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Pflichti III: Nochmals rückwirkende Bestellung, oder: Pro und Contra – pro hat Recht

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Und dann noch etwas zum Dauerbrenner im Bereich der §§ 140 ff. StPO, nämlich die Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung. Da gibt es zwei Lager, die sich gegenüber stehen. M.E. hat das Lager, das eine rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers, insbesondere in den Fällen der Einstellung des Verfahrens (meist nach § 154 StPO) bejaht, ein leichtes Übergewicht.

Die Argumente in dieser Streitfrage sind ausgetauscht, so dass ich hier nur – der Vollständigkeit halber – die neueren Entscheidung pro/contra vorstelle. Und zwar.

Für die Zulässigkeit einer rückwirkenden Bestellung haben sich ausgesprochen:

– LG Karlsruhe, Beschl. v. 14.11.2022 – 16 Qs 62/22

– LG Münster, Beschl. v. 4.11.2022 – 22 Qs 41/22 – für einen Nebenklagefall

– LG Neuruppin, Beschl. v. 01.12.2022 – 12 Qs 17/22 jug.

Gegen die Zulässigkeit argumentieren:

– LG Braunschweig, Beschl. v. 23.11.2022 – 9 Qs 346/22

LG Oldenburg, Beschl. v. 06.12.2022 – 3 Qs 409/22

Ich meine, die Auffassung, die für die Zulässigkeit plädiert, ist zutreffend. Letztlich wird die Frage aber ggf. irgendwann mal der BGH entscheiden. Hoffentlich.

Pflichti I: Zunächst zu den Beiordnungsgründen, oder: Mehrere Beschuldigte, BVV, JGG-Verfahren

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Heute steht dann mal wieder ein „Pflichtverteidigungstag“ an. Ich denke, es wird der letzte in diesem Jahr sein. Bei der Gelegenheit danke ich allen Einsendern, die mir im Laufe des Jahres insbesondere (auch) Pflichtverteidigungsentscheidungen geschickt haben. So ist eine schöne Sammlung zustande gekommen.

Ich beginne heute die Berichterstattung hier mit drei LG-Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Im Falle mehrerer Mitbeschuldigter kann, wenn ein Mitbeschuldigter einen Verteidiger hat, die Beiordnung eines Rechtsanwalts für die anderen Mitbeschuldigten in Betracht kommen, insbesondere wenn sich die Beschuldigten gegenseitig belasten.

Ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO liegt u.a. vor, wenn fraglich ist, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt oder wenn es sich um Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen handelt.

Die Mitwirkung eines Verteidigers ist geboten, wenn die Beschuldigte zur mutmaßlichen Tatzeit erst 14 Jahre und drei Monate alt war und zudem an einer sonstigen kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (ICD-10 F92.8), einer Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (ICD-10 F94.2) und einer ernsthaften sozialen Beeinträchtigung leidet und zudem nur eine unterdurchschnittliche Intelligenz hat.

Kessel Buntes III: Keine Beschwerde gegen Ablehnung der Terminsverlegung, oder: Wir wissen es besser

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Und zum Abschluss dann noch der LG Neuruppin, Beschl. v. 27.01.2020 – 11 Qs 7/20, den ich vom Kollegen C. Hoenig aus Berlin erhalten habe. Der Beschluss ist nun – anders als die heute Morgen und heute Mittag vorgestellten Beschlüsse – weniger schön. Nun ja, das Leben ist kein Ponyhof :-).

Im Beschluss geht es um die Frage der Zulässigkeit einer Beschwerde gegen die Ablehnung einer Terminsverlegung. Das LG ist da sehr strikt und meint: Bei/mit uns nicht, und zwar auf keinen Fall:

„Die Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts ist gemäß §§ 46 Abs. 1 OWiG, 305 Abs. 1 StPO unstatthaft. Denn bei der Terminsbestimmung und der Entscheidung über die Verlegung einmal anberaumter Termine handelt es sich um Entscheidungen, die im Sinne von § 305 Satz 1 StPO der Urteilsfällung vorausgehen und die deshalb nicht der Beschwerde unterliegen. Ein gesetzlicher Ausnahmefall der Anfechtbarkeit nach § 305 Satz 2 StPO liegt nicht vor.

Die Kammer folgt auch nicht dem Teil der Rechtsprechung, der eine Beschwerde trotz   305 Satz 1 StPO für zulässig erachtet, wenn eine Terminsverfügung oder eine Entscheidung über einen Terminsverlegungsantrag als rechtswidrig oder ermessensfehlerhaft gerügt wird (vgl. hierzu Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 213 Rn. 8). Denn die Aufzählung der Ausnahmefälle in 305 Satz 2 StPO ist abschließend. Etwa auftretende andere Verfahrensfehler oder Verletzungen von Rechten des Angeklagten/Betroffenen sind einer Überprüfung durch die Rechtsmittelinstanz erst mit dem ergehenden Urteil zugänglich. Diese Möglichkeit der Überprüfung genügt, um den von der Verfassung gebotenen Rechtsschutz zu gewährleisten. Die Entscheidung des Gesetzgebers, im Straf- und Bußgeldverfahren nur ganz bestimmte Entscheidungen einer Überprüfung durch die Rechtsmittelinstanz schon vor dem Urteil zu unterwerfen, ist deshalb zu respektieren.

Das gilt, entgegen einem anderen Teil der Rechtsprechung (so etwa OLG Stuttgart, Beschluss vom 21.06.2005, 5 Ws 81/05), selbst dann, wenn das Beschwerdevorbringen es möglich erscheinen lässt, dass ein schwerwiegender und evidenter Rechtsfehler vorliegt. Denn aufgrund der vom Gesetzgeber mit der Regelung in § 305 Satz 1 StPO vorgenommenen Kompetenzenverteilung ist die Kammer unter keinen Umständen zu einer Entscheidung darüber berufen, ob eine Entscheidung in den hiervon geregelten Fällen überhaupt rechtsfehlerhaft ist. Diese Entscheidung obliegt vielmehr im Bußgeldverfahren ausschließlich dem Rechtsbeschwerdegericht. Die Kammer ist aber nicht berechtigt, einen Teil der Prüfungskompetenz des Rechtsbeschwerdegerichts dadurch an sich zu ziehen, dass sie im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens das Ergehen einer erstinstanzlichen Entscheidung oder ihren Inhalt vorab determiniert.“

Das ist – leider – eine dieser typischen „Besserwisserentscheidungen“ nach dem Motto: was schert uns die h.M. Wir wissen es besser.

Der Kampf um die Mittelgebühr in Bußgeldverfahren und das Rasenmäherprinzip

In (straßenverkehrsrechtlichen) OWi-Verfahren gibt es immer wieder den Kampf um die Mittelgebühr. Dafür ist der Beschl. des LG Neuruppin v. 08.02.2010, 16 Qs 9/10, auf den ich erst jetzt gestoßen bin, ein „schönes“ Beispiel. Das LG sagt:

Wird ein Bußgeldverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung mit Festsetzung einer Geldbuße von 130 Euro und drei Punkten im Verkehrsregister wegen Doppelverfolgung auf Kosten der Staatskasse eingestellt und beschränkt sich die Verteidigung auf die Sichtung einer VHS-Videokassette, die Rüge der Zuständigkeit des Gerichts und die Geltendmachung des Einwands der Doppelverfolgung in zwei einseitigen Schriftsätzen, so handelt es sich gebührenrechtlich um eine weit unterdurchschnittliche Angelegenheit. Die Gebühren können demnach nicht in Höhe der Mittelgebühr festgesetzt werden. Angemessen ist vielmehr eine Festsetzung auf 50 Prozent unter der Mittelgebühr.“

Also: Weit unterdurchschnittlich, ich wage, diese Aussage aus dem landgerichtlichen Beschluss zu bezweifeln. Und auch die Bedeutung der Angelegenheit für den Betroffenen mit den drei drohenden Punkten wird m.E. nicht richtig gesehen.

Und total verfehlt ist der Beschluss hinsichtlich der Gebühr Nr. 5115 VV RVG. Da sollte es inzwischen auch in Neuruppin angekommen sein, dass diese Gebühr eine Festgebühr ist, also immer die Mittelgebühr anfällt. Aber, wenn man schon kürzt, dann kürzt man eben alles. Rasenmäherprinzip.