habe sich nach einem Streit stark alkoholisiert und schwankend mit dem Fahrzeug entfernt, sowie den damit korrespondierenden Angaben der Zeugen PK pp. und POM pp., welche die Beschuldigte am Tattag um 22:34 Uhr an der antrafen und einen Atemalkoholgeruch feststellten sowie den Analyseergebnissen der um 23:42 Uhr und 00:12 Uhr bei der Beschwerdeführerin entnommenen Blutproben, die einen BAK-Wert von 1,85 und 1,72 °/00 aufwiesen.

Diese Beweismittel sind jedoch nicht ohne weiteres geeignet, den dringenden Tatverdacht einer Trunkenheitsfahrt gern. § 316 Abs. 1, 2 StGB zu begründen, denn der unmittelbare Schluss, dass die Beschwerdeführerin bereits zum maßgeblichen Zeitpunkt der Autofahrt eine Blutalkoholkonzentration von über 1,1 °/00 aufwies, kann daraus nicht gezogen werden.

a) Die Beschwerdeführerin selbst hat den Tatvorwurf bestritten und sich gegenüber den Polizei-beamten zuletzt dahingehend eingelassen, sie habe vor Fahrtantritt zwischen 17:00 Uhr und 20:00 Uhr in einem Restaurant 0,5 I Bier und drei bis vier 2 cl Gläser Ouzo getrunken – größere Mengen Alkohol, nämlich 0,33 I Bier und etwa 15 cl Ouzo, habe sie hingegen erst nach Fahrtende bei ihrer Freundin, der Zeugin pp. konsumiert. Diese Einlassung, nach der sich die Beschwerdeführerin während der Autofahrt allenfalls im Zustand relativer Fahruntüchtigkeit befunden hat, wird sich nicht ohne Weiteres widerlegen lassen.

Der Ehemann der Beschuldigten, der bisher keine Angaben zur Trinkmenge der Beschuldigten gemacht hat, gibt nunmehr an, diese habe vor Fahrtantritt in einem Restaurant zwei Bier und drei bis vier Ouzo getrunken, er habe die Polizei lediglich aus Verärgerung und Wut nach der Auseinandersetzung mit seiner Ehefrau gerufen. Die Zeugin pp. hat darüber hinaus an Eides statt versichert, die Beschwerdeführerin habe nach ihrer Ankunft bei ihr gegen 21:00 Uhr bis 22:00 Uhr ein Bier getrunken und den Großteil einer Ouzo-Flasche geleert. Diese Aussagen stützen die Einlassung der Beschwerdeführerin und sind nicht geeignet, den gegen sie erhobenen Vorwurf der Trunkenheitsfahrt im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit zu begründen.

Die Kammer verkennt dabei nicht, dass das Aussageverhalten der Zeugen und die Einlassung der Beschuldigten inkonsistent sind und es sich auch um nachträglich abgesprochene Aussage handeln kann. So gab die Beschuldigte selbst zunächst an, sie habe nach der Fahrt in ihrem Fahrzeug Alkohol konsumiert, wenig später korrigierte sie die Aussage dahingehend, sie habe nach Fahrtende mit ihrer Freundin drei bis vier Bier getrunken und nach Durchführung des Atemalkoholtests gab sie schließlich an, gegen 17:30 Uhr zwei Weißweinschorlen und einen Ouzo und gegen 21:15 Uhr bei Frau pp. zwei bis drei Bier getrunken zu haben. Auch wirft es jedenfalls Fragen auf, dass die Zeugin pp.  gegenüber der Polizei zunächst angegeben haben soll, dass beide Frauen bei ihr keinen Alkohol konsumiert hätten. Sofern sie nunmehr behauptet, sie habe die Frage nach etwaigem Alkoholkonsum lediglich auf sich bezogen beantwortet, da es darum gegangen sei, die Beschwerdeführerin im Verlaufe der Nacht mit dem Fahrzeug von der Wache abzuholen, muss der Wahrheitsgehalt dieser Aussage ggf. nach Anhörung der Vernehmungsbeamten ermittelt werden. Die Kammer hält die Frage nach einer (ausschließlichen) Alkoholisierung der Zeugin im Rahmen der gegen die Beschwerdeführerin geführten Ermittlungen wegen einer Trunkenheitsfahrt für wenig wahrscheinlich; es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Niederschrift der Aussage der Zeugin pp. nicht von den vernehmenden Beamten (PKW POM pp. ) selbst, sondern von dem Zeugen POMA pp. gefertigt worden ist.

In diesem Zusammenhang muss auch berücksichtigt werden, dass der Ehemann der Beschuldigten die erste Aussage gegenüber der Polizei im Streit mit der Beschwerdeführerin getätigt hat, was eine kritische Würdigung der Aussage erfordert, da eine Belastungstendenz und eine etwaige Dramatisierung der Umstände jedenfalls nicht fernliegend erscheint. Für letzteres würde auch sprechen, dass er gegenüber der Polizei zunächst angab, die Beschwerdeführerin habe einen schwankenden Gang aufgewiesen, wohingegen die Polizeibeamten PK pp. und POM pp. bei der Beschwerdeführerin keinerlei Ausfallerscheinungen feststellen konnten.

Letztlich sind die Unstimmigkeiten innerhalb der Aussagen allenfalls geeignet einen hinreichenden Tatverdacht einer Trunkenheitsfahrt gem. § 203 StPO zu begründen, es kann indes nicht mit der notwendigen hohen Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass die Beschwerdeführerin diese Tat auch begangen hat.

b) Auch die Ergebnisse der doppelten Blutprobenentnahme sind nicht geeignet, die Nachtrunkbehauptung der Beschwerdeführerin zu widerlegen.

Ein Rückschluss von einer gemessenen Blutalkoholkonzentration zum Zeitpunkt der Blutentnahme auf die relevante Blutalkoholkonzentration zum Zeitpunkt der Fahrt ist grundsätzlich dann möglich, wenn in der dazwischenliegenden Zeit ein regelhafter Verlauf der Blutalkoholkurve unterstellt werden kann; Nachtrunkeinlassungen erschweren diesen Rückschluss zugunsten des Beschuldigten (LG Oldenburg, Beschluss vom 24. Mai 2022 – 4 Qs 155/22 m.w.N.). In geeigneten Fällen kann eine Nachtrunkbehauptung jedoch durch die Ergebnisse einer Doppelblutentnahme widerlegt werden. Dem liegt zugrunde, dass die Zeitspanne während welcher die Blutalkoholkonzentration nach dem letzten Alkoholkonsum bis zur Erreichung ihres Maximums steigt – die sog. Anflutungsphase – im Regelfall etwa 30 Minuten bis zu zwei Stunden beträgt, wenngleich sie im Einzelfall von Person zu Person variiert (LG Oldenburg, Beschluss vom 24. Mai 2022 – 4 Qs 14 Qs 9/24 m.w.N.). In dieser Phase ist mithin mit steigenden Blutalkoholkonzentrationswerten zu rechnen, sodass in Fällen, in denen die Analysen einer ersten, in zeitlich engem Zusammenhang mit dem in Rede stehenden Tatgeschehen entnommenen Blutprobe, und einer zweiten, im Abstand von 30 Minuten entnommenen Blutprobe, eine sinkende Blutalkoholkonzentration ergibt, die Nachtrunkbehauptung in der Regel als widerlegt angesehen werden kann (vgl. a.a.O.). Für einen solchen Rückschluss muss die Entnahme der ersten Blutprobe allerdings spätestens 45 Minuten nach Trinkende erfolgen (zu den weiteren Voraussetzungen vgl. ausführlich a.a.O. m.w.N.). Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall jedoch nicht erfüllt, denn das Blut für die erste Blutprobe zur Bestimmung der Blutalkoholkonzentration wurde der Beschwerdeführerin erst um 23:42 Uhr entnommen – und mithin knapp 1,5 Stunden nach dem behaupteten Trinkende um 22:15 Uhr. In diesem Fall verbietet sich der Rückschluss, dass die sinkenden Werte belegen, dass die Nachtrunkbehauptung unwahr ist, da auch im Falle des Nachtrunks die Anflutungsphase zum Zeitpunkt der zweiten Blutprobenentnahme bereits beendet wäre und die „Abbauphase“ begonnen hätte.

Der Nachweis einer absoluten Fahruntüchtigkeit zum maßgeblichen Zeitpunkt der Fahrt lässt sich vor diesem Hintergrund nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit führen.“

Schon erstaunlich, dass das LG die verschiedenen, sich teilweise widersprechenden Aussagen nicht einfach mit „unglaubhaft“ abgetan hat. Man darf gespannt sein, wie das AG damit umgeht.

Und: die erwähnte Entscheidung des LG Oldenburg hatte ich hier übrigens auch vorgestellt, und zwar hier.

Brennende Kerzen am (trockenen) Weihnachtsbaum, oder: Grobe Fahrlässigkeit?

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So, und dann die letzte Entscheidung vor Weihnachten. Und da gibt es dann etwas Weihnachtliches, und zwar den schön ältere LG Oldenburg, Urt. v. 08.07.2011 – 13 O 3296/10. Das hat zur grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalls durch brennende Kerzen am Weihnachtsbaum Stellung genommen.

Gestritten worden ist um die restliche Regulierung eines Brandschadens, bei dem das zu je 1/2 im Eigentum des Klägers bzw. im Eigentum seiner Ehefrau stehende freistehende Wohnhaus nebst Hausrat nahezu vollständig durch Brand zerstört worden ist. Der Brand ereignete sich am 09.01.2010, als der Kläger und seine Ehefrau deren Schwester und ihren Lebensgefährten zu Besuch hatten. Nachdem die vor Weihnachten geschlagene und im Wohnzimmer aufgestellte Nordmanntanne an diesem Tag mit neuen Wachskerzen bestückt und diese angezündet worden waren, fing der Weihnachtsbaum aus ungeklärter bzw. streitiger Ursache Feuer. Dieses wurde von dem zum Zeitpunkt der Brandentstehung allein im Wohnzimmer anwesenden Gast der Familie des Klägers pp. entdeckt, der sofort um Hilfe rief. Ein Löscheimer, Feuerlöscher oder eine Löschdecke befanden sich nicht in der Nähe des Baumes. Der hierdurch alarmierte Kläger begab sich zum brennenden Weihnachtsbaum, öffnete die zur Terrasse führende Wohnzimmerschiebetür und versuchte, den in der Nähe dieser Tür aufgestellten Baum nach draußen auf die Terrasse zu ziehen. Dies misslang aufgrund der Hitzeentwicklung; infolge der Frischluftzufuhr wurde die Brandentwicklung beschleunigt.

Die Versicherung hatte u.a. nur 60 % des Schadens reguliert. Der Kläger verlangte den Rest und beim LG Oldenburg Recht bekommen:

„1) Die Beklagte ist nicht gem. § 81 Abs. 2 VVG berechtigt, die Versicherungsleistung um 40 % zu kürzen. Denn der Versicherungsfall ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht grob fahrlässig herbeigeführt worden.

Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Diese Sorgfalt muss in ungewöhnlich hohem Maße verletzt worden sein. Danach müssen einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt worden sein und es darf das nicht beachtet worden sein, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen (BGH, r+s 1989, 193; Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG, zu § 81 VVG Rn. 8). Sowohl für die objektive als auch für die subjektive Seite der groben Fahrlässigkeit trägt der Versicherer die Darlegungs- und Beweislast (BGH, NJW 1989, 1354). Sache des Versicherers ist es, die naheliegenden Möglichkeiten, die das Verhalten des Versicherungsnehmers in einem milderen Licht erscheinen lassen, zu widerlegen (vgl. BGH, NJW-RR 1986, 705).

Vorliegend sind keine Tatsachen festgestellt, aus denen offenbar würde, dass der Kläger oder dessen Ehefrau beim Befestigen und Anzünden der Kerzen ein besonderes Maß an Unbesonnenheit, Leichtsinn oder Unbekümmertheit an den Tag gelegt haben.

Zunächst ist festzustellen, dass der Nadelbaum mit Sicherheit am 09.01.2011 im Vergleich zu einem frisch geschlagenen Baum trockener gewesen ist und sich daher wesentlich leichter entzünden konnte. Dies liegt nicht nur an der Standzeit des Baumes, sondern auch daran, dass – wovon die Kammer ausgeht – die Raumluft im Wohnzimmer des Klägers infolge des dort befindlichen und in der Weihnachtszeit nach Angabe der Zeugin … auch regelmäßig benutzten Kaminofens deutlich trockener ist als in anderen Räumen. Der Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Trocknungsgrad des Baumes am Schadenstag bedarf es nicht. Die Kammer erachtet es – entgegen der von der Beklagten im Schriftsatz vom 06.07.2011 geäußerten Auffassung – nicht für ungewöhnlich oder unglaubhaft, dass der Kläger bzw. dessen Frau den Weihnachtsbaum regelmäßig „gegossen“ haben. Das von der Zeugin … geschilderte Bewässern des Baumes verzögerte jedoch den Austrocknungsprozess nicht in nennenswerter Weise – was sich an der Schnelligkeit der Brandentwicklung gezeigt hat. Deshalb war nach dem Anzünden der Wachskerzen am 09.01. besondere Vorsicht geboten.

Gleichwohl wertet die Kammer das Maß der Sorglosigkeit des Klägers und seiner Ehefrau im Umgang mit dem Nadelbaum nicht als dermaßen grob, dass von einem objektiv groben Pflichtverstoß auszugehen ist. Das Anzünden von Kerzen an einem Nadelbaum sorgt zwar für eine deutlich erhöhte Brandgefahr, ist aber im hiesigen Kulturkreis in der Weihnachtszeit weit verbreitet. Auch das Anzünden von Kerzen 18 Tage nach Aufstellen eines mittlerweile trockenen Nadelbaumes ist keine besonders ungewöhnliche Verhaltensweise und auch nicht schlechthin als grob sorglos zu bewerten. Indessen ist der Versicherungsnehmer aufgrund der dadurch bewirkten deutlichen Herabsenkung des Sicherheitsstandards gegenüber der versicherten Gefahr zu einer erhöhten Aufmerksamkeit gehalten. Deshalb ist es unabdingbar, das Brennen der Kerzen am Nadelbaum durchgehend zu beaufsichtigen. Diese Mindestanforderung wurde im vorliegenden Fall aber unstreitig erfüllt. Zwar befanden sich weder der Kläger selbst noch dessen Ehefrau nach dem Anzünden der Baumkerzen im Wohnzimmer, insbesondere nicht in dem Moment, als die Flammen auf den Baum übergriffen; jedoch befand sich währenddessen der Lebensgefährte der Schwägerin des Klägers, der Zeuge … im Wohnzimmer und hatte den Baum – zumindest aus dem Augenwinkel – „im Blick“. Dass der Zeuge … vom Kläger oder dessen Ehefrau nicht ausdrücklich gebeten worden ist, die Kerzen am Baum zu beobachten, ist nicht entscheidend; maßgeblich für die Sicherheit ist allein, dass sich – wie hier – eine erwachsene Person durchgehend im Wohnzimmer aufgehalten hat, während die Kerzen am Baum brannten (vgl. BGH, VersR 1986, 671). Damit waren die brennenden Kerzen zu keinem Zeitpunkt „sich selbst überlassen“. Unstreitig ist, dass Herr … die Brandentwicklung relativ schnell bemerkt und die anderen im Haus anwesenden Personen unverzüglich alarmiert hat.

a) Ein Sachverständiger ist zur Frage, warum es zum Brand gekommen ist, nicht zu befragen. Vielmehr kann als richtig unterstellt werden, dass sich eine Kerze oder Baumschmuck von der Halterung gelöst und diese den Brand verursacht hat. Dass die Kerzen oder der Baumschmuck – insbesondere die Bestandteile Spieluhr – nicht ordnungsgemäß bzw. auf sorglose Weise in die dafür vorgesehenen Halterungen eingesteckt worden sind, wie es die Beklagte behauptet, ist nicht erwiesen. Im Gegenteil ergibt sich aus der Aussage der Zeugin … dass diese beim Schmücken des Baumes und beim Einsetzen neuer Kerzen mit Bedacht und großer Sorgfalt vorgeht. So sei ausschließlich sie für das Einsetzen der Kerzen zuständig. Auch entferne sie zuvor die Wachsreste aus den Kerzenhaltern, damit die neuen Kerzen ordnungsgemäß befestigt werden können. Das spricht nicht für Sorglosigkeit im Umgang mit den Kerzen. Dass die Kerzenhalter von der Zeugin … nicht nach jedem Herunterbrennen eines Satzes Kerzen vollständig abgenommen und gesäubert worden sind, mag zwar sorgfaltswidrig sein. Eine nachweislich gröbliche Außerachtlassung der Sorgfaltspflichten im Umgang mit den Kerzenhaltern ist der Familie des Klägers indes nicht vorzuwerfen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Kerzenhalter erst im Zuge des Abschmückens und Entfernens des Baumes zum Zwecke der Reinigung vollständig abgenommen werden.

Im Übrigen brannten die Kerzen nach dem Anzünden nach den glaubhaften Angaben des Zeugen pp. bereits eine Dreiviertelstunde, ehe der Baum zu brennen begann. Wäre eine Kerze von vornherein unsachgemäß in einen Kerzenhalter eingesetzt worden, wäre diese wesentlich früher heruntergefallen. Gleiches gilt für den Baumschmuck und die Bestandteile der Spieluhr.

b) Dass sich weder Löscheimer noch Löschdecken in unmittelbarer Nähe des Weihnachtsbaumes befunden haben, ist zwar objektiv sorgfaltswidrig. Denn es liegt auf der Hand, dass dadurch die Gefahr, dass ein plötzlich entstehender Brand am Weihnachtsbaum nicht unter Kontrolle zu bekommen ist, erheblich steigt. Gleichwohl stellt dies kein ungewöhnliches Verhalten und damit noch kein Außerachtlassen dessen dar, was jedermann unter den gegebenen Umständen als geboten und einleuchtend erscheinen musste. Hinzu kommt, dass sich die Familie des Klägers durchaus Gedanken darüber gemacht hat, warum sie keinen Löscheimer neben dem Baum stehen hat. Die Zeugin … hat glaubhaft bekundet, dass sie früher, als die beiden Söhne der Familie noch kleiner gewesen seien, einen Löscheimer neben den Tannenbaum gestellt hätten. Denn sie hätten die Sorge gehabt, dass die Kinder eine besondere Gefahrenquelle darstellen, wenn sie mit dem Kerzenlicht in Berührung kämen. Einen Löscheimer habe man aber seit einigen Jahren nicht mehr als notwendig erachtet, nachdem die Kinder größer geworden seien. Das Weglassen des Löscheimers nach dem Größerwerden der Kinder stellt aus Sicht der Kammer – anders als die Beklagte meint – keine abwegige, sondern eine nachvollziehbare Überlegung der Familie des Klägers dar, nachdem eine unmittelbare Gefahr durch Kleinkinder, die mit den Kerzen spielen oder beim Spielen in der Nähe des Baumes gegen Zweige stoßen könnten, nicht mehr bestanden hat.

c) Ob es noch zu Löschversuchen mittels in der Küche befüllter Eimer oder Töpfe gekommen ist, kann dahin stehen, da diese Maßnahmen nicht zum Erfolg geführt haben.

d) Ebenso wenig ergibt sich aus der Tatsache, dass der Kläger bei dem Versuch, den Baum nach draußen zu ziehen, die Terrassentür öffnete und dadurch die Brandentwicklung deutlich beschleunigt worden ist, ein dem Kläger vorwerfbar grober Sorgfaltspflichtverstoß  Dabei verkennt die Kammer nicht, dass – was man gemeinhin weiß – eine Frischluftzufuhr bei einer Brandentstehung im Inneren eines Hauses selbstverständlich tunlichst zu vermeiden ist. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass es sich um eine für den Kläger nicht alltägliche, sich ständig wiederholende und daher routinemäßig zu beherrschende Gefahrensituation handelte. Vielmehr ist auch der Kläger von der Feuerentwicklung überrascht worden und musste spontan entscheiden, wie dem Feuer am Effektivsten entgegengewirkt werden könnte. Dass er dabei – begünstigt durch die Aufregung – eine falsche Entscheidung getroffen hat, beruht auf einer reflexartigen Schutzmaßnahme. Damit liegt insoweit ein in subjektiver Hinsicht nicht schlechthin unentschuldbares Verhalten des Klägers vor.

Das Vorbringen der Beklagten im Schriftsatz vom 06.07.2011 gibt der Kammer keinen Anlass für eine andere Beurteilung…..“

Pflichti I: Beiordnung bei psychischer Beeinträchtigung, oder: Drohender Bewährungswiderruf/Gesamtstrafe

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Und heute dann „Pflichti“, es hält sich dieses mal aber in Grenzen.

Zunächst hier drei LG-Entscheidungen zum Beiordnungsgrund, und zwar:

Der LG Berlin, Beschl. v. 21.09.2023 – 517 Qs 33/23 – nimmt noch einmal Stellung zur Erforderlichkeit der Beiordnung in den Fällen der psychischen Beeinträchtigung des Beschuldigten:

„1. Gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO wird in den Fällen der notwendigen Verteidigung dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt.

Ein solcher Fall der notwendigen Verteidigung liegt hier gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor, weil ersichtlich ist, dass sich die Beschwerdeführerin, der auch der Tatvorwurf eröffnet worden ist und die noch keinen Verteidiger hatte, aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht selbst verteidigen kann. Denn ausweislich des aufgrund der Betreuerbestellung eingeholten psychiatrischen Gutachtens leidet die krankheits- und behandlungsuneinsichtige Beschwerdeführerin mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit an einer paranoiden Schizophrenie, kann weder lesen noch schreiben, ist in ihrem Gedankengang assoziativ gelockert bis zerfahren und wahnhaft. Sie sei, so die psychiatrische Sachverständige, krankheitsbedingt nicht in der Lage, im Hinblick auf eine Betreuung einen freien Willen zu bilden, sondern ganz in ihrem eigenen Erleben gefangen. Die Unfähigkeit der Beschwerdeführerin zur Selbstverteidigung wird darüber hinaus dadurch belegt, dass sie vom Amtsgericht Mitte aufgrund ihrer psychischen Erkrankung unter Betreuung gestellt worden ist, wobei zum Aufgabenkreis des Betreuers unter anderem die Vertretung gegenüber Behörden zählt.

Ein Absehen von der Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO kommt nicht in Betracht, da dies ausweislich des ausdrücklichen Wortlauts sich lediglich auf Beiordnungen bezieht, die von Amts wegen erwogen werden (vgl. nur Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage 2023, § 141 Rn. 17).“

Und die zweite Entscheidung. der LG Oldenburg, Beschl. v. 17.08.2023 – 4 Qs 252/23 -, nimmt noch einmal zur „Schwere der Rechtsfolge“ Stellung, und zwar wie folgt:

Die Schwere der drohenden Rechtsfolge i.S. des § 140 Abs. 2 StPO bestimmt sich nicht lediglich nach der im konkreten Verfahren zu erwartenden Rechtsfolge, sondern es haben auch sonstige schwerwiegende Nachteile, wie beispielsweise ein drohender Bewährungswiderruf in die Entscheidung mit einzufließen.

Und dann noch der LG Münster, Beschl. 22.08.2022 – 11 Qs 27/23:

Die Schwelle von zu erwartender Freiheitsstrafe von einem Jahr für die Bestellung eines Pflichtverteidigers gilt auch bei der (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung. Das gilt auch, wenn die verfahrensgegenständliche Verurteilung voraussichtlich geringfügig ausfallen und die Gesamtstrafenbildung nur unwesentlich beeinflussen wird, jedoch neben der zu erwartenden nachträglichen Gesamtstrafenbildung auch noch ein Bewährungswiderruf  droht.

 

StPO III: Schoko-Marienkäfer für den Staatsanwalt, oder: Glück gehabt, nicht befangen

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Und als dritte Entscheidung dann der LG Oldenburg, Beschl. v. 24.04.2023 – 12 Ns 380 Js 80809/21 (299/22). Es geht um die Besorgnis der Befangenheit bei einer Schöffin, die vor der Hauptverhandlung Süßigkeiten verteilt hat, und zwar nur an den Staatsanwalt, der sie allerdings nicht angenommen hat.

Ja, das hatten wir schon mal. Na ja, nicht ganz. In der Fällen, die mir bekannt sind, ging es immer um Schokoladen-Nikoläuse, hier waren es aber Marienkäfer aus Schokolade. Nichts desto trotz: Es passt „Alle Jahre wieder“. 🙂

Hier hatte die „Großzügigkeit“ der Schöffin allerdings nicht deren Ausschluss wegen besorgnis der Befangenheit (§ 24 StPO) zur Folge. Sie hat – wohl so gerade noch – die Kurve bekommen und in ihrer dienstlichen Äußerung den Faux pas „repariert“. Das LG hat es damit dann gut sein lassen. Ich wage die Behauptung, dass der Angeklagte das sicherlich mit der Revision überprüfen lassen wird.

Das LG hat ausgeführt:

„Der zulässige Antrag hat in der Sache keinen Erfolg.

Die Besorgnis der Befangenheit besteht, wenn aus Sicht eines vernünftigen Ablehnungsberechtigten Zweifel an der Unvoreingenommenheit und Unabhängigkeit des Richters bestehen (MüKoStPO/Conen/Tsambikakis, 1. Aufl., StPO § 24 Rn. 15 m.w.N.). Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters ist demnach gerechtfertigt, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der abgelehnte Richter ihm gegenüber eine innere Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 24 Rn. 8 m.w.N.). Bei der Ablehnung von Schöffen gilt das Gleiche; die Befangenheitsgründe gehen nicht weiter als bei den Berufsrichtern (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 31 Rn. 2).

Die beanstandete Verteilung von Schokoladen-Marienkäfern durch die Schöffin pp. vor Beginn der Hauptverhandlung am 03.04.2023 begründet jedenfalls in der konkreten Situation und unter Berücksichtigung der dienstlichen Äußerung der Schöffin aus Sicht eines vernünftigen Angeklagten keine Zweifel an ihrer Unvoreingenommenheit. Zwar erscheint die Verteilung von Süßigkeiten in einem Strafverfahren grundsätzlich unangemessen (vgl. LG Flensburg, Beschl. vom 20.01.2021 — V KLs 2/19, juris). Doch lässt dies in der konkreten Situation gerade nicht den Schluss zu, dass die Schöffin dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft eher gewogen ist als dem Angeklagten oder seinem Verteidiger.

Unabhängig davon, dass der Angeklagte sich zum Zeitpunkt der Verteilung der Süßigkeiten nicht im Saal befand, hat der Erste Staatsanwalt pp. in der Hauptverhandlung erklärt, er habe den Vorgang bereits als unangemessen empfunden, der Schöffin dies mitgeteilt und das Schokoladenpräsent auch nicht angenommen. Die Schöffin hat im Rahmen ihrer dienstlichen Äußerung erklärt, dass sie durchaus vorgehabt habe, dem Verteidiger auch ein Schokoladenpräsent zu übergeben, dies aber angesichts der Zurückweisung durch den Staatsanwalt nicht mehr getan habe. Die Äußerung lässt darauf schließen, dass der Schöffin die Unangemessenheit ihres Verhaltens erst anschließend klargeworden ist.

Es bestehen keine Gründe, die Glaubhaftigkeit der dienstlichen Äußerung der Schöffin in Zweifel zu ziehen. Die Stellungnahme des Verteidigers vom 06.04.2023 begründet solche Zweifel ebenfalls nicht — im Gegenteil: Seine Ausführungen zeigen vielmehr, dass die Schöffin ihm gegenüber ausgesprochen freundlich und zugewandt gefragt habe, ob der Sitzungssaal bereits offen sei, oder ob sie ihm die Saaltür öffnen solle. Dass sie bei dieser Gelegenheit oder anschließend, als sie offenbar der Protokollführerin ebenfalls ein Stück Schokolade auf den Tisch gelegt hat, nicht daran gedacht hat, dies bereits diesem Zeitpunkt auch dem Verteidiger anzubieten, stellt daher keinen Befangenheitsgrund dar. Denn die Schöffin hat durch ihr Gesamtverhalten und — spätestens durch die Klarstellung im Rahmen ihrer dienstlichen Äußerung — nachvollziehbar kein Verhalten zum Ausdruck gebracht, dass darauf schließen lässt, dass sie der Seite des Angeklagten, insbesondere dem Verteidiger, weniger gewogen ist, als der Staatsanwaltschaft.

Die Besorgnis der Befangenheit der Schöffin pp. ist nach alledem nicht gerechtfertigt.“

Als Vorsitzender steht man wahrscheinlich in solchen Fällen kurz vor einem Infarkt 🙂 .

Pflichti III: Bestellung in der Strafvollstreckung, oder: Bestellung im Bußgeldverfahren

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Und dann zum Schluss noch zwei Entscheidungen zu den Beiordungsgründen. Beide Entscheidungen betreffen nicht das „normale“ Erkenntnisverfahren, sondern einmal das Bußgeldverfahren und einmal die Strafvollstreckung, und zwar:

Liegt bei dem Verurteilten eine leichte Intelligenzminderung vor und ist ein Sachverständigengutachten zur Gefährlichkeit des Verurteilten erstattet, ist ihm im Strafvollstreckungsverfahren ein Pflichtverteidiger beizuordnen.

Dem Betroffenen ist auch im Bußgeldverfahren ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn die konkreten Umstände des Einzelfalls das erfordern. Das ist ausnahmsweise dann der Fall, wenn bereits eine erste Verurteilung des Betroffenen ist auf seine Rechtsbeschwerde vom OLG hin aufgehoben worden ist und die durchzuführende Hauptverhandlung sich maßgeblich an den Ausführungen des OLG zu orientieren hat, wobei die insoweit gebotene Auseinandersetzung mit den optischen Fehlerquellen einer Messung namentlich unter Berücksichtigung der Sichtverhältnisse und die juristische Bewertung der Messmethode von einem juristischen Laien nicht erwartet werden kann.